Eine kunterbunte Menschengruppe ist in der Nacht unterwegs. Ihre leuchtenden Farben und außergewöhnlichen Kleider erinnern vielleicht an Karneval, doch der Stacheldraht im Vordergrund passt nicht zu diesem Gedanken.
Diese Frauen, Männer und Kinder, die hier in scheinbar endloser Reihe vorbeiziehen, haben sich nicht zum Spaß verkleidet, sie kommen von woanders her, sie sind in anderen Kulturkreisen aufgewachsen und vom Leben dort geprägt. So lassen ihre Kleider auf eine afrikanische Herkunft oder muslimische Religion schließen, der Totenkopf und die Zielscheibe, dass sie vom Tod begleitet werden und im Fokus vieler Menschen stehen. Die Linienführung ihrer Kleider oder deren Musterung lässt zudem an lange und vielfältige Erfahrungen denken, die sie mitbringen.
Weil sie anders sind, fremd, nicht dazugehörend, müssen sie vorbeiziehen, ausgesperrt durch eine Stacheldrahtrolle. Die Fremden sollen auf der anderen Seite bleiben und vorüberziehen. Sie sind unerwünscht und sollen nicht hereinkommen. Weshalb sollen sie auch ein Gesicht haben, wenn sie von unserer Seite her gar nicht gesehen werden wollen?
Doch vor dem Hintergrund der dunklen Nacht und hinter dem winterlich kalten Stacheldraht sind diese Menschen der einzige Lichtblick im Bild und erfüllen es mit Wärme. Sie sind Symbol für das Leben und seine Vielfalt und machen deutlich: Wer Menschen ausgrenzt, grenzt das Leben aus.
Dabei haben wir nicht erst seit Jesus den Auftrag, das Leben zu schützen und zu fördern. Wir machen das in der Familie, vielleicht zeigen wir auch Nachbarn oder sogar Landsleuten diese Solidarität. Aber bei Fremden stoßen viele von uns an Grenzen und wir tun uns schwer, sehr schwer sogar.
Wahrscheinlich hat gerade deswegen Jesus in der Bergpredigt sein Augenmerk auch darauf gelegt, wenn er sagt: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Gib jedem, der dich bittet! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden. (Lk 6,27, 30a,31-33,36-37a,38)
Den ersten Satz könnte man leicht abgewandelt auch auf die Fremden beziehen, ohne aus ihnen gleich Feinde zu machen: Liebt die Fremden, tut denen Gutes, die ihr nicht kennt. Und in Anlehnung an Mt 25 „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Als ich fremd war, habt ihr mich aufgenommen; ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben. (nach V. 40 und 35)
Wir sollten das Leben nicht vorbeiziehen lassen und erst recht nicht Jesus, wenn er uns als Fremder unverhofft besuchen möchte!