Auserwählt
Eine dunkle und eine helle Fläche prägen das diagonal unterteilte Bild. In der Bildmitte ist an der Schnittstelle zur hellen Bildfläche der Kopf einer jungen Frau zu sehen. Ihre Augen sind weit, ihr Mund ist leicht geöffnet.
An ihrer Seite, leicht erhöht und ganz in blaues Licht getaucht, ist der Kopf einer weiteren Frau zu sehen. Sie berühren sich auf Stirnhöhe, sind einander zugewandt, scheinen miteinander zu sprechen und in einem Gedankenaustausch zu stehen. Das blaue Licht hat sich pfeilförmig auf der Stirn der aus dem Dunkel auftauchenden Frau ausgebreitet. Gleichzeitig weist in der Diagonale ein schmaler Lichtstrahl auf die Stirn dieser Frau und scheint sie zu berühren.
Käthe Haase Kornstein hat die Verkündigung an Maria mit den heutigen Gestaltungs- und Ausdrucksmitteln dargestellt. Die Bildmontage zeigt die mystisch „berührende“ Begegnung zweier Frauen und konzentriert sich auf die beiden Köpfe. Feinfühlig und doch bestimmt übermittelt der im Licht stehende Himmelsbote seine ungewöhnliche Botschaft an Maria. Dennoch erschrickt Maria und fragt sich, was der Gruß wohl zu bedeuten habe und wie sie als Jungfrau einen Sohn empfangen und gebären könne (Lk 1,29.34). Diese Fragen stehen der durch Gott aus dem „Dunkel der Geschichte“ hervorgerufenen Frau ins Gesicht geschrieben. Worauf der Engel zu ihr sagte: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (1,35)
Die Kraft des Höchsten, der Heilige Geist, der Maria überschatten wird, darf weniger in der halbseitig das Bild füllenden Dunkelheit als vielmehr im vom oberen Bildrand auf die Stirn Mariens zeigenden Lichtstrahl gesehen werden. Hier ist eine formale Ähnlichkeit mit der aus dem Himmel herabkommenden Hand Gottes in der christlichen Malerei festzustellen, die zum Ausdruck bringt, dass sich Gott einer Person zuwendet und zu ihr spricht. Die Kraft des Höchsten kommt noch in einem zweiten Element zur Geltung: Vom Engel ausgehend fließt etwas von dem luziden Himmelsblau auf das Gesicht Mariens über und „überlichtet“ bzw. bedeckt es wie um zu zeigen, dass ihre Gedanken nun vom göttlichen Auftrag erleuchtet und erfüllt sind.
Das Bild bringt die Ernsthaftigkeit des Gesprächs zwischen dem Engel und Maria zum Ausdruck. Es vermittelt auch die notwendige Auseinandersetzung in Maria, bis es in ihr „gedämmert“ hat, dass sie eben auserwählt und berufen worden ist, der Welt den Sohn Gottes zu gebären. Und es lässt in der Nacht-Tag-Symbolik auch die Zeit spürbar werden, die Maria wahrscheinlich gebraucht hat um sagen zu können: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (1,38)
Mit der vielschichtigen Bildkomposition und der Darstellung einer Frau unserer Zeit wird die „Frage an Maria“ auch zur Frage an uns: Wie würde ich auf die Botschaft des Engels antworten? Wie würde es mir mit dieser „Empfängnis“ durch den Heiligen Geist ergehen? Wie würde ich mit einem Kind umgehen, das meines ist und doch mehr als alle anderen der ganzen Welt gehört?
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