Ein junges Paar steht am Ausgang eines Bahnhofs. Die einfach gekleidete junge Frau hält ein Baby in den Armen, ein Bauarbeiter in einfacher, verschmutzter Kleidung steht ihr bei. Ein Mann in weißer Latzhose und einem gelben Koffer schaut zu ihnen hinüber. Hinter ihnen öffnet sich der Blick auf einen Bahnsteig mit Informationstafeln und einem blauen Zug.
Das Paar scheint gerade in der Stadt anzukommen. Vor ihnen liegen erneut Gleise, vielleicht von der Straßenbahn. Sie müssen ja irgendwo eine Herberge finden in der Stadt. Neben ihnen wünschen Esel und Ochs aus einem DB-Informationsschalter heraus (auf die verkehrte Welt weist das von hinten spiegelverkehrt abgebildete DB-Symbol hin) den traditionellen Bergmannsgruß „GLÜCK AUF“. Mit dem kurzen Wunsch werden Gesundheit und Erfolg bei der gefährlichen Arbeit in den Bergwerksstollen zusammengefasst, das Finden des Gesuchten und auch die gesunde Rückkehr des Kumpels. Der als Graffiti auf die Wand gesprühte Spruch zu ihrer Rechten verortet das Glück einzig und allein im Glauben an Jesus: „Ohne Jesus ist Schicht im Schacht“.
Mit dem Rücken zur Wand sieht der telefonierende Geschäftsmann diesen entscheidenden Hinweis allerdings nicht. Läuft er dem Glück davon?
In den Ecken eines unsichtbaren Dreiecks umgeben drei Personen das junge Paar: links unten ein Mädchen mit einem weißen Lamm, rechts eine alte Frau am Rollator, oben ein geflügelter Mann in Business-Kleidung. Seine dunkle Brille und sein tastender Gang lassen in ihm einen blinden oder lichtscheuen Engel sehen. Was für eine Botschaft er wohl verkünden mag?
Unbeholfen steht er auf dem Dach der Bahnhofshalle. Wem soll er die Botschaft verkünden? Würden die Leute seine Botschaft überhaupt verstehen, wenn der Gottessohn so unauffällig in einer Bergmannsfamilie in die Welt hineingeboren wird? Wer es nicht weiß, wird das göttliche Kind übersehen, seine Ankunft verpassen! So ist es auch beim Mädchen und bei der alten Frau ungewiss, ob sie auf das Kind zugehen oder an ihm vorbeigehen. Die farbliche Verbundenheit mit Maria (rot-rosa Oberteile) lässt ersteres vermuten. Biblisch gesehen könnte das Mädchen symbolisch für die Hirten, die zum Stall geeilt sind, als auch für Johannes den Täufer stehen, der mit den Worten auf Jesus hinwies: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29). Die alte Frau hingegen könnte die biblische Witwe Hanna andeuten, die Gott im Tempel erwartete und sich über seine Ankunft derart freute, dass sie es allen erzählte, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten.“ (Lk 2,38)
Johannes wie Hanna haben Jesus erwartet. Sie haben sehnsüchtig auf ihn gewartet. Sie haben gehofft und gebetet, dass ihnen die Gnade zuteilwerde, Jesus zu erkennen und ihn schauen (vgl. auch Simeon; Lk 2,25.26) und anbeten zu können: als Heiland der Menschen, als Retter der Welt. Weist nicht das Holzkreuz der Bahnhofshalle, unter dem die Mutter mit dem Kind steht, auf Jesu Berufung hin, die Menschen durch sein eigenes Blut zu erlösen? Und verweisen die Orientierungstafeln, welche Bahn wann in welche Richtung abfährt, nicht auch auf seine Heimkehr zum Vater?
Die Skulptur lädt uns ein, Jesus zu erwarten – „Komm Herr Jesus!“ (Offb 22,20) – auf dass wir ihn in Menschengestalt auch erkennen und schauen können. Hier und jetzt.
Die Arbeit von Rudi Bannwarth ist in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.