Reichtum der Armut

Welch eigenwillige Komposition: Eine Holzplatte mit niedrigem schmalen Rand, ausgelegt mit Wellpappe, als Behältnis für einen Salzbrand. Er ruht auf dem unteren Holzrand, ist oben und unten mit feinem Draht auf seiner Unterlage festgezurrt.

Die Farbgebung verbindet diese Materialien: das Weiß des Salzes mit vielen Übergängen in ein ins Violette spielendes Grau, ein verhaltenes Gelb, das wie ein matter Scheinwerfer – von rechts kommend – auf das Wesentliche gerichtet ist, erhellend, sinn-erhellend.

Und was sehen wir?

Zwei Gestalten mit unklaren Konturen, rechts eine kleinere, zarte, schutzbedürftige – vielleicht ein Kind. Sein Kinn ruht geborgen in der Hand der größeren Gestalt, deren Kopf sich tief neigt, mit der Stirn den Scheitel des Kleinen berührend. Eine liebevoll bergende, respektvolle Zuneigung!

Der Lichteinfall, der diese Szene sichtbar macht, taucht den Rücken der größeren Gestalt in kräftiges Dunkel. Ein ins Auge springender Bezug: kraftvolle Stärke, eigener „Rückhalt“ können Quelle der Zuneigung, der Schutzbereitschaft für einen Schwächeren sein.

Wahrhaftig ein Schatz, den zu suchen und den festzuhalten sich lohnt. Vor uns ein Kunstwerk, das sich nicht nur von Farbe und Form her erschließt, sondern ebenso von den verwendeten Materialien. Dinge des Alltags: Holz, Salz, Pappe vermitteln die Botschaft von einer zwischenmenschlichen Kostbarkeit, die in den Alltag gehören sollte. Getaucht ist sie in den bei Otto Zech häufig vorkommenden Lichteinfall. Hier erhellt er die Spannung zwischen Stärke und Schwäche, Geben und Empfangen, Selbstständigkeit und Bedürftigkeit, die sich löst in der Gewissheit der gegenseitigen Würde.

Am rechten Rand der Holzplatte steht in kleinsten Buchstaben wie ein Geheimnis: Die Armut ist schon reich geworden.

Dieser Bildimpuls entstammt dem Buch: Otto Zech. Werkbuch Fragmente, Hg. Stephanie Roos, Wuppertal 2006, S. 78/79. 

Armut

Sind es Köpfe, menschliche Gesichter, die mir in diesen vier Zeichnungen begegnen? Tiefschwarz sind sie auf das hellbraune Material einer Kartonschachtel gezeichnet. Mit wenigen Linien, undeutlich, mit verwischten Grauschleiern wie mit markanten fleckengleichen Flächen.

Es sind keine schönen Gesichter, die mich da anschauen. Es sind vielmehr vier vom Elend gezeichnete Gesichter, unsauber, ungepflegt. Die mangelnde Hygiene hat ihre Spuren hinterlassen. Der Künstler hat sie schattenhaft und unscharf dargestellt, als hätten sie in der Gesellschaft bereits ihr Gesicht verloren.

Ähnlich wie der Karton, auf dem ihre flüchtige Erscheinung festgehalten wurde. Die Kartonschachtel war einmal etwas Wertvolles, Nützliches. Ein Gegenstand war mit ihm verpackt und vielleicht auch verschickt worden. Herunterhängende Klebstreifen kleben und hängen wie Zeugen dieser Reise am Karton. Nun hat er seinen Dienst getan und hätte weggeworfen werden sollen. Doch der Künstler hat ihn aufgehoben und für würdig befunden, das Trägermaterial seiner Zeichnungen zu werden. Er hat keine edle Leinwand gewählt, sondern einen alten, gebrauchten, wertlosen, unstabilen Karton.

Dadurch ist ein authentisches Kunstwerk entstanden. Trägermaterial und Dargestelltes haben die gleiche Aussage. Dadurch ist seine Arbeit auch unbequem geworden. Denn er stellt Gesichter, die in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt, ausgegrenzt, quasi versteckt werden, wieder in den Mittelpunkt. Portraits von Menschen, die auf solchen Kartons unter einer Brücke schlafen, sich mit ihnen notdürftig vor Kälte und Wind schützen.

Es ist gut, wenn uns solche Anblicke nicht unberührt lassen, sondern immer wieder neu zur wirklichen Begegnung mit den Armen bewegen, um sie durch Zuwendung und Teilen aus ihrer Ausgrenzung herauszulösen und wieder in die gesellschaftliche Gemeinschaft zu integrieren. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan,“ sagt Jesus zu seinen Jüngern (Mt 25,40) und „wer ein solches [Menschen-] Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf.“ (18,5) Wer Jesu Wort beherzigt, darf die Hoffnung in sich tragen, dass wieder Leben, Farbe und Schönheit in die Gesichter der Armen einziehen werden, die dass die heimatlos auf dem Bildgrund schwebenden Köpfe wieder Anschluss an ihre Körper erhalten.

Bettler der Barmherzigkeit

Das bekannte Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn ist schon oft illustriert worden. Die bekannteste und wohl emotional stärkste Darstellung ist sicher jene von Rembrandt, wo der Sohn in den Armen seines Vaters liegt.

Der Künstler Volker Kurz hat diese biblische Geschichte aus dem heutigen Zeitgeist heraus ganz anders dargestellt. In frischen Farben und mit einem Zug zur Karikatur malte er das Geschehen. Was vielleicht naiv aussieht, wird so Herausforderung zur intensiven Beschäftigung mit dem altbekannten Bildthema. Bewusst weicht er von der biblischen Vorlage ab und verbindet sie mit anderen biblischen „Geschichten“, um neue Sichtweisen zu ermöglichen.

Ganz allein steht der verlorene Sohn in der leeren Mitte des dreiteiligen Bildes. Hinter ihm die heimatlose Welt des Vergnügens und der Sünde, der er den Rücken gedreht hat, vor sich das Haus seines Vater und seiner Familie. Wie auf Wolken steht der Sohn zwischen zwei Welten im Niemandsland.

In gebückter Haltung steht er als Bittsteller vor seinem Vater: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und die Erde versündigt; ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.“ (Lk 15,21) Während der biblische Text überliefert, dass der Vater ihn schon von weitem kommen sah, ihm voll Mitleid entgegenlief, umarmte und küsste, steht der Vater hier eher kühl, zurückhaltend und Distanz gebietend im blau-gelb gestreiften Mantel da. Seine linke Hand macht eine Geste, die sagen könnte: Was willst du hier? Du hast hier nichts mehr zu suchen!

Die Begegnung zwischen Vater und Sohn strahlt für mich eine für die Bibel untypische Hartherzigkeit aus, die mich gerade in dieser für ihre Herzlichkeit bekannten Situation schmerzlich berührt. Die Kluft scheint unüberwindbar zu sein, die Personen verharren auf ihren Standpunkten, der letzte zur Umarmung führende Schritt scheint nicht möglich zu sein.

Was geht hier vor? Da sind auch Menschen auf beiden Seiten, die mit ausgestrecktem Finger auf ihn zeigen, die vor Entrüstung schreien, belustigt auf ihn schauen, ja sogar mit Steinen auf ihn werfen. Die Ehebrecherin kommt mir in den Sinn, die von hartherzigen Männern in die Mitte gestellt wurde, um sie zu steinigen (Joh 8,1-11). Aber auch Jesus wollten die Juden wiederholt steinigen, weil seine Botschaft und sein barmherziges Handeln gegenüber den Sündern für sie unerträglich war (Joh 8,59; 10,31.39).

War das vielleicht die Absicht des Künstlers, den verlorenen Sohn mit Jesus in Verbindung zu bringen? Und die starre Haltung des Vaters mit der der Kirche in gewissen Dingen? Der gotische Spitzbogen, in dem er steht, könnte ein Hinweis sein. Dann dürften wir den verlorenen Sohn, und mit ihm Jesus par excellence, als Bettler der Barmherzigkeit sehen, als denjenigen, der um die Vergebung der Sünden bittet.

Hier wird nicht nur die Haltung des Vaters in Frage gestellt, auch diejenige der Spötter und Steinewerfer, letztlich auch unsere eigene Haltung gegenüber denjenigen, die Fehler gemacht haben und einen langen und schweren Umweg machen mussten, um die Wahrheit zu erkennen und ihr zu folgen.