1 freier Mensch
Das Bild ist ein Abbild von einer dreidimensionalen Arbeit. Dies wird insbesondere durch die mittige Unterschrift auf der rechten Seite und die breiten seitlichen Ränder (in der Wiedergabe im Internet schlecht sichtbar) deutlich. Als Betrachter blicken wir also durch das im Offsetdruck multiplizierte Abbild auf das Original, das aus einem Blatt Papier, einem Tannenzweig, etwas Farbe und einem gelben Holzrahmen besteht.
Als Papier wurde die Rückseite eines Kalenderblattes verwendet. Unten sind gut die Perforierung und die halbrunde Ausbuchtung für die Aufhängung zu sehen. Damit erhält die Arbeit einen ersten Bezug zur Zeit, auch wenn die konkrete Zeitangabe verborgen bleibt. Damit beweist der Künstler zum ersten Mal seine Freiheit im Umgang mit den verwendeten Materialien. Er verwendet ein abgelaufenes Kalenderblatt, das er mit einer zweifachen Drehung einer neuen Aufgabe zuführt und wie durch eine Zeitenwende hindurch einem unbestimmten, offenen Zeitrahmen zuführt.
Ein Tannenzweig dominiert die Mitte des Blattes. Der feingliedrige Zweig erscheint als Strichmännchen mit gespreizten Beinen, einer gekrümmten Wirbelsäule und erhobenen Armen. Der Kopf ist am wenigsten ausgebildet. Eine Kopfform ergibt sich aber durch die Verdichtung von vier Verästelungen über der zentralen Vertikalen. So kann ein froher und tanzender Mensch darin gesehen werden, ein Mensch, der sich frei bewegt. Im Zusammenhang mit dem grünen Tannenzweig können aber auch weihnachtliche Gedanken aufsteigen, so dass im Tannenzweig mehr ein liegendes Kleinkind wahrgenommen wird. Mit dem Tannenzweig schafft der Künstler einen zweiten Bezug zur Zeit. In ihm wird das Wachsen und Erstarken genauso wie die Vergänglichkeit sichtbar. Zum einen im noch kräftigen Grün, zum anderen in den heruntergefallenen Nadeln, sie sich im Rahmen hinter dem Glas ansammeln. Auch hier schuf er aus dem Tannenzweig etwas völlig anderes.
Über dem Zweig malte der Künstler in dunklem Rot zudem „1 freier“ und darunter „mensch“, zusammen also „1 freier mensch“. Dies kann als Deutung des Tannenzweiges gelesen werden, aber auch im Bezug zum Künstler, der den Materialien in kreativer Freiheit eine neue Sinngebung gab. Seine künstlerische Unabhängigkeit bringt er auch in der Schrift zum Ausdruck. So schreibt er die Eins als Ziffer, schreibt „Mensch“ klein, unterstreicht aber dieses Wort. Durch die Platzierung von „freier“ oben im Bild erhält dieses Wort zudem etwas Geistiges, Ungebundenes, während das unterstrichene Wort „mensch“ unten im Bild geerdeter wirkt. Die Zahl „1“ steht wiederum mit dem singulären Tannenzweig in Beziehung und erhöht im Gegensatz zur Beliebigkeit des Wortes „ein“ die Einzigartigkeit dieses „freien Menschen“.
Allerdings, wer könnte mit einem freien Menschen gemeint sein? Ist es wie bereits angesprochen der Künstler, der losgelöst von allen Konventionen frei gestaltet? Oder bezieht sich die Bezeichnung mehr auf Jesus? Er kann wegen dem Tannenzweig im Zusammenhang mit seiner Geburt gesehen werden, als Gottes Sohn, der den Menschen den Frieden brachte (vgl. Lk 2,14), im Bezug zur Schrift ebenso als einziger wirklich freier Mensch, der unbelastet von jeglicher Schuld handelte (vgl. Hebr 4,15). Diesbezüglich könnte auch der feine Rahmen mit seinem leuchtenden Gelb als unauffälliger Licht- oder Heiligenschein gedeutet werden.
Die Arbeit von Felix Dröse lässt noch einen weiteren Zugang zu. Die plakative Aufmachung kann auch als Spiegelbild und Vision von uns gesehen werden. „ Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus an die Gläubigen in Galatien (Gal 5,1). Als auf Christus Getaufte sollen wir als freie Menschen handeln und neue Wege gehen. Martin Luther (zu dessen 500. Jahrestages des Thesenanschlages die Wanderausstellung „Zeitgenössische Kunst zur Bibel“ lanciert wurde und dieses Blatt zur Ausstellung eingereicht wurde) war einer von vielen Persönlichkeiten, die im Hören auf den Heiligen Geist und die innere Stimme es wagten, kontrovers zu denken und zu handeln, und dadurch zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft beizutragen. Heute stehen wir in ihrer Nachfolge.
Das Buch zur Ausstellung: “Zeitgenössische Kunst zur Bibel”, Johannes Beer (Hrsg.), Kerber Verlag Bielefeld 2012, ISBN 978-3-86678-720-9, 22,50 × 22,50 cm, Seiten: 204 Seiten, 122 farbige und 6 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden, Euro 29,95
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