Durch konzentrisch angeordnete Kreuzreihen wird der Blick auf die liegende, erschlaffte Menschengestalt in der Bildmitte gelenkt. Sie ist heller als das ebenfalls schwarz-weiße Umfeld und anders strukturiert. Ihre Körperhaltung ist unnatürlich, weil sie im Schoß einer erst nach und nach erkennbaren Person liegt: Maria.
Der Leichnam Jesu liegt in ihren Schoß eingesenkt. Hier ist er Mensch geworden, hier trauert Maria um ihren Sohn und das Leben, das ihm genommen worden war. Jesu Kopf und Extremitäten hängen schwer nach unten. Und doch hält Maria ihn mühelos und wird nicht von ihm erdrückt. Sie hebt sich nur durch die feinere Struktur ihres Gewandes und die schwache Silhouette ihrer Gestalt vom Hintergrund ab. So tritt sie gegenüber Jesus zurück und verschwindet nahezu in den konzentrischen Kreisen aus Kreuzen, die von innen nach außen größer werden.
Es sind diese großen und kleinen Kreuze, die neben dem Leichnam Jesu und seiner Mutter Maria das Bild prägen. Nur auf dem Körper von Jesus sind die Kreuze schwarz auf hellem Hintergrund gestaltet. Alle anderen Flächen sind von weißen Kreuzen bedeckt. Wie ein Netz überspannen die digitalisierten Kreuzzeichen Michelangelos Pietà. Nur noch an den Körperhaltungen zu erkennen, ist sie durch die Kreuze verfremdet und in einen weiteren Kontext gestellt worden, um über das Einzelleid von Jesus und Maria hinauszuweisen. Sie erinnern an Soldatenfriedhöfe mit den endlosen Reihen mit weißen Kreuzen. Sie verdeutlichen das millionenfache Leid der Gefallenen und der Trauernden im 1. Weltkrieg, dessen Anfang sich am 28. Juli 2014 zum 100. Male jährte, sie sollen an die Millionen Gefallenen im 2. Weltkrieg erinnern, der mit dem Einmarsch der Nazis in Polen am 1. September vor 75 Jahren seinen katastrophalen Anfang nahm, an den Terroranschlag am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York, an das aktuelle Zeitgeschehen im Nahen Osten, in dem nicht enden wollende kriegerische Auseinandersetzungen millionenfaches Leid über die Bevölkerung bringen.
Die konzentrisch angeordneten Kreuze bilden keinen Heiligenschein, keine Verherrlichung leuchtet durch sie auf. Vielmehr ziehen sie in die Tiefe, so wie Leid und Tod Betroffenen wie Angehörigen den Boden unter den Füßen entzieht. Doch Maria mit Jesus auf dem Schoß befindet sich wie ein Pfropfen vor diesem Sog. Wie um weiteres Leid zu verhindern. Als Anhaltspunkt, Anker, Trost.
Die Muttergottes hält stellvertretend für alle Mütter ihren Sohn in den Armen. Oder anders gesagt, mit ihm hält sie auch alle anderen gefallenen Söhne und Töchter. Und sie trauert mit allen Müttern (und Vätern) um ihre getöteten Kinder. Auch wenn sie im Bild noch verhüllter erscheint als in der aus Marmor geschlagenen Pietà im Petersdom, ist sie die Mater dolorosa, die Schmerzensmutter, die mit allen leidet, die durch Krieg, Hunger, Krankheit oder welche Ungerechtigkeit auch immer ums Leben kamen.
Der Künstler Thomas Bayrle schreit dieses Leid förmlich in die Welt. Denn während die vatikanische Pietà 174 cm hoch und 195 cm breit ist, hat er seine Pietà aus Kreuzen doppelt so groß werden lassen. Alle Menschen sollen endlich sehen, was so unbegreiflich schwer zu fassen ist. Jeder soll in der erschlagenden Fülle an Kriegsbildern endlich aufmerken … und sein Denken und Handeln überdenken … überlegen, was er dazu beitragen kann, damit das Leid ein Ende findet.