• Text zum Bildimpuls
  • Informationen zu Kunstwerk und Künstler
  • Kommentare zum Bildimpuls
Manfred Koch, Liebe in allen Sprachen, 2012
© Manfred Koch

Liebesbeweis

In Paris gibt es am Montmartre nahe der Place des Abbesses eine künstlerisch gestaltete Mauer, die ganz der Liebe gewidmet ist. Die Liebeserklärung par excellence ist hier in 311 handschriftlich individuellen Varianten in 250 Sprachen und Dialekten wiedergegeben. Von 1992 an sammelte der Sänger Frédéric Baron mit seinem Bruder in der ganzen Welt den Schriftzug „Ich liebe dich“, um dann die Kalligraphin Claire Kito zu beauftragen, die gesammelten Versionen künstlerisch zu bearbeiten und sie zu arrangieren. So entstand im Jahre 2000 „Le mur des je t’aime“ – die „Ich-liebe-dich-Mauer“. Die Kacheln im A4-Format erinnern an die damals noch analog auf A4-Papier gesammelten Schriftzüge. Die eingestreuten roten Farbflecken sollen Stücke gebrochener Herzen darstellen und der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die zersplitterte Menschheit durch die Kraft der Liebe wieder vereint werde (Quelle: Wikipedia).

Ein Ausschnitt dieser 40 m2 großen Mauer wurde in dem Moment fotografiert, als eine Frau in orangerotem Mantel und weißer Mütze darunter vorbeilief und sich genau zwischen drei roten Fragmenten befand. Der in der Unschärfe der Frau wiedergegebene flüchtige Moment ist ein Zeichen der Zeit. Der universelle Satz „Ich liebe dich“ findet so in einem manifesten Individuum eine konkrete menschliche Gestalt und es entsteht ein Dialog zwischen den vielen Liebeserklärungen und der einen Frau. In welcher Sprache hat sie wohl einem Mitmenschen gesagt, dass sie ihn liebt? Ist sie glücklich verliebt oder trägt sie den Schmerz und die Wunden einer zerbrochenen Liebe in sich? Die zwischen den weißen Schriftzügen eingestreuten roten Farbpunkte können von der Frau ausgehender Ausdruck hochfliegender Gefühle als auch Fragmente einer zerbrochenen Liebe sein. Ob sie die vielen Liebesbekundungen aus aller Welt vorübereilend – en passant – überhaupt wahrnimmt oder sie sogar auf sich bezieht und sich so in diesem Moment geliebt fühlt?

Den auf dieser Wand versammelten Liebesäußerungen wohnt eine gewaltige Kraft inne. So unterschiedlich die berühmten drei Worte in den verschiedenen Sprachen auch lauten, sie bringen einen Menschheitssatz zum Ausdruck, das menschliche Grundbedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Die Liebe ist so weit und tiefgründig, so unerschöpflich und geheimnisvoll wie der Ozean, den die tiefblau glasierten Kacheln andeuten. Wobei das Bild mit dem Meer beides andeutet: überschäumende Freude, grenzenlose Weite, tiefe Sehnsucht, absolutes Lebenselixier, … aber eben auch seine Unberechenbarkeit: unfassbare Kraft und Gewalt, grundlose Tiefe, bedrohliche Gefahr.

Neben der Liebe zwischen Menschen können die Liebesbotschaften auch aus zwei weiteren Perspektiven gesehen werden: Zum einen als Liebeserklärung Gottes an uns Menschen, die Gott nicht nur in allen Sprachen und Dialekten dieser Welt zu uns spricht, sondern auf einzigartige und individuelle Weise zu jedem Einzelnen. Gottes Liebe ist die Quelle unserer Liebe: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen.“ (1 Joh 4,16) Unsere Gott antwortende Liebe ist die dritte Sichtweise, denn, wer Gott liebt wird auch zu ihm sagen können: „Ich liebe dich“. Für den Autor des ersten Johannesbriefes ist diese Liebe untrennbar mit dem Respekt und der Liebe zu allen Menschen verbunden: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder [= seinen Mitmenschen] hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20)

So mag der tiefblaue Hintergrund auch andeuten, dass unsere Liebe zueinander von einem unbeschreiblich Größeren, Transzendenten oder eben von Gott gehalten wird und aus der starken Bindung an IHN hervorgeht. Die weißen Schriftzüge vermitteln die Liebe als etwas Positives und Lichtvolles, das jeder dem anderen schenken kann.

Beim Nachdenken über die Bedeutung der Aussage „Ich liebe dich“ wird klar, dass die Liebe eine gewaltige Kraft ist, welche Menschen verbindet und ihre Lebensbedingungen positiv beeinflusst und zum Guten zu verändern vermag. „Ich liebe dich“ ist eine Ich-Botschaft, bei der das Du im Mittelpunkt steht. „Ich liebe dich“ bringt ein Gefühl zum Ausdruck, ein Hingezogen-Sein zum anderen, ist aber darüber hinaus auch eine Haltung der Wertschätzung und des Respekts, der Fürsorge und des Schutzes. „Ich liebe dich“ heißt in den Alltag übersetzt: Ich mag dich, ich bin froh, ja glücklich, dass es dich gibt, dass du da bist. Und weil du mir viel bedeutest, suche ich deine Nähe und möchte so viel wie möglich mit dir teilen, ich will für dich sorgen und darauf achten, dass dir nichts passiert. Dieser liebevolle Blick mit einem offenen Herzen erkennt wesentlich mehr als die sichtbare Gegenwart des Geliebten. In der Liebe nehme ich den anderen in der Tiefe und in allen Dimensionen wahr und an. Die Liebe das Herz, so dass ich über den oder die Geliebten im unmittelbaren Umfeld hinaus auch „Ich liebe dich“ zu allen Menschen meiner Zeit sagen kann. Ganz im Wissen, dass wir als Weltgemeinschaft voneinander abhängig sind und dass ihr Wohlbefinden auch mein Glück bedeutet. Wo wir einander im Respekt der Liebe begegnen, wird nicht nur Paris eine „Stadt der Liebe“ sein, sondern die ganze Erde zu einer „Welt der Liebe“ werden.

 

Diese Fotografie ist wiedergegeben im Katalog WRITTEN ON THE WALLS, 2023, 96 Seiten, 50 Fotografien. ISBN: 978-3-910311-05-3. Mit Textbeiträgen von Nora Gomringer, Claudio Ettl, Walter Leimeier, Hans-Walter Ruckenbauer und Ludger Verst. Der Katalog kostet 18,00 EUR und kann beim Künstler bezogen werden: mail@manfred-koch-fotografie.de.
Hier können Sie einen Blick in den Katalog werfen (PDF)

Patrik Scherrer, 10.02.2024

Manfred Koch

Liebe in allen Sprachen
Entstehungsjahr: 2012
Paris 2012, 12:28 Uhr Farbfotografie
© Manfred Koch
Weitere Bildimpulse:

Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert