Trotz allem beschwingt
Vielfarbige Pinselsetzungen, alle in etwa gleich groß, verteilen sich über dem hellen Hintergrund. Es besteht kein ersichtlicher Zusammenhang zwischen ihnen. Sie treten als singuläre Ereignisse auf, die in ihrer Interaktion „freischwingende Farbklangräume“ schaffen, in denen die farbigen Elemente aufsteigend und herabschwebend miteinander zu spielen oder zu tanzen scheinen.
Die Grundstimmung ist heiter und lebendig, auch wenn die dunklen Elemente und die herabfließende Farbe Schmerz und Leid, Trauer und Tränen vermitteln. Doch die sonnigen Farben hellen die Stimmung auf, übertönen die negativen Aspekte und reißen ermutigend nach oben.
Trotz aller Zufälligkeit unter den Pinselsetzungen ergeben sich farbige Bündelungen, die wie auf einer weiteren Ebene die gleiche Geschichte auf eine andere Weise erzählen. So konzentrieren sich in der rechten Bildhälfte dunkelblaue Farbflächen wie zufällig zu einer menschlichen Gestalt, in ihrer Mitte mit zwei roten Elementen verbunden. Daneben löst sich die violette Farbgruppe auf und wird von einer quirlig-lichten, orange-gelben Einheit feuerartig nach oben getragen. Als dritte Gruppierung lässt sich am oberen Bildrand eine waagrechte Reihung mit einer roten Dominanz beobachten.
Aus dieser ruhenden Position scheinen sich die roten Elemente zu lösen und aktiv in das untere Geschehen hineinzuwandern. Von ihrer Farbe her können sie als Lebensträger gedeutet werden, als Blutspenden oder auch als heilsame Geistesgaben wie dem Glauben an eine höhere, beschützende Macht, wie die Hoffnung, Abgründe zu überwindenden oder die Liebe, die zu heilen vermag. „Ich will Anmalen gegen das Dunkle, die Zerrissenheit, die Sprachlosigkeit, die vernichtende Kälte. Malen birgt in sich die Kraft der Erneuerung. Meine Fließlinien sind Formen, um neue Begegnungen zu ergründen,“ schreibt die Künstlerin Ursula Jüngst.
So wie das „Malen in sich die Kraft der Erneuerung birgt“, so wirkt in den roten Elementen eine vergebende, heilende, erneuernde Energie, die nach schweren und dunklen Zeiten Auferstehung und neues Leben ermöglicht. Die nach unten fließende Farbe ist nicht nur ein zugelassenes Gestaltungselement oder Symbol für schmerzhaften Substanzverlust, sondern existenzielle Begegnung und aufbauende Verbindung. Trotz allem – malgré tout!
So klingt es auch in den Seligpreisungen der Bergpredigt: Trotz allem Leid und gerade deswegen steht Gott den Benachteiligten bei und verheißt ihnen unvergleichbar Großes. Jesus spricht nicht vom Aufgeben, sondern vom Durchhalten und Gewinnen:
Selig, die arm sind vor Gott; / denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; / denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen; / denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; / denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Barmherzigen; / denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die rein sind im Herzen; / denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; / denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; / denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen.
Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt.
(Mt 5,3-12)
Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt bis zum 4. August 2023 über 30 Arbeiten von Ursula Jüngst in der Ausstellung „Malen gegen die Dunkelheit”.
Kommentare