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Carola Faller-Barris, Christus, 2005
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Wandlung

Ein Weiser erzählte seinen Schülern von einem alten Mann, der mit einem geflochtenen Weidenkorb zur Quelle ging, um Wasser zu holen, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Die Leute lachten über ihn und sagten: „Du Tor! Merkst Du denn nicht, dass Du so niemals Wasser nach Hause bringen kannst?“ „Das weiß ich. Aber schaut, mein Korb wird rein und die Erde bekommt dadurch Wasser.“

Wir sehen hier einen Kelch, nein, die Form eines modernen Kelches, dicht geflochten aus dickem und dünnerem Dornenreisig, stabil ineinandergefügt – aber welchen Sinn hat ein Gefäß aus Dornen, das doch keine Flüssigkeit halten kann?

Bei weiterem Betrachten könnte man an einen Menschenkopf mit dem Halsansatz denken, einen aus Dornenzweigen geformten Kopf ohne Gesicht, ohne Ausdruck. Doch, je länger man bei dem Bild verweilt, desto ausdrucksstärker wird es. Eine Dornenhecke wehrt ab, grenzt aus und bei Berührung fließt Blut. All das trifft auf die Dornenskulptur nur sehr bedingt zu. Die klar abgegrenzte Form wirkt trotz der spitzen Dornen harmonisch schön, trotz der kleinen oder größeren Zwischenräume bereit, aufzunehmen und zu bergen. Von diesem Gefäß, in den weißen Hintergrund hineingezeichnet, ohne Schattenwurf, geht etwas Besonderes, etwas Sakrales aus.

„Christus“ nennt die Künstlerin ihr Werk. Christus als Kelch symbolisiert, aber als Kelch, der alle gewohnten Vorstellungen sprengt. Nicht nur, weil er wie der Korb des alten Mannes, keine Flüssigkeit halten kann, sondern weil er sich auch wegen des Materials, aus dem er gefertigt ist, dem Gebrauch, dem Anfassen und Festhalten entzieht.

Die Assoziation zum „Kelch der Leiden“ kann weiterführen: Christus, ein Gefäß, dazu bestimmt, alles Leid der Welt aufzunehmen, alle Verletzungen und Ängste, alle Not und Verzweiflung, alles Versagen und Scheitern, alle Schuld und Tränen, alles Blut. Seine durchlässige Form ist von allen Seiten aufnahmebereit, nicht für materiellen Inhalt, sondern für alles, was Menschen geistig bedrängt und bedrückt. In der Bildsprache des Dornenkopfes oder -kelches identifiziert sich Christus in anschaulichster Weise mit all diesem Leid.

Eine zweite Assoziation: In der Liturgie steht der Kelch für Wandlung, für Erlösung. In der Kraft des Heiligen Geistes wandelt Gott Leid und Schuld in überströmende, heilmachende Liebe, die überallhin ihren Weg findet, die durch die kleinsten und unscheinbarsten Ritzen zu allen Menschen dringt, die sich berühren lassen. Liebe kann verwandeln und nichts geht verloren, was aus Liebe geschah. Was wissen wir, ob aus unseren Fehlgriffen nicht letztendlich Gutes entstehen kann, wie durch das „sinnlos“ verschüttete Wasser des alten Mannes Reinigung geschah und aus der verhärteten Erde Leben sprießen konnte? Oder wie aus dem „Ärgernis“ und der „Torheit“ des Kreuzes Wandlung im eigentlichsten Sinn entstand: Der Einbruch der Liebe Gottes in unsere Welt, wo und wann immer wir sie annehmen?

Patrik Scherrer, 28.04.2007

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