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Reinhild Gerum, Standortbestimmung Nr. 161, 2015
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Standortbestimmung

Unwirklich zerreißt das lilafarbene Element die mit roten Strichen fein strukturierte Fläche. Die Schatten an seinen Rändern wirken bedrohlich dunkel und unheilvoll. Die rote Intensivierung auf der anderen Seite lässt wiederum an schmerzhaft entzündete Wundränder denken. Die Schattierungen suggerieren einen Absatz, eine Tiefe oder auch ein Dahinter – auf jeden Fall eine andere, durchaus auch geheimnisvolle Ebene, weil sie sich nicht gleich erschließt. Die ungleichen „Bruchkanten“ oder die Ränder des „Risses“, die nicht „zusammenpassen“, tragen das ihre dazu bei.

Beidseits dieses lilafarbenen Elements breiten sich Flächen mit intensiver roter Schraffur aus. In den unteren zwei Dritteln ist die Struktur durch die Zweifarbigkeit ruhiger als oben gestaltet, besitzt aber wegen der Verdichtung im unteren Bereich dennoch aufstrebenden Charakter. Dazu trägt auch der helle Saum ganz unten und der größere Weißanteil am oberen Rand bei. Die Fläche oberhalb des lila Streifens ist durch einen dichten gelblich-roten Bereich intensiver als unten gestaltet. Dadurch wirkt er im Vergleich zu seinem Pendant unten wärmer und stärker.

Was sich uns beim Betrachten eines digitales Abbildes entzieht, ist die Tatsache, dass die roten Striche, welche das ganze Bild wie eine Textur überziehen, im Original nicht additiv, also durch Hinzufügen von Farbe, sondern durch Abkratzen von Farbe entstanden sind. Mit einem Messer hat die Künstlerin die oberflächliche Farbschicht aus Ölpastell weggeschabt, damit die rote Grundierung aus Acryl, welche auch den Rand der Arbeit bildet, wieder zum Vorschein kommt.

Reinhild Gerum hat mit dieser Technik in den letzten 15 Jahren über 170 Blätter gestaltet. Sie hat damit wenige Tage nach dem Attentat auf die Twin Towers in New York angefangen. Sie schreibt dazu: „Der Vorgang dieses Abkratzens ist zerstörerisch, andererseits gelingt es nur auf diese Weise, das Rot, welches Kraft und Energie pur spüren lässt, zum Vorschein zu bringen. Rot als Farbe der Auflehnung gegen die Schreckstarre, die damals rundum wahrzunehmen war. Es ging in dieser Situation der Verwirrung und Verunsicherung um die Bestimmung der persönlichen Lage, die täglich mit der Auswahl der Farben auszuloten war.“ (Reinhild Gerum, Zeichnung und Installation, 2012, S. 54)

Der Bedrohung und Verunsicherung stellt die Künstlerin die Standortbestimmungen gegenüber. Immer und immer wieder. Erinnernd, fragend, ins Heute vergegenwärtigend: Wo stehe ich? Wo befinde ich mich aktuell? Wo will ich hin? Die Serie der Standortbestimmungen bildet die Notwendigkeit ab, immer wieder innezuhalten, sich selbst auszuloten und seine Mitte zu finden. Sie motiviert, sich mit der Gegenwart und ihren vielfältigen Anforderungen auseinanderzusetzen, um sich selbst und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade wenn Erschütterung und Verwirrung, Zerstörung und Angst drohen uns handlungsunfähig zu machen. Die Bilder ermutigen, sich mit Brüchen und Wunden in unserem Leben auseinanderzusetzen und erstarkt aus ihnen herauszugehen.

Patrik Scherrer, 10.09.2016

Reinhild Gerum

Standortbestimmung Nr. 161
Entstehungsjahr: 2015
Ölpastell auf grundiertem Papier, 64 x 50 cm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024
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