Trost in jedem Leiden
Gastbeitrag von Wilma Wagenaar
Beim Wort „Ikone“ kam mir bei meinen protestantischen Wurzeln erst vor etwa zehn Jahren ein uraltes Bild in den Sinn, auf dem ein Ereignis oder eine Person aus einer fernen Vergangenheit dargestellt wird. Es rief Assoziationen an dunkle, kerzenbeleuchtete Gewölbe, Kirchen, die nach altem Holz riechen, und antike Innenräume hervor. Alles sehr beachtlich, aber aus einer anderen Zeit und Tradition von mir.
In der Zwischenzeit habe ich die Funktion einer Ikone, wie sie von vielen erfahren wird, besser verstanden. Eine Ikone kann Menschen helfen, sich der Gegenwart des Heiligen und des einen Heiligen bewusst zu werden, nicht nur in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, sondern auch in dieser Zeit und an diesem Ort, im Hier und Jetzt. Als ein Spiegelbild des Namens Gottes: Ich bin, der ich bin, und ich bin bei dir.
In dieser Meditation möchte ich mit Ihnen teilen, wie ich diese zeitgenössische Ikone erlebt habe. Diese Ikone ist den heiligen Märtyrern Libyens gewidmet, die von der koptisch-orthodoxen Kirche zu Heiligen erklärt wurden. 21 koptischen Christen, die im Februar 2015 am Strand von Libyen von ISIS enthauptet wurden (siehe times), waren vor ihrem Tod vierzig Tage lang gefangen gehalten worden. Sie haben ihren Glauben bewahrt, ohne Christus zu leugnen. Was wir auf der Ikone sehen, ist der Höhepunkt dieser vierzig Tage, das Ende ihres Leidens. Wenige würden jemals das Bild der Männerreihen vergessen, die in orangefarbenen Overalls am Wasser knieten, hinter jedem von ihnen ein schwarz maskierter IS-Scharfrichter.
Die Komposition der Ikone erinnert an einen Tisch mit Jesus an der Spitze und den Märtyrern um ihn herum. Die IS-Henker stehen mit ihren Messern im Anschlag wie Lakaien oder Kellner hinter den Märtyrern. Worte aus Psalm 23 kommen mir in den Sinn: „Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde“ (V. 5).
Jesus hält den Kopf des Mannes auf seiner rechten Seite in einer Geste der Behaglichkeit. Seine linke Hand segnet den Kopf eines Mannes auf der anderen Seite. Ich höre das Echo seiner Worte aus dem Evangelium: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid“ (Mt 25,34).
Die meisten Märtyrer blicken auf Jesus. Genauso wie Stephanus Momente vor seinem Tod, sehen IHN diese Männer an der Schwelle ihres Todes bereits in seiner Herrlichkeit gegenwärtig. „Stephanus aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen.“ (Apg 7,55)
Die Henker haben kein Gesicht; sie sind entmenschlicht. Ihre Hingabe an den IS hat sie ihrer Persönlichkeit beraubt, der einzigartigen Schönheit, die jeder von ihnen zum Zeitpunkt seiner Geburt vom himmlischen Vater empfing. Mitleid für diese geistig verstümmelten Kreaturen rieselt in mein Bewusstsein. Ganz gegen meine menschlichen Abscheulichkeiten höre ich das Mitgefühl Jesu: „Bete für die, die dich verfolgen“ ; „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34)
Blut strömt von den Knien der Märtyrer zu den Wellen, die die Darstellung umgeben. Der IS rühmte sich, dass das Blut dieser Märtyrer in Rom an Land gespült würde, in Europa. Blut auf den Wellen. Vielleicht ist es das Blut Christi, das sie hier umgibt?
Diese Ikone ermutigt und tröstet mich. Sie bestätigt die Gegenwart Christi im Leiden und Tod seiner Brüder und Schwestern. So wie er bald nach seiner Himmelfahrt mit offenen Armen auf Stephanus wartete, so wie er bei den lebenden Fackeln im Garten des Kaisers Nero und im 17. Jahrhundert bei den Pfählen der spanischen Inquisition und den Märtyrern Kyotos da war, so wartete er im Februar 2015 auf diese Männer am Strand in Libyen. In gleicher Weise ist er heute bei den Gräueltaten in den Gefangenenlagern in Nordkorea anwesend. Wir glauben, dass er in jedem möglichen gegenwärtigen und zukünftigen Leiden seiner Geliebten anwesend sein wird.
Erstveröffentlicht am 8.7.2018 auf artway.eu
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