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Thomas Kuzio, Pfingsten, 2024
© Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm

Geistesgegenwart

„Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ (Apg 2,1-4)

Stürmisch bewegt durchziehen helle Bänder das farbenprächtige Pfingstfenster im nördlichen Seitenschiff des Ulmer Münsters. Sie bilden ein undurchdringliches Flechtwerk, verschlungene Pfade, ein geheimnisvolles arterielles Leitungssystem, das die ganze Schöpfung mit Leben versorgt und sie gleichzeitig wie ein festes Band zusammenhält. Chaotisch, kreativ und doch geordnet.

In diesem wirren Linienspiel sind übereinander drei Kreiselemente angeordnet – eine Referenz auf das Medaillonfenster im Südchor mit der Darstellung der Freuden Mariens aus dem Jahre 1420. Das Pfingst- und das Friedensfenster sowie die fünf im nördlichen Kirchenschiff von Thomas Kuzio geschaffenen Glasfenster führen die Tradition des Kreismotivs fort. Sinnbildlich bringen sie drei von Leben pulsierende Individuen zum Leuchten, die jeweils durch die Farbe in ihrer Mitte charakterisiert sind und dennoch von den Farben der anderen Flechtmedaillons durchwirkt werden.

In der Mitte des hoch aufragenden Glasfensters leuchtet mit dem gelben Kern die stärkste und auffälligste Präsenz. Sie ist umgeben von je einem blauen, gelben und dann roten Kranz. Die Mitte des unteren Medaillons ist ganz in blau gehalten und von einem roten und gelben Kranz gefasst. Das oberste Medaillon besitzt einen roten Zentralbereich, der gelb und blau umkreist wird. Dadurch besteht trotz aller Unterschiede eine farbliche Verbundenheit, welche die drei zu einer Einheit verbindet.

In dem ganz dem Wirken des Heiligen Geistes gewidmeten Fenster wird dieser nicht singulär, sondern in der untrennbaren Einheit mit Gott dem Vater und dem Sohn dargestellt. Der Vater bildet die lichte Mitte. Jesus und der Heilige Geist führen zu ihm. Die unteren Kreise symbolisieren Jesus, der Mensch geworden ist und uns den Vater kundgetan hat. Seine blaue Mitte ist vom Rot des Geistes und dem Gelb des Vaters umgeben und gehalten. Das oberste Medaillon kann mit dem leuchtend roten Zentrum dem Heiligen Geist zugeordnet werden, der mit seinem Feuer von Gottes Liebe kündet und diese zu den Menschen trägt.

Wie als Schlüssel zum Verständnis der drei Flechtrosen als Sinnbilder für die Dreifaltigkeit, finden sich drei Blumen in den Primärfarben in einem gleichschenkligen Dreieck in der Mitte des Spitzbogens. Dieses Dreieck thront auf der Spitze einer weiteren, kostbar gestalteten Dreiecksform. Die drei Grundfarben sind im Maßwerk so angeordnet, dass sie das zentrale Dreieck in sich bergen und es gleichzeitig mit den farblichen Wiederholungen in einem Dreipunktrhythmus nach außen tragen, so dass die pfeilförmige Bewegung des Fensters nach oben verstärkt wird.

So wie oben die himmlische Herrlichkeit ihren Ausdruck findet, bilden die Farben und Formen an der Fensterbasis den Gegenpol, indem sie auf das Heilsgeschehen auf der Erde hinweisen. Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser der Urflut (Gen 1,2). In den sandfarbenen Elementen kann das trockene Land, die Erde gesehen werden, auf der und in der so vielfältiges Leben entstand. Sie symbolisieren den Lehmboden, aus dem Gott den Menschen geschaffen hat (Gen 2,7). Die seitlichen, geraden Ränder in kontrastierendem Graublau erinnern an die von uns Menschen geschaffenen Bauwerke wie Kirchen oder Kathedralen als Versammlungsräume für die Gläubigen. In diesen Schutzraum, in dem man die verängstigten Jünger Jesu sehen mag, ergießt sich die himmlische Geisteskraft, so dass diese mutig ihre irdische Behausung verließen und Gottes Heilswirken durch Jesus Christus verkündeten. Durch Jesus Christus steht die ganze Schöpfung in neuem, farbenfrohem Licht der Gemeinschaft mit Gott. Durch den Glauben und die Taufe wird der Mensch in diese göttliche Gemeinschaft auf- und hineingenommen.

Im Geflecht der vielen Bänder ist keine herabkommende oder aufsteigende Bewegung im Fenster zu beobachten. Gottes Geist ist bleibend geschenkt. Seine Geistesgegenwart garantiert einen lebendigen Austausch und dauerhafte Verbundenheit mit Gott Vater und Jesus Christus. Gottes Geistesgegenwart ermöglicht im menschlichen und geschöpflichen Miteinander zudem ein geistesgegenwärtiges Handeln, das auf den Nächsten Rücksicht nimmt und die Gemeinschaft stärkt.

Wie Smaragde hat der Künstler zehn kleine grüne Gläser über das Fenster verteilt, die im Spitzbogen in dem grünen Dreiblatt eine himmlische Entsprechung finden. Sie können für Wachstum im Glauben, in der Hoffnung und Liebe (vgl. 1.Kor 13,1-13) stehen, als Aufblitzen eines paradiesischen Glücks, als zeitliche Vorboten der ewigen Gemeinschaft mit Gott, in die Gottes Geistesgegenwart alle Menschen einlädt.

Patrik Scherrer, 07.06.2025

Thomas Kuzio

Pfingsten
Entstehungsjahr: 2024
Ulmer Münster, 2,5 x 14,5 m, Foto: Patrik Scherrer
© Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ulm

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