Heilfasten des Sehens
Großflächig hängt die Stoffskulptur im Chorbereich dieser Kirche. Naturfarbern und unbemalt. Das Bildprogramm entfaltet sich nicht durch eines oder mehrere Bilder wie bei anderen Fastentüchern, sondern über das Material, die Verarbeitung und Hängung des Gewebes.
Wie ein Kleidungsstück zum Trocknen ist das Fastentuch über eine horizontale Stange gelegt. Akkurat. Durch die Doppelung des Gewebes wird die konische Form deutlich – oben ist das Gewebe weiter, unten enger.
Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass Stoffsteifen spiralig zu einem Schlauch zusammengenäht worden sind. An beiden Enden steht ein Stoffzipfel vor (Detailbild). Die Stoffstreifen sind unten schmal geschnitten und werden nach oben immer breiter. Spiralförmig aneinandergenäht, symbolisieren sie einen Weg, ein Wachstum, das klein angefangen hat und immer größer und weiter wird. Sie lassen an das Leben denken, seinen Anfang und sein Ende, die lange Zeit der Entwicklung dazwischen, welche dem Leben seine so schlichte Form gegeben hat.
Die Stoffstreifen lassen durch ihr Material wie ihre Breite auch an die Leinenbinden denken, mit denen der Leichnam Jesu im Grab umwickelt war (Joh 20,5-7). Nun hängen sie zusammengenäht als abgestreiftes Gewand über dem Stab, aufgehängt wie die nicht mehr benötigte Körperhülle nach einer Verwandlung. Noch meint man die menschliche Gestalt, die das Kleid getragen hat, in der Stoffskulptur wahrzunehmen: Gerade auch, weil die oberen beiden Stoffschichten die Fortsetzung des unten sichtbaren schmaleren Teils als hohe vertikale Erscheinung durchscheinen lassen. Die „Waagrechten“ deuten unten die Füße an, darüber die Hände an herabhängenden Armen, oben den Schulterbereich.
Aber die Hülle ist leer. Und die mehrfachen Stoffschichten entziehen den menschlichen Blicken auch die dahinterliegende Kreuzigungsgruppe. Wir sind auf Entzug gesetzt. Wir sehen nichts von ihm, verharren in der Betrachtung all dessen, was er durchgemacht hat, und dürfen durch das weiße Leinengewand doch die Auferstehung des Totgeglaubten erahnen.
Visueller Entzug ist Fasten für die Augen. Wir sollen zur Ruhe kommen, gerade in der heutigen Bilderflut. Die Stoffskulptur gibt Raum zur Einkehr, zur Besinnung auf die vielen Erfahrungen und Erlebnisse, die uns bewegt und geprägt haben. Vor unserem inneren Auge bildet sie so etwas wie eine weiße Leinwand, auf die wir alles in uns Verborgene, Unausgesprochene, Dunkle und Schwere projizieren dürfen. – Damit es durch ihn und mit ihm verwandelt werde, heil werde, zu neuem Leben. Was verwickelt war, möge sich entwirren, das Verbundene entbunden werden, das Festgehaltene sich wieder befreien.
Claudia Merx gewann mit dieser Arbeit beim Wettbewerb ARS LITURGICA 2012 – Gestaltung eines Fastentuchs, den 1. Platz. Zur gleichnamigen Ausstellung der besten Entwürfe im Kardinal-Hengsbach-Haus, Essen vom 15. Mai bis zum 21. Juli 2013 erschien ein Katalog mit hervorragenden Beiträgen sowie die Präsentation der 15 besten Arbeiten. Der Katalog kann für 8 Euro beim Liturgischen Institut in Trier erworben werden.
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