Die große Frage
Eine Frau stützt den Kopf in ihre Hände. Ein vertrautes Bild. Wer hat das nicht schon gemacht, wenn der Kopf beim Überlegen zu schwer geworden ist? Blasses Licht und unscharfe Konturen beherrschen das Motiv und scheinen Ausdruck der Gedanken zu sein, welche diese Frau bewegen.
Doch im Verhältnis zum Gesicht sind die Hände überdimensional, riesig. Auch die Anordnung der Finger macht keinen stimmigen Eindruck. Sie sind alle gleich lang. Der Künstlerin scheint es nicht auf eine realistische Wiedergabe anzukommen. Die „Hände“ sollen offenbar ein Gefäß sein, in dem das Gesicht wie in einem Kelch ruht. Ihre Größe lässt an jemand Größeren denken, so wie es etwa im Psalm 139,5-6 heißt: „Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich. Zu hoch ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.“
Ein geheimnisvolles Geschehen scheint diese Frau in tiefe Nachdenklichkeit gestürzt zu haben. Ein Schatten hat sich über ihr Gesicht und den oberen Teil der Hände gelegt und erinnert an die „Kraft des Höchsten“, die Maria bei der Verkündigung überschatten wird (Lk 2,35). Ihre Stirn und ein Teil ihrer Augen werden allerdings von einem weißen Licht in Form eines Dreiecks erhellt. Erleuchtung von oben und von außen wird suggeriert, von einem, der selbst Licht ist und dieses Licht in das menschliche Dunkel bringen will durch diese Frau.
Doch das Gesicht bleibt fragend, die Augen gehen suchend in die Ferne. Schriftzeichen äußern gleichsam eine listenartige Folge von Gedanken, die Maria beim Anspruch Gottes durch den Kopf gegangen sein müssen. „Wie soll das geschehen?“ Mit durchdringendem Blick lotet sie im Dialog mit der dreieckigen Lichtquelle die Bedeutung der Worte des Engels aus.
Auch wenn die Fingerformen zwischendurch den Eindruck erwecken, dass sich diese Frau Kissen an den Kopf drückt, um diesen Anruf nicht hören zu müssen, ist sie doch eine Hörende. Alle Hindernisse durchdringend drückt sich eine transparente Farbform geradezu gewalttätig wie eine Schallkappe an ihren Kopf. Die einzige Farbe im Bild kann nicht bedeutungslos sein: die Farbe der Liebe und des Blutes und damit des Lebens. Könnte dieses schwere Rot, das auch in einer Dreiecksform erscheint, zeichenhaft für die Schwere der Entscheidung stehen, für den Verzicht auf ein eigenes Leben, auf eigene Pläne?
Blasses Licht erfüllt das Bild. Weder Freude noch Aufbruch sind zu spüren. Eher Fassungslosigkeit, was Gott mit ihr vorhat und wie das alles geschehen soll. Aus dem Bild geht nicht hervor, was sie Gott zur Antwort geben wird. Es signalisiert lediglich eine Bereitschaft und eine Offenheit wie sie Gefäßen eigen ist. Diese Frau zeigt sich bereit, das göttliche Licht in sich aufzunehmen, es in sich zu tragen und der Welt zu schenken.
Durch den Titel hat die Künstlerin das Thema ihres Bildes vorgegeben. Aber – sie hat eine moderne junge Frau fotografiert und in die biblische Szene gesetzt und damit hat sie die Frage an Maria an uns weitergereicht. Was werde ich Gott zur Antwort geben, wenn er mich in seinen Dienst ruft? – „Ja, es geschehe wie du gesagt hast“? oder „ich weiß nicht recht, ich kann mich nicht entscheiden“ oder „das kann ich mir nicht vorstellen – warum gerade ich – nein danke – ich habe andere Pläne“? Das Bild stellt uns und unsere Verfügbarkeit in Frage. Aber immer und immer wieder werden unerwartete Aufgaben, Anforderungen in unser Leben eintreten und unsere Pläne durchkreuzen. Unsere Offenheit für Anrufe und unsere Bereitschaft Ja zu sagen zu dem, was wir als Aufgabe für uns erkennen, werden uns bereichern und können heilbringend sein – wie bei Maria.
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