Traurige Leere
Das Porträt einer jungen Frau ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. In einem knapp bemessenen Bildausschnitt nimmt der Kopf mit der angeschnittenen Schulter fast den ganzen Raum ein. Allein am linken Bildrand führt eine stimmungsvolle Landschaft in perfekt gemaltem Sfumato bis zum Horizont und darüber hinaus in den bedeckten, die Farbtöne des Inkarnats aufnehmenden Himmel. Der aufsteigende Hügelrücken lenkt den Blick zu den Augen und weiter auf das von einer Haarsträhne verdeckte Ohr. Von den wässrig traurigen Augen fließen fünf Tränen über die feinschattierte Haut ihrer Wangen. Eine weitere Träne hängt kurz vor dem Abtropfen am Kinn. Die unendlich traurigen Augen blicken haltlos in die Leere. Die Tränen und der leere Blick deuten auf ein schwerwiegendes, unbegreifliches Geschehen, das die junge Frau miterlebt hat und nun irgendwie zu verstehen oder zu verarbeiten versucht.
Die feinen Gesichtszüge und der blaue Strickpulli versetzen die Frau in unsere Zeit. Doch gleichzeitig erinnern das Blau und die geneigte Kopfhaltung an Maria. Altmeisterlich gemalt und doch zeitgenössisch gegenwärtig wirkend ist sie zweifach von ihrem Sohn gezeichnet. Die vom Mittelscheitel aus gleichmäßig das Gesicht rahmenden Haare lassen zum einen Herz Jesu-Darstellungen vom Ende des 19. Jahrhunderts anklingen. Zum anderen bildet die Aufhellung am Horizont mit der rechtwinklig dazu verlaufenden Linie „Scheitel-Nase-Mund-Hals eine unauffällige Kreuzform. Damit erhält das unfassbare Geschehen der Kreuzigung und des Sterbens Jesu ein Gesicht. Ja, sein Leiden und Sterben haben sich in das Gesicht der jugendlichen Maria eingeschrieben. Jesu Leiden leuchtet in unserem Leiden auf, in unseren Dunkelheiten und Einsamkeiten. Die weinende Frau steht für alle Menschen, die unter schrecklichen Umständen jemanden verloren haben, insbesondere Mütter, die ihre Kinder wegen der Gewalttaten anderer verlieren oder generell geliebte Menschen loslassen müssen.
Der Leipziger Maler Leif Borges hat das Bildnis durch den Titel „Was dancing with tears in my eyes“ (Ich habe mit Tränen in meinen Augen getanzt) zudem mit einem Song der britischen Band Ultravox aus dem Jahre 1984 verknüpft, der das Weinen über die Erinnerung an ein vergangenes Leben bei einer nuklearen Katastrophe zum Inhalt hat: „Dancing with Tears in My Eyes“. Von der dunklen Wolke überschattet, die Last der alles vernichtenden Katastrophe auf ihren Schultern tragend, leuchtet die Schönheit der menschlichen Kreatur auf, gezeichnet vom Kreuz des 20. und 21. Jahrhunderts, dem unerträglichen Licht und den zerstörenden Strahlen der Atombombe. Der traurige Blick der Frau nimmt die traurige Leere danach vorweg. Ihr Blick lässt die unfassbare Leere in ihrem Innern spüren, das Leid des unendlichen Verlustes des und der Liebsten.
Trotzdem wirkt das Bild nicht zwangsläufig trostlos. Denn in der zarten Farbigkeit des Bildnisses, dem in allen Details wunderschön wiedergegebenen Frauengesicht und der im Kontrast dazu weichen Landschaft leuchtet eine schöpferische Schönheit mit lebensverändernder Kraft auf. In den Anklängen an Maria und Jesus verschwimmen die Grenzen zwischen Bild und Realität und öffnen sich Zugänge zu diesen beiden menschlichen Ur- und Vorbildern. Gerade weil Jesus und Maria so viel durchgemacht haben, vermögen sie in allen das Leben durchkreuzenden, bedrohenden und vernichtenden Situationen Halt und Trost zu schenken. Sie lassen spüren, dass man nicht allein ist – im Begreifen dieses Geschehens als auch im Wissen, dass danach Ostern kommt. „Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt,“ sind Jesu Schlussworte im Matthäusevangelium (28,20b).
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