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Renate Reifert, Bis zum Grund, 2002
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Bis zum Grund

Ein Lichtstrahl durchdringt die Farbflächen. Zunächst hellblau klar, wechselt er mit dem Eindringen in den unteren dunkleren Farbraum seine Farbe in ein helles Gelb. Wie eine Pfeilspitze taucht er bis zur Unterkante des Bildes ein; scheint den blauen Hintergrund in eine linke und eine rechte Seite zu teilen. Und doch bleiben die beiden Farbflächen durch die Fortführung der nach rechts ansteigenden Trennlinie im Lichtstrahl verbunden.

Dieser Lichtstrahl schneidet nicht wie ein Messer durch, sondern dringt in die Materie ein, aus dem klareren Blau des Himmels in das grünliche Blau des Wassers und des Wachstums der Erde. Um den Lichtstrahl herum breitet sich kelchartig ein durch ihn erhellter Schein aus, der lediglich am Bildrand einen tiefblauen Rand hinterlässt. Eine zusätzliche Farbveränderung lässt sich links vom Lichtstrahl feststellen. Eine rote Lichtbrechung begleitet hier das Licht und erscheint im unteren Bereich am intensivsten.

Trotz des einschneidenden Ereignisses geht von dem Bild eine große Ruhe aus. Ein Grund mag im harmonischen Miteinander der scheinbaren Gegensätze liegen, bei denen sich Waagrechte und Senkrechte kreuzen, dunkle und helle Flächen durchdringen oder strenge geometrische Elemente mit weichen Farbübergängen die Waage halten. Auch das Trennende zwischen Oben und Unten ist durch den Lichtstrahl überwunden. Ein zweiter Grund mag der Umstand sein, dass der Lichtstrahl auch bleibenden Halt gibt, einen festen Anhaltspunkt bildet, wie ein Leuchtstab, ein immaterieller Anker, der tief in der diagonal aufsteigenden Fläche steckt.

Was mag das Bild für uns bedeuten? Dieser Lichtstrahl, der offensichtliche Grenzen durchdringt ohne zu verletzen und bis auf den Grund des eigenen Wesens vordringt und Tiefen ausleuchtet, die selbst uns oft unbekannt sind? Vom Psalmvers 139,23: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne mein Denken!“ ausgehend, könnte der Lichtstrahl als ein Zeichen für Gott gedeutet werden. Die Keilform des Lichtstrahls lässt auf einen unendlich großen Anfang schließen – Gott selbst – das punktgenaue Auftreffen auf der Unterkante des Bildes auf sein individuelles Eingehen auf den Menschen. So kann der Lichtstrahl für Gottes Ergründen des Menschen stehen, das Prüfen seiner Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.

Ob Maria auch so ein Lichtstrahl durchdrungen hat, als Gott ihr durch den Engel ankündigte, dass er sie zur Mutter seines Sohnes auserkoren hatte? Dann könnte das Licht auch als Symbol für Gottes Geist gesehen werden, durch den Maria Jesus empfangen hat. Und von Menschenseite her könnte er als strahlende Antwort Marias verstanden werden: JA, „mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38). Denn Licht streut, die Lichtquelle wäre demzufolge die Seele oder das Herz Mariens.

Das Bild lässt sich auch als Metapher für meine Gottesbeziehung sehen. Der Lichtstrahl gleichsam als Datenautobahn des Austausches zwischen Gott und mir. Es stellt visuell die Frage, ob ich es zulasse, dass Gott mich besucht, erforscht und mein Herz erkennt, wie es der Psalmist erbittet. Dass Gott meine Bedürftigkeit sieht, auf meine Sehnsucht (vgl. Jes. 26,9) nach ihm antwortet. – Gleichzeitig mag es Anstoß sein, das göttliche Licht zu verinnerlichen! Es zuzulassen, in mir aufzunehmen, mich von ihm durchdringen und verändern zu lassen zu einer Lichtgestalt, die Anhaltspunkt für andere sein kann.

Diese Arbeit war im Rahmen des Festes “Maria Himmelfahrt” 2014 zusammen mit einem Dutzend anderer moderner Arbeiten zu Maria in Warendorf ausgestellt. Alle Kunstwerke finden Sie in der PDF-Version des Begleitheftes zur Ausstellung: Maria ImPuls der Zeit

Patrik Scherrer, 09.08.2014

Renate Reifert

Bis zum Grund
Entstehungsjahr: 2002
Öl auf Leinwand, 105 x 100 cm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

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