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Andreas Felger, ohne Titel, 1994
© Andreas Felger Kulturstiftung, Berlin

Das weiße Hemd

Durch den Besuch der choreographierten Version der Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg inspiriert hat Andreas Felger dieses Bild gemalt. So hat das erste der „Ballette der weißen Hemden“, wie John Neumeier seine Inszenierungen der Matthäus-Passion (1980), des Magnificats (1987), des Mozart-Requiems (1991), des Messias (1999) und des Weihnachtsoratoriums (2007) gerne bezeichnet, eindrückliche Spuren im Werk eines anderen Künstlers hinterlassen.

Nur ein Gegenstand ist auf der roten Bildfläche dargestellt: ein stilisiertes, weißes Hemd. Der Halsausschnitt ist mit einem halbrunden Strich angedeutet, darunter zwei Knöpfe zum Schließen der Öffnung. Es erinnert an ein einfaches Gewand und gleichzeitig an ein Kreuz.

Erhöht, ja erhaben thront es in der roten Fläche, ganz wenig nach rechts aus der Mitte gerückt. Mit diesem einfachen, aber symbolhaften Bildaufbau lässt Andreas Felger ganz verschiedene Sichtweisen zu. Die weite rote Fläche und das zentrale Kreuzmotiv lassen beim ersten Blick vielleicht an eine Schweizer Fahne denken. Doch dann macht das einsame weiße Hemd im roten Umfeld nachdenklich. Unschuld und Blut kommen zur Sprache. Fragen gehen durch den Kopf. Wen es wohl getroffen hat? Was mag wohl der Träger des Hemdes erlebt haben, dass es blutig rot befleckt ist? Befleckt mit der gleichen roten Farbe, welche auch sein Umfeld aufwühlt? Oder bildet die rote Fläche vielmehr einen weiten Mantel, der seine Einsamkeit kleidet und seine Erniedrigung königlich erhöht?

Wir wissen es nicht. Jeder ist aufgefordert, seinen Zugang zum Dargestellten zu finden. Aus dem leuchtenden Rot spricht die von Blut gezeichnete menschliche Leidenschaft gegen den Einzelnen genauso wie die von der Liebe bewegte göttliche Zuwendung für den Einzelnen. Gerade in der angedeuteten Situation der Anklage, in der im Kreuz bereits das Schicksal des Angeklagten aufleuchtet, ist auch im Rot die beruhigende Gegenwart Gottes zu spüren.

So wird Er, der Unschuldige, mit seinem Tod alle Schuld der Menschen, auf welche Weise sie auch geschehen sein mag, sühnen. Das weiße Hemd bringt zum Ausdruck, dass der Mensch gewordene Gottessohn gerade wegen seiner Reinheit die Blutschuld der ganzen Welt zu tragen vermag. Denn das Gewicht der roten Fläche scheint dem zarten Hemd nichts anhaben zu können. Schwebt es nicht gleichsam über dem roten Feld? Sieht es nicht so aus, als sei in die Komposition auch die Auferstehung eingeschrieben, die Hoffnung und der Glaube, dass Er alle Lebenden, Verletzten und Blutenden zu sich zieht, um sie zu erlösen?

Patrik Scherrer, 19.06.2010

Andreas Felger

ohne Titel
Entstehungsjahr: 1994
Öl auf Leinwand
200 x 160 cm
© Andreas Felger Kulturstiftung, Berlin

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