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Jannis Kounellis, Ohne Titel, 2012
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Das unsichtbare Kreuz

Zwei Paar Schuhe befinden sich in einer Metallbox mit Glasabdeckung. Es sind schwarze Herren-Halbschuhe, die Oberfläche des Glattleders glänzt und die Schnürsenkel sind gebunden. Sie stehen bzw. hängen auf dem grauschwarzen Mittelfeld eines sonst weißen Hintergrundes. Es ist keine Befestigung auszumachen. Die Drähte, welche die Schuhe mitten in der Einstiegsöffnung und vor dem Absatz umwickeln, halten farbige Glassteine in den Schuhen.

Die vier Lederschuhe „stehen“ ordentlich im Zentrum des Objekts. Ordentlich bedeutet in diesem Fall, dass sie vertikal ausgerichtet sind, paarweise übereinander stehen, zwischen dem linken und dem rechten Schuh jeweils gut eine halbe Schuhbreite Abstand. Alle Freiflächen stehen zueinander in einer harmonischen Beziehung.

Den Hintergrund oder aus anderer Sicht die Grundlage bildet ein teilweise mit grauschwarzer Farbe bedecktes Büttenpapier. Es ist schwer zu erkennen, ob die Farbe ausgegossen oder aufgemalt wurde. Unten rechts lassen helle Bereiche Spuren eines Pinsels vermuten. Auf den weißen Flächen verteilte Farbtupfer und –spritzer suggerieren eine spontane Arbeitsweise.

Man kann die dunkle Fläche einfach als abstrakte Form stehen lassen. Assoziativ lassen die Konturen aber auch einen weiblichen Torso von der Seite sehen, bei dem der Hals spitz zuläuft. Der einzige weiße Punkt in der Spitze des Farbkörpers ermöglicht zudem eine weitere Sichtweise. Das kleine weiße Rund ist eine Aussparung von Farbe und wirkt wie ein Loch, an dem der schwarzgraue Farbkörper wie ein Stück Schlachtfleisch im Raum aufgehängt ist.

Diese Beobachtungen und Gedanken mögen verstören und skandalös wirken. Denn es sind Männerschuhe auf einer Frauensilhouette. Es sind mit Steinen beschwerte Schuhe, die ein stilisiertes Stück Fleisch treten, das getötetes Leben bedeutet, ein enthauptetes, gehängtes Lebewesen. Unter der ästhetischen Schönheit der Arbeit verbergen sich tatsächlich grausame Beziehungen und Machenschaften, die unzähliges und unsägliches Leid im zwischenmenschlichen Bereich wie im Umgang mit anderen Lebewesen anprangern.

Unbarmherzig stellt der Künstler mit seinem Objekt die barbarische Seite vieler Männer wie in einem Schaufenster zur Schau . Die schwarzen Lederschuhe deuten auf diejenigen, die sie normalerweise tragen. Es ist typisch, dass diese Männer nicht sichtbar sind, denn sie verheimlichen ihre Machenschaften gerne. Stehen sie doch oft im Gegensatz zu dem, was sie vorgeben zu tun und zu sein. Die farbigen Glasbrocken mögen Symbole für alles sein, das sie sich selbst (in die Taschen) oder gegenseitig in die Schuhe schieben, um sich damit zu bereichern oder zu entlasten.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch das Kreuz, das sich aus den horizontalen und vertikalen Abständen der Schuhe ergibt, ein unsichtbares Kreuz bleibt. Mit seinem Tod am Kreuz hat sich Jesus mitten in das Leid dieser Welt hineinbegeben, um das Leid aller Menschen und aller Zeiten, um das Leid der ganzen Schöpfung von innen heraus zu umfassen und durch seinen Tod zu sühnen. Durch Jesus ist Gott gerade im Leidenden bleibend gegenwärtig, in dem, der seine Schmerzen und sein Leid oft in großer Einsamkeit und bis zum Tod ertragen muss.

Das Kreuz ist unsichtbar. Aber es ist geistig wahrnehmbar. Gott sei Dank ist es da. Gott sei Dank ist GOTT da. Still und leise, aber machtvoll.

Patrik Scherrer, 09.11.2013

Jannis Kounellis

Ohne Titel
Entstehungsjahr: 2012
Assemblage, 77 x 57 x 18 cm
Kunstsammlungen der Diözese Würzburg,
Stiftung der Freunde des Museums am Dom
© Foto: Thomas Obermeier
© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

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