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Claudia Krämer, Kreuzweg, 2005
© Claudia Krämer

Verlassen?

Ein ungewöhnlicher Kreuzweg: Nur aus sieben Stationen bestehend, zeigt er nicht Jesus auf seinem Leidensweg, sondern einen einzelnen Menschen zwischen geometrischen schwarzen und roten Farbfeldern. Die Bedeutung der einzelnen Elemente ergibt sich durch ihre Veränderung von Tafel zu Tafel, der Sinn dieses besonderen Kreuzwegs aus der Gesamtschau.

Da ist der Mensch. Seine Darstellung mit wenigen flüchtigen Strichen erinnert an seine Vergänglichkeit. Am Anfang hat er noch den Arm erhoben, die Worte andeutend, die neben ihm zu sehen sind: „Mein Gott, mein Gott …“. Er lebt noch unbeschwert – seine Füße haben keine Bodenhaftung –, unbedrängt und mit freier Sicht. Sein Scheitel überragt gerade noch die Wand in seinem Rücken und vor ihm bleibt genügend Abstand zur erst hüfthohen schwarzen Wand.

Und nun beginnt der Weg der Veränderung. Die Gestalt wird von Bild zu Bild kleiner, als wüchse sie in den Boden hinein. Die rechte Wand wird höher und höher, bis sie die linke überragt. Beide Wände rücken immer näher zusammen, bedrohlich den Lebensraum einengend, kein Entkommen mehr ermöglichend, die Luft zum Atmen abschnürend.

Im ersten Bild kann man den dünnen Kontraststreifen am rechten Bildrand leicht übersehen. Er ist ebenso rot wie das kleine Quadrat auf dem Brust- oder besser Herzbereich der menschlichen Gestalt. Beide roten Flächen verändern sich: Der anfangs rote Strich wird immer breiter und dient als Grundlage für sechs weitere Elemente, mit denen er Schicht für Schicht aufgestockt wird. Ebenso wenig wie der Mensch anfangs Bodenhaftung hatte, berühren sich die einzelnen Schichten nicht, sondern scheinen im Reich des Möglichen zu schweben. Das Rote im Menschen verändert sich anders: Je mehr ihn die Wände bedrohen und einengen, erfüllt es den noch verbleibenden Lebensraum zuerst nach unten und wächst dann nach oben weit über die Gestalt hinaus.

Wofür stehen die Farben? Das tiefe Schwarz wohl für Bedrohung, Bedrängnis, Not, Leid und Verlassenheit – darum die Frage der Verzweiflung, die sich handschriftliche über der rechten Wand durch die ersten vier Bilder zieht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Text unter den Bildern ist Anm. d. Autors). Die Gegenfrage im fünften Bild: Ist sie in dieser Situation nicht eine maßlose Provokation? Sicherlich für den Betroffenen. Aber für uns „Außenstehende“ erklärt sie den Sinn der roten Kontrastfarbe, die offenbar für Gottes oft so verborgene und dennoch existierende Anwesenheit in unserem Leben steht: Für seinen Beistand, seine Hilfe und Rettung, vor allem aber für Vertrauen und Liebe. Damit wird seine Frage eine trostvolle Frage.

Aus der sechsten, unbeschrifteten Tafel spricht großes Schweigen. Die Bedrängnis ist am größten. Man spürt die Stille des Todes, aber gleichzeitig deutet sich kaum wahrnehmbar eine Wende an: Die bis dahin sich nach rechts neigende Silhouette steigt zum ersten Mal wieder an.

Und auf der siebten Glasscheibe dann die Befreiung, die ultimative Antwort Gottes auf Leid und Verzweiflung, auf Hoffnung und Vertrauen. Die roten Farbschichten füllen nun die Hälfte der Bildfläche. Aufgetürmt auf dem Grundstock des Vertrauens sind sie nun zwar auch nicht miteinander verbunden, aber gehalten von dem alles umfassenden orangefarbenen Licht, das den Hintergrund der Bildfläche erfüllt. Eingebunden in dieses warme Licht steht der Mensch größer und fester als je zuvor da, „gekleidet“ in die Wesentlichkeit seines Vertrauens: Gott. Frei von Bedrängnis schaut er – wahrscheinlich voller Verwunderung – auf die sieben roten Balken, die für ihn zuvor verdeckt waren. Als neue Wirklichkeit stehen sie kraftvoll der an den Rand gerückten dunklen Vergangenheit gegenüber und bieten dem Auferstandenen ungekannte Perspektiven …

… und auch uns. Denn dieser auf Glas gemalte Kreuzweg will Durchblicke in existenziellen Fragen geben, Zuversicht und Hoffnung bezüglich des Lebens danach. Vielleicht hat die Künstlerin ihn deshalb auf transparenten Glasscheiben mitten in den Raum gestellt. – Er soll nicht an den Rand gedrängt oder an die Wand gehängt werden, sondern zentral in unserem Leben stehen – wegen seiner Bedeutung für das ewige Leben. Deshalb sollte jeder für sich, für sein Leben und in seiner Situation diese Botschaft vom Kreuzweg zu entziffern und zu begreifen versuchen …

Patrik Scherrer, 03.03.2007

Claudia Krämer

Kreuzweg
Entstehungsjahr: 2005
je 50 x 50 cm, Fusing mit Schwarzlot
© Claudia Krämer
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