Unerwartet – Nachts im Wald
Durch das Licht wird der Blick von der rechten unteren Ecke in das Bild hineingeführt. Es handelt sich um eine verschneite Wiese, die nach rechts leicht ansteigt und in deren Mitte ein kahler Baum steht. Nur durch den Schnee wird sichtbar, wie er sich aus dem Wiesenboden erhebt und gleich einer Lichtsäule alles über den Bildrand hinaus in die Höhe zieht. Rechts von ihm führt der Horizont direkt in die undurchdringliche Nacht, wobei die Schneeflocken die Nacht wunderbar verzaubern und wie Sterne in die Weite des nächtlichen Kosmos öffnen. Links vom Baum sind im Hintergrund schwarze Baumstämme und damit Wald erkennbar, davor aber eine Gruppe Menschen. Auf den ersten Blick denkt man an Hirten, die mit ihrer Herde auf dem Feld lagern, vielleicht auch an eine Gruppe Obdachloser oder Flüchtlinge.
Aber bei der Entdeckung, dass es sich bei dieser Menschengruppe um Jesus und die zwölf Apostel beim Letzten Abendmahl handelt, ist das Erstaunen groß. Alles hätte man hier erwartet, aber nie Jesus in der Abendmahlszene nach Leonardo da Vinci, der auf dem Horizont der Wiese seine Arme genauso ausbreitet wie auf dem Abendmahltisch. Jesus mit seinen Jüngern in dieser Umgebung wiederzufinden ist befremdlich und irritiert. Was macht er hier, was hat er hier verloren? Wieso malte die Künstlerin die Gruppe in diese unwirtliche Landschaft? Die aufgebrachten Körperausdrücke und die heftigen Gesten der Jünger stehen für Ihre Fragen, Gespräche und Diskussionen. Sie könnten auch unsere sein.
Wieso ausgerechnet Jesus und die Jünger beim letzten Abendmahl? In der vorweihnachtlichen Zeit verbinden wir die nächtliche Landschaft vielmehr mit Vorstellungen der schwangeren Maria auf dem Esel und einem Josef, der vorausgeht. Vielleicht dachten wir spontan auch an das Adventslied „Maria durch den Dornwald ging …“ Doch hier spricht Jesus mit ausgebreiteten Armen in die Winterlandschaft hinein: Nehmt und esst, das ist mein Fleisch. Und das ist mein Blut, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis. (vgl. Mt 26,26f)
Es sind die Worte, die er einige Tage vor seinem Tod am Kreuz zu seinen Jüngern gesagt hatte. Die Bildumgebung schafft durch die Nacht, das Licht und den Schnee eine Parallele zu unserer vorweihnachtlichen Zeit des Advents, in der wir gleichsam mit Maria und Josef auf die Heilige Nacht zugehen, in der Jesus geboren wurde. Damit wird auf eine ungewöhnlich neue Weise die Geburt Jesu in Verbindung mit seinem Sterben gebracht. Gleichzeitig wird unser Blick für das Besondere geschärft und wir werden gleichsam aufgerufen, wachsam zu sein, um sein Kommen am „Rand der Welt“ wahrzunehmen, zu sehen und für ihn bereit zu sein. Von Anfang an schenkt sich Jesus in unsere Dunkelheiten, Kältezonen und Erstarrungen hinein, auf dass sie wieder hell, warm und lebendig werden. – Bereiten wir uns vor, seien wir wachsam, damit wir ihn nicht verpassen, wenn er ganz unauffällig in unser Leben eintritt und es mit Leben erfüllen will.
Stefanie Gerhardt
10,5 x 40,5 cm
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