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David Bailey, Damian Hirst, Jesus meets his mother, 2004

Ignoranz

Ein Bildausschnitt: Eine dunkelhäutige Frau lehnt sich an die nackte Brust eines um einen Kopf größeren weißen Mannes. Sie ist im Profil dargestellt und schaut auf sein dem Betrachter frontal zugewandtes Gesicht, in dem durch das fahle Licht und die verdunkelnden Schatten kein Ausdruck zu finden ist. Das Gesicht der Frau erscheint gepflegt, Lippen und Augen stark geschminkt. Sie schaut mit ruhigem Verlangen auf seinen Mund, doch er zeigt keine Reaktion auf ihr Werben. Dabei hat sie sogar ihre Hand mit einer brennenden Zigarette auf seine Brust gelegt. Die langen Fingernägel sind dunkelrot lackiert, der lange Aschenstummel weist darauf hin, dass bereits einige Zeit verstrichen ist, seit sie diese Haltung eingenommen hat.

Die Fotographie ließe uns an einen Einblick in die Welt der Prostitution denken, wäre da nicht der breite Rahmen mit einer Goldinschrift. Sein Marmoreffekt erinnert an Monumente mit Gedenkcharakter, die dezente Inschrift „IV. JESUS MEETS HIS MOTHER“ (Jesus begegnet seiner Mutter) konfrontiert uns unvermittelt mit einer Kreuzwegstation.

Plötzlich werden da große religiöse Gefühle angesprochen und unzählige Fragen ausgelöst: Eine Kreuzwegstation soll das sein? Wo ist das Kreuz? Die Dornenkrone? Das Leid bei dem Mann, der Jesus sein soll? Was soll die Zigarette? Wie kann diese eher jüngere als ältere Afroamerikanerin die Mutter von Jesus sein? – Verstörung macht sich breit bei der Betrachtung dieses angeblichen Kreuzwegbildes, Empörung. So eine Darstellung ist skandalös, pietätlos! Wieso wird so etwas alle moralischen und sittlichen Schranken Durchbrechendes und Gefühle Verletzendes gemacht?

Was hier großformatig und theatralisch inszeniert wurde, und die weiteren Bilder bestätigen dies, hat nichts mit dem Leidensweg von Jesus vor etwa zweitausend Jahren in Jerusalem zu tun. Allein schon von der Größe her sind die Bilder weniger für die Kirche als vielmehr für die Welt geschaffen. Ein profaner Kreuzweg, bei dem Jesu Kreuzweg den Künstlern als entfernte Vorlage und bekannte Rahmengeschichte dient, um die ganz menschliche Leidensgeschichte von geschlechtlichem Verlangen, von Ignoranz und Enttäuschung zu erzählen. Um zu zeigen, wie sehr dies zu allen Menschen gehört, wird die Person von Jesus schockierender Weise in jedem Bild von jemand anderem, auch von Frauen, dargestellt.

In Anlehnung an die Begegnungen auf dem Kreuzweg sind Personen ins Bild gebracht, die ein aus vielen negativen Erfahrungen heraus entstandene seelische Leid verkörpern. In unserem Bild bringt der Mann Gefühlsarmut und Herzlosigkeit zum Ausdruck. Er kann sich nicht mehr anderen zuwenden! Was für ein Kontrast zu Jesus, der alle Menschen geliebt und sich ihnen zugewendet hat, gerade den von der Gesellschaft durch ihre Fehler und ihr Anderssein Ausgegrenzten! Die gezeigte Frau könnte diesbezüglich sowohl für die Prostituierten wie auch für die „Andersfarbigen“ stehen.

Der geradezu abweisende „Jesus“ befremdet. Wurde er vielleicht so dargestellt, um zu sagen, dass ihn unsere Armut und all unsere Fehler, die er auf sich geladen hat, gezeichnet, gefoltert und gewissermaßen bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben? Wird durch ihn deutlich, wie sehr wir Menschen der Erlösung, wie sie durch Jesus vielfach geschenkt wurde, bedürfen, damit unsere wahre Menschengestalt wieder zum Vorschein kommen kann?

Die Bilder geben keine Antwort. Sie lassen den Betrachter mit vielen Fragen verwirrt stehen. Denn die Fotografien führen nicht zu Jesus, sondern pervertieren ihn so grundsätzlich in seinem Wesen, wie es uns überliefert ist, dass ihm Gewalt angetan wird. Jesus war nicht der in sich Verschlossene, Kommunikationsunfähige, sich unerreichbar Gebende, der nur mit seiner Männlichkeit reagiert.

In der Autonomie der Kunst ist diese Verfremdung, die alle bisher bekannten Kreuzwegdarstellungen pervers kreuzt, vielleicht legitim. Die meisten Gläubigen werden sich jedoch von solchen ästhetisierenden, oberflächlichen Darstellungen abwenden, weil ihnen einerseits religiöser Respekt und inhaltliche Tiefe fehlen, andererseits die durch die dunklen Hintergründe zeit- und ortlosen Fotografien von einem Körperkult geprägt sind, der jeden spirituell ausgerichteten Menschen in seinem geistigen Verlangen verhungern lässt.

Wir könnten die Bilder dieses Kreuzwegs aus Protest ignorieren. Aber sie stellen nun einmal eine, wenn auch sehr begrenzte Reflektion der Leiden unserer Zeit dar. Deshalb sollten wir ihre Existenz durchaus wahrnehmen und die Herausforderung zur Auseinandersetzung und Stellungnahme annehmen. Gerade weil die Bilder aufwühlen und Althergebrachtes verletzend in Frage stellen.

Damit macht dieser Kreuzweg schmerzhaft bewusst, dass unser Glaube auf der einen Seite immer wieder solche „unverschämten Angriffe“ von außen braucht, um beweglich zu bleiben und sich weiterzuentwickeln, auf der anderen Seite sich nicht auf äußere Erscheinungen stützen kann und darf, sondern fern aller visuellen Ausdrucksweisen und Stützen in einer geistigen Grundhaltung und Verbundenheit wurzeln muss.

Patrik Scherrer, 24.03.2007

David Bailey und Damian Hirst

Jesus meets his mother
Entstehungsjahr: 2004
DAMIEN HIRST / DAVID BAILEY
Aus der 14-teiligen Serie "The Stations of the Cross",
C-Print
182 x 122 cm
Foto: David Bailey, London,
Sammlung Essl, Inv. Nr.4844/04
© Damien Hirst & and Science Ltd., All rights reserved / VG Bild-Kunst, Bonn 2017

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