Grace: Gnade + Dank

49 weiße Körper, die an Kokons erinnern, liegen wie ausgeschüttet auf dem Boden. Alle haben eine rissartige oder rundliche Öffnung. Innen sind sie leer. Ähnliche Formen kennen wir von Schmetterlingen. Kokons sind beim Verwandlungsprozess von Raupen in Schmetterlinge nötig und bleiben quasi als Zeugen übrig.

Diese Kokonform wird in der Installation aufgegriffen und übergroß mit Materialien aus dem medizinischen Bereich dargestellt. Gips- und Mullbinden verweisen auf Zeiten, in denen unser Leben gefährdet war. Sie verweisen auf Krisenzeiten, in denen wir auf Grund von Unfällen etwas gebrochen oder uns verletzt hatten und zur Heilung einen zusätzlichen Halt und Schutz brauchten. Sie verweisen auf Verbände nach Operationen, die durch Krankheiten oder Versagen von Körperorganen nötig wurden. Die Kokonformen lassen an Lebenshüllen denken für Zeiten, in denen wir besondere Ruhe und Schutz benötigten, an einen Rückzugsort, aus dem man gestärkt und verwandelt hervorgehen kann.

Die fast transparenten und fragilen Hüllen machen bewusst, wie prekär der Aufenthalt darin war. Was wir hier sehen, sind die zurückgebliebenen Spuren geglückten Lebens. Die Kokons sind leer, weil das in ihren herangereifte Leben stark genug war, in die Welt aufzubrechen. Sie sind zurückgelassen, weil sie kein Nest sind, sondern vergängliche Notwendigkeit, darin zu reifen und fit zu werden für die vielfachen Anforderungen des Lebens, für die (fast) grenzenlose Freiheit, die wir wie Schmetterlinge entfalten dürfen.

Solche Gedanken lassen Staunen und Dankbarkeit aufkommen. Ist das nicht wunderbar? Es ist doch keine Selbstverständlichkeit, dass das Leben gelingt oder in Übergangszeiten die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Dass in der STille und Verborgenheit die Kraft für ein Comeback heranreift. Es könnte auch anders sein, wenn wir wieder einmal haarscharf an einer gefährlichen Situation vorbeigeschlittert sind, das Neugeborene vollkommen gesund, die Ernte reichlich, das Leben gut zu uns ist.

Eigentlich haben wir dieses ästhetische wie schöpferische Wunder nicht verdient. Es wird uns einfach zuteil, still und leise geschenkt. Es ist Gnade, grenzenlose Güte, unverdientes Glück! Gläubige sehen es als Geschenk Gottes. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Darauf möchte auch die Anzahl der Kokons hinweisen. Die Wurzel der Zahl 49 ist die Sieben, die Zahl der Fülle. 49 ist die Fülle im Quadrat – unfassbarer Überfluss!

„Grace“ hat die Künstlerin ihre Arbeit benannt. Nicht weil englisch immer besser klingt, sondern weil das Wort „Grace“ weitere Bedeutungen hat, die eng mit dem Begriff der Gnade verbunden sind. „Grace“ bedeutet auch Anmut und Schönheit, wie wir es ja auch im deutschen Wort „Grazie“ kennen. Und „to say grace“ meint, das Tischgebet zu sprechen, Dank zu sagen. Mille grazie!

Gnade und Schönheit werden uns geschenkt, unsere Antwort ist schlicht der Dank.

Freudiger, dankbarer Ausdruck

Das erste, was wir von diesem Kunstwerk wahrnehmen, sind wahrscheinlich die wohltuend warmen Farben, verteilt auf dreizehn kreisrunde Formen, und das sie überlagernde und zusammenfassend verbindende bunte Liniengeflecht. Dann spüren wir vielleicht etwas Anziehendes, etwas Lockendes, als wäre hier Wunderbares ausgedrückt, das zu ergründen sich lohnt und das Sehnsucht weckt, teilhabend dabei sein zu dürfen.

Ohne den Hinweis des Künstlers, dass es sich hier um den Lobpreis nach dem Abendmahl handelt, käme man jedoch kaum auf die Idee, in den bunten Kreisen Symbole für eine Mahlgemeinschaft zu sehen. Man muss allerdings wissen, dass Thomas Werk in seiner Bildsprache die menschliche Gestalt häufig auf eine Kreisform reduziert und so das Allgemein-Menschliche vor die Individualität stellt, die er, wenn überhaupt, nur in ganz subtilen Andeutungen zeigt.

Es handelt sich also um eine Szene aus dem Passahfest, das die Israeliten jedes Jahr zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft nach einem uralten, im Buch Exodus festgelegten Ritual (Ex 12ff) feierten. Darin spielt der Lobgesang – das große Hallel – den der Hausvater mit seiner Mahlgemeinschaft anstimmte, eine wichtige Rolle. Psalmen wurden gesungen, Texte, die längst zu den Kostbarkeiten der Weltliteratur gehören, weil sie über den historischen Ausgangspunkt hinaus zeitlose Gültigkeit haben. Ein Beispiel:

Lobsinget dem Herr! Denn er ist gut:
Ja, ewig währt sein Erbarmen. …
Rief ich in der Bedrängnis „O Herr“,
So hat der Herr mich erhört, dass ich frei ward.
Wenn der Herr für mich ist, so fürchte ich nichts.
Was kann ein Mensch mir dann antun?…
Besser ist’s, sich zu bergen beim Herrn,
als auf Menschen Vertrauen zu setzen.
(Ps118,1.5-6.8)

Genau diesen Inhalt hat Thomas Werk ins Bild gesetzt: diese tiefe, dankbare Freude, diese Sicherheit gebende Geborgenheit, dies überzeugende Gefühl des Wohlergehens. Doch wie kann ein so komplexer Eindruck vermittelt werden, der durch die Psalmenzitate nur verdeutlicht, aber nicht hervorgerufen wird? – Betrachten wir die Kreisformen noch einmal näher: In warmem Gelb bis Dunkelbraun sind sie in einem einzigen breiten Pinselstrich aufgetragen. Anfang und Ende sind klar erkennbar, ebenso die Spuren der Pinselhaare – ursprünglich Schöpferisches andeutend. Die Kunstformen vermitteln solide Festigkeit, individuelles Leben, das einen inneren Freiraum umschließt.
Wen die Kreise wohl darstellen? Ob die dreizehn Kreise wohl Symbol für das sogenannte „Letzte Abendmahl“ sind, das Jesus mit seinen Freunden gefeiert hat? Vielleicht. Aber dann würden wir einen großen Kreis für Jesus erwarten. Hier sind jedoch drei Kreise deutlich größer dargestellt. Wenn wir allerdings auf den Adressaten des Lobgesanges schauen, dann könnten sie ein Hinweis auf Gott sein: Gott in der Dreiheit seines Wesens, Gott, der verheißen hat, bei uns zu sein, wenn wir in seinem Namen beisammen sind.

Bleibt die Deutung des frohen Liniengeflechts, das über der Ansammlung der runden Elemente einen luftigen, spielerischen Kontrast bildet. Ungeplante Spontaneität spricht aus diesen farbigen Linien: so, wie die Farbe auf das Papier gefallen ist, wurde sie belassen, was sich an Mustern ergab, war gut so. Die feinen Linien blieben unbearbeitet und behielten so ihre zufällige Ursprünglichkeit. Sie erinnern in ihrer formalen Leichtigkeit und Bewegungsvielfalt an die fotografisch festgehaltenen Bewegungen von in der Luft geschwungenen Leuchtkörpern. Wie ein luftig-transparentes Gewölbe breiten sie sich über den Kreisen aus, bewirken Zusammenhang und verbinden zu einer bunten Gemeinschaft. Jeder Kreis behält seine Identität, aber jeder steht in Zusammenhang mit den anderen, die mit ihm zum Fest, zum Lobgesang beisammen sind – wirklich, oder auch in übertragenem Sinn. Denn das gemeinsame Erleben, das gemeinsame Mahl verbindet zu einer Zusammengehörigkeit, die tiefer ist und tiefer bindet, als äußere „Zulassungsbedingungen“ es sein können.

Soweit der Blick auf diese Arbeit von Thomas Werk. Weiter in die Tiefe mag ein Wort von Jehuda Baccon führen, einem großen zeitgenössischen israelischen Künstler, der einmal sagte: „Selbstverständlich gibt es Künstler verschiedenster Art: die einen schaffen mit ihrem Verstand und andere sind „ein Werkzeug“ in der Hand des Schöpfers. Das ist das Höchste, was wir im Leben erreichen können.“ Und so kann ein Kunstwerk entstehen, das ohne eine einzige „religiöse“ Chiffre auskommt, aber geradezu eine Offenbarung vermittelt …

Gedanke

Kräftig leuchtet die rote Form im schwarzen Hintergrund. Sie ist im unteren Bereich durch die weißen Buchstaben des Wortes „danke“ überlagert, im linken Bereich durch ein halbtransparentes Rechteck. Insgesamt eine recht graphische Darstellung, bei der das Wort „danke“ zwischen den beiden Ebenen herausschaut.

Ein vertiefter Blick lässt in der runden großen Form den Buchstaben „G“ entdecken, der in Verbindung mit dem vorgestellten „danke“ zum Wort „Gedanke“ wird. Danke – für den Gedanken, mag es unwillkürlich durch den Kopf blitzen und Staunen sich breit machen über die Erkenntnis, dass im Wort „Gedanke“ „danke“ enthalten ist! Soll etwa jeder Gedanke ein Dank sein? Ein dankbares Gedenken oder Erkennen?

Wie eine Antwort auf das Nachdenken über das Wortspiel, das uns die Dimensionen dieses Wortes neu vor Augen hält, erscheint das dicht beschriebene halbtransparente Rechteck: „16.2.2003 Die Kunst beginnt, wo das Denken endet.17. Einsam wird man geboren, einsam wird man sterben. 18. Den Sinn des Lebens spürt man nur in der innigsten Umarmung. 19. Alle Träume sind Teile der unendlichen Wahrheit. […] 23. Suche das Einfachste und das Schwierigste wird dir gelingen. […] 10. Wenn man versucht, alle Türen offen zu lassen, kann ein Luftzug sie eine nach der anderen zuschlagen lassen. […] 15. Jeder Anfang trägt das Ende in sich, so wie jedes Ende ein neuer Anfang ist – nur die Liebe währt ewig.“ (Manfred Schramm)

Das Datum und die fortlaufenden Ziffern lassen ahnen, dass hier tagebuchartig Lebensweisheiten festgehalten worden sind, für jeden Tag eine Erkenntnis! Fragmente aus der Spannbreite des Lebens. Erfahrungen, die staunen lassen und von denen man gerne die eine oder andere als Maxime fürs Leben nehmen möchte. – Die Künstlerin hat diese Lebenserfahrungen so ins Bild gebracht, dass die Worte und Sätze im schwarzen Feld Durchblicke schaffen und den Hintergrund sichtbar werden und durchscheinen lassen: intellegere! Geht es bei Lebensweisheiten nicht gerade um dies: das Vordergründige auf den tragenden Hintergrund hin durchsichtig, transparent werden zu lassen, damit das Tragende sichtbar wird?

Das große G lässt offen, wer oder was dieses Tragende ist. Es könnte genauso gut für Gott wie für Gegenwart stehen, für Global wie für Glück, für Gesundheit wie für Gelingen.. Aber das leuchtende Rot bringt auch Blut und Liebe zum Ausdruck, die runde Form ansatzweise Unendlichkeit, wie wir sie nur Gott zuschreiben. G also für Gott, der uns die Fähigkeit zu Erkennen, Begreifen und Verstehen geschenkt hat? Glauben wir nicht, dass er uns von seinem Geist gegeben hat, damit wir mit unserem Geist und Verstand die sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeiten dieser Welt durchdringen und immer wieder neu ergründen können? Dafür dankbar und glücklich zu sein, das ergäbe doch Sinn!

Das Denken, der Gedanke ermöglichen uns Begegnungen mit anderen Welten, anderen Zeiten, wie es der Weg unter dem Wort „danke“ andeutet. Sie ermöglichen uns Begegnungen mit Menschen wie der
abgebildeten Frau, die wir durch ihre Auffälligkeiten mehr oder weniger bewusst wahrnehmen. Sie ermöglichen uns über die Gegenwart hinaus in die Vergangenheit zurückzublicken wie in die Zukunft zu schauen. Gedanken sind – so gesehen – Fenster, die Licht in unsere „hauseigene“ Dunkelheit bringen. So unsichtbar und oft flüchtig sie sind, sie beeinflussen unser Denken und prägen es als bewussten Erfahrungsschatz. Denn in ihnen ist, wie es die rote Farbe suggeriert, Leben und vielleicht auch Liebe!

Lobpreisschale

Auf den ersten Blick ist nicht viel zu erkennen. Von der linken Seite her kommt eine geschwungene Form ins Bild hinein, welche die Senkrechten zu tragen scheint. Die warmen, diffusen Farben und die aufsteigenden Strukturen erinnern mich an ein Feuer.

Das Bild könnte tatsächlich ein Feuer darstellen, das in einer Schale brennt.

Ähnlich den Flammen steigen in mir Gedanken und Erinnerungen auf. Geläutert durch die zeitliche Distanz schwingt warmer Dank mit, Dankbarkeit gegenüber Dem, der mich all das erfahren und erleben ließ. Geheimnisvoll wie die klar definierte Senkrechte in der Mitte des Bildes steht Er in meinem Leben, zentriert und orientiert es. Wie der Docht in der Kerze steht Er in der Mitte meines Lebens und lässt es in der Dankbarkeit lichtvoll und schön werden.

Diese Dankbarkeit verwandelt meine Erinnerungen, ja mein ganzes Leben bis in die Gegenwart hinein in ein unaufhörliches Lobpreisgebet vor Gott. Wie wohlriechender Weihrauch steigt es vor Gott auf (vgl. Ps 141,2; Offb 8,4) und verherrlichlicht Den, der mir das Leben mit allem, was es beinhaltet, geschenkt hat.

Der Lobgesang der drei jungen Männer ertönt in mir, die von König Nebukadnezzar wegen ihres Glaubens an den einen Gott in einen glühenden Ofen geworfen wurden, dort aber durch einen Engel des Herrn so beschützt wurden, dass ihnen das Feuer nichts anhaben konnte. Ihr Lobpreis rühmt und preist Gott in seinem Wesen und Wirken und fordert die ganze Schöpfung auf, in diesen Lobpreis einzustimmen (vgl. Dan 3,51-90). Die Thematik vieler Psalmen wird hier aufgenommen (vgl. insbes. Ps 103-106), aber auch die feurige Dankbarkeit von Lobgesängen aus dem Neuen Testament. Als Beispiele seien nur das Magnifikat der Maria (Lk 1,46-55) und das Benedictus des Zacharias (Lk 1,68-79) erwähnt.

Aus der Gegenwart höre ich noch einen weiteren Lobpreis in mir. Einen, der bei der Jesus-Bruderschaft in Gnadenthal ein fester Bestandteil des Gebetes ist und so tönt:

„Dass Du mich einstimmen lässt in Deinen Jubel, o Herr,
deiner Engel und himmlischen Heere,
das erhebt meine Seele zu dir, o mein Gott;
großer König, Lob sei Dir und Ehre!“