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Siegfried Anzinger, Hieronymus, 2011
© Siegfried Anzinger / Snoeck Verlagsgesellschaft mbH

Fasziniert vom Wort

Ganz in die Lektüre versunken sitzt ein ungewöhnlich gekleideter Mann vor seinem Buch. Die Welt um ihn herum scheint sich aufgelöst bzw. eine transzendente Form angenommen zu haben. Mit seiner Leibesfülle fest auf dem irdischen Boden sitzend ragt seine Gestalt in den hellen Hintergrund hinein, im Geiste mit ihm eins werdend. – Wer ist dieser Mann? Was beschäftigt und fasziniert ihn derart, dass er mit seinem Kopf geradezu in anderen Sphären schwebt?

Unter einem ellbogenlangen scharlachroten Schulterumhang (Mozetta) trägt der Mann ein langes dunkelblaues Gewand. Der rote Schulterumhang wird überdeckt von einer zweiten Stoffschicht, die spitz nach hinten ausläuft und wie ein Flügel vom Körper absteht. In seiner Grundform bildet der Körper dieses Mannes ein Dreieck, das, obwohl leicht nach hinten geneigt, zum Ausdruck bringt, dass dieser Mann fest wie ein Fels in sich ruht und weder zu erschüttern noch umzuwerfen ist. Im Gegensatz zu dem mit kräftigen Farben gemalten Rumpf wirkt der Kopf blass und teilweise geradezu transparent. Leicht nach vorne geneigt, ist er mehr durch seinen Platz am Körper als durch kopfspezifische Details zu erkennen. Viel bedeutungsvoller erscheint der Hut, dessen Mittelteil genau die Form des Kopfes fortsetzt, dessen Krempe allerdings nur als ein Strich in Erscheinung tritt. Damit wird er als bedeckendes Kleidungsstück wahrgenommen, gleichzeitig bildet seine Silhouette eine auffallende Verbindung zwischen dem Buchstaben H und dem Buch, das die vordere Hutkrempe beinahe berührt.

Mit weit gespreizten Fingern hält der Mann mit der linken Hand den dickeren Teil des Buches, indes er die rechte Hand, die dunkel und wie eine Tierpranke gemalt ist, zurückzuziehen scheint. So, also würde ihm das, was er gerade liest, Furcht einflößen und ihn erschrecken. Rechts neben ihm bzw. zwischen dem Mann und dem Betrachter erhebt sich die Rückensilhouette eines Tieres. Von den Farben her lässt es sich als Löwe identifizieren. Er hat seinen Kopf erhoben und schaut zum Mann oder vielmehr zum Buch hoch. Damit sind die Hutkrempe, das Gesicht und die Hände des Mannes als auch der Tierkopf auf das Buch ausgerichtet.

Dieses Trio – Mann, Löwe und Buch – ist im 21. Jahrhundert ein eher exotisches Bild. Ob es in seiner Symbolik noch zu verstehen ist? Die Kleidung des Mannes erinnert an einen kirchlichen Würdenträger, seine Farbe und sein Hut an einen Kardinal. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Buch und dem, was er darin liest. Doch der Künstler hat leere Seiten gemalt, genauso leer wie der asketisch eingerichtete Raum, der den Mann umgibt. Und doch erscheinen weder die Wand noch die Buchseiten leer, sondern durch den feinen und transparenten Farbauftrag von einer geheimnisvollen Gegenwart beseelt, die mit Worten nicht zu fassen ist. So materiell fest der Körper des Kirchenmannes in der Bildmitte aufragt, die weitere Umgebung lassen seinen vergeistigten Zustand spüren.

Die dem sitzenden Mann beigegebenen Attribute Löwe und Buchstabe lassen in ihm Hieronymus sehen, der von 347 bis 420 lebte. 382 wurde der sprachgewandte Theologe im Auftrag des damaligen Papstes Damasus I. mit der Revision der bereits vorhandenen lateinischen Übersetzungen des Neuen Testamentes beauftragt. Drei Jahre später wandte sich Hieronymus der Übersetzung des hebräisch verfassten Alten Testamentes zu. Die einheitliche Übersetzung der ganzen Bibel bekam den Namen „Vulgata“ (was mit „allgemein bekannt“ übersetzt werden kann) und wurde im Mittelalter zur wichtigsten Bibelübersetzung. Zum Löwen kam er, weil er der Legende nach während seiner Zeit als Einsiedler in der syrischen Wüste einem Löwen einen Dorn aus der Pranke gezogen und seine Wunde gepflegt haben soll, so dass dieser bei ihm blieb.

Siegfried Anzinger hat mit diesem Bild ein Thema aufgegriffen, das v.a. im 15. bis 17. Jahrhundert öfters gemalt worden ist (u.a. Jan van Eyck, Antonio da Messina, Domenico Ghirlandhaio, Giovanni Bellini, Albrecht Dürer, Michelangelo Caravaggio, Peter Paul Rubens). Im Gegensatz zu ihnen setzt er Hieronymus in eine geradezu transzendente Umgebung und lässt den Betrachter, indem dieser dem Gelehrten „über die Schulter schauen“ darf, an seinem Bibelstudium teilnehmen. Dabei scheint es dem Künstler weniger um die Übersetzung der Schrift von einer Sprache in die andere Sprache zu gehen (Hieronymus ist nicht am Schreiben), als vielmehr um die Vermittlung der Faszination, die vom Wort Gottes ausgehend den Gelehrten Hieronymus erfasst. Er kann nicht aufhören, dieses Wort immer wieder neu zu schauen und mit Herz und Geist auf seine Bedeutung hin zu ergründen. Aber nicht nur darin kann er uns heute noch Vorbild sein. Auch als Übersetzer der Heiligen Schrift in die damalige Umgangssprache erinnert er uns, dass jeder und jede von uns das Wort Gottes mit Leib und Seele in sein Leben und seine Zeit hinein zu übersetzen hat.

 

Ein wunderbares “Bilderbuch” mit weiteren faszinierenden Arbeiten aus dem Jahre 2011 ist von Rudi Fuchs unter dem Titel Siegfried Anzinger: Bilder 2011 bei der Snoeck-Verlagsgesellschaft Köln erschienen. Auf 80 Seiten verführen 40 Farbabbildungen in die traumhafte Bilderwelt Siegfried Anzingers. Format 30 x 24 cm, Soft­cover, ISBN 978-3-86442-004-7, 24,80 €

Patrik Scherrer, 02.09.2012

Siegfried Anzinger

Hieronymus
Entstehungsjahr: 2011
Leimfarbe auf Leinwand,
85 x 70 cm
Foto: Lothar Schnepf, Köln
© Siegfried Anzinger / Snoeck Verlagsgesellschaft mbH

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