Rampenlicht der Gnade

Eine Frau steht dem Betrachter zugewandt in gelblich-weißem Licht. Ihre Silhouette zeichnet sich klar vom Hintergrund ab. Der Blick folgt den Konturen ihrer Haare, dem Zweiteiler, den sie trägt. Ihre Arme sind leicht angehoben, die Hände in lockerer Haltung. Ihre Gestalt ist erdig braun, um anzudeuten, dass sie von der Erde geschaffen und irdischer Natur ist.

Sie steht in einem gegenstandsfreien offenen Raum. Unter ihr breitet sich eine bläuliche Wolke aus, darüber ist nur Licht, das sich durch die hellere Mitte bühnenartig nach hinten öffnet. Vertikale Farbverläufe deuten ein herabkommendes Geschehen an, das sich insbesondere in der Mitte über und um die Frau herum konzentriert.

Ohne sichtbaren äußeren Halt über den Wolken zu gehen braucht ein gesundes Maß an Selbstvertrauen. Sie sieht nicht wie eine Seiltänzerin aus oder dass sie mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hätte. Im Gegenteil, es scheint für sie eine Selbstverständlichkeit zu sein (man beachte, dass in einem Wort drei wesentliche Wörter vereinigt sind: selbst, verstehen und stehen), vom Licht umgeben zu sein, in ihm zu stehen und zu leben.

Da die Künstlerin das Bild durch ihr Bibelzitat aus Röm 5,5b „denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ eindeutig in einen christlichen Kontext stellt, darf das Licht als eine Kraft gesehen werden, die von Gott ausgeht und für den Menschen gedacht ist.

So kann man das fließende Licht als Symbol für die Liebe Gottes sehen. Durch den Heiligen Geist umgibt sie jeden Menschen, der Gott als seinen Vater angenommen hat. Durch den Heiligen Geist pulsiert sie mit dem Blut in unseren Herzen und unseren Adern, um uns und alles, was wir tun, zu durchdringen und mit seinem Geist zu erfüllen.

Das Licht ist ein Ausdruck seiner Gnade, die er allen Menschen zukommen lässt, die offen für sein Wirken sind, ob sie ihn kennen oder nicht. Gott ist da – stark wie das Tageslicht, wärmend wie die Sonne, darüber hinaus am Tag und in der Nacht und auch im Innern von uns. Gottes liebende Gegenwart durch den Heiligen Geist gibt von unseren Herzen ausgehend einen Halt, der alle anderen Sicherheiten überflüssig macht. Seine Liebe ist wie eine Boje, die im Sturm am Ort und über Wasser hält. Sie ist wie ein Heißluftballon, der seine Passagiere sicher durch die Luft trägt, wenn es einem den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Seine Liebe ist das Licht, das auch dann scheint, tröstet und gegen allen Anschein Halt und Orientierung gibt, wenn sich überall Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit breit gemacht hat.

In Seinem Licht zu stehen bedeutet für Christen die Selbstverständlichkeit, dass Gott durch seinen Heiligen Geist da ist: immer, überall, in allen Lebenslagen. Das Licht symbolisiert von Gott her die Gnade und vom Menschen her das Vertrauen, dass er da ist und handelt, auch wenn es nicht danach aussieht (vgl. Ps 23). Es ist ein heiliges Miteinander, das wie das Licht weit über sich hinaus segensreich Gutes bewirken kann.

Das Herz Jesu vor Augen

Eine Bockleiter, ein antikes Herz Jesu, das früher als ewiges Licht gebraucht wurde, und ein Ei sind zu einer eigenartigen Installation zusammengefügt worden. Jedes der drei Objekte vermag in der Kombination mit den anderen beiden beim Betrachter Irritationen und Fragen auszulösen.

Was hat ein ewiges Licht in Form eines von einem Schwert durchstochenen Herzens mit einer Leiter zu tun? Was mag der Grund sein, dass es ganz Oben aufgehängt ist? Auf der anderen Seite steht die  Leiter mit einem ihrer Holme auf einem Ei und erhält durch die Schräglage einen unsicheren Stand. Andererseits fragt man sich, wieso das Ei von der Leiter nicht zerdrückt wird. Sehrwohl wird es zerdrückt werden, wenn jemand auf die Leiter steigt. Was hat das also zu bedeuten, dass der Künstler die Leiter genau auf das Ei gestellt hat?

Vielleicht werden uns Antworten auf diese Fragen gegeben, wenn wir den Eigenheiten der einzelnen Elemente nachspüren. Eine Leiter wird zum schnellen Hochsteigen an Orten gebraucht, an denen für kurze Zeit in der Höhe gearbeitet werden muss. Deshalb muss sie leicht, flexibel und doch stabil sein. Das Oben und das Unten sind bei ihr entscheidend. Deshalb kann sie auch für eine hierarchische Struktur stehen. Für viele ist es ein Ziel, auf der Karriereleiter schnell nach oben zu kommen. Während es die einen aus eigener Kraft nach oben schaffen, befinden sich die anderen in der Position des Eies und sind auf das Erbarmen oder die Gnade der Vorgesetzten angewiesen, dass diese sie fachlich nach- und damit auch hochziehen.

Das Ei steht für werdendes Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit. Es ist der überstarken Macht seiner Umwelt ausgeliefert und bedarf deshalb eines übergroßen Schutzes. Die Installation macht deutlich, dass werdendes Leben in jeder Form Umsicht, Vorsicht, Wertschätzung und in der Folge Rücksicht benötigt, um unbeschadet überleben zu können.

Das Besteigen der Leiter ist in diesem Fall nicht möglich, ohne sich vorher zu bücken (= klein zu machen) und das Ei aus der Gefahrenzone herauszunehmen. Symbolisch ist das ein barmherziges Handeln, wie es Jesus ein Leben lang vorgelebt hat.

Die in die Leiter hineingehängte Lampe bringt wie ein Rotlicht bei einer Ampel Jesu Wirken in all unsere nach Oben strebenden Tendenzen hinein. Sie gebietet Einhalt bei einem herz- und gnadenlosen Kampf um die oberste Position, ja verunmöglicht sie einzunehmen. Als ewiges Licht in der Form eines vom Schwert durchbohrten Herzens wird es allen „Emporkömmlingen“ unmissverständlich vor die Augen gehalten, dass der erste Platz Gott gehört und sie sich ihm unterordnen und verantworten müssen.

Das Herz Jesu mahnt alle Aufsteigenden, auf ihr Herz zu hören und gnädig mit Mitmensch und Umwelt umzugehen. Das durchbohrte Herz erinnert, dass nur jemand barmherzig handeln kann, dessen Herz schmerzhaft berührt worden ist, dessen Herz sich vor Mitleid krümmt und wie beim barmherzigen Samariter ein übergroßes Erbarmen bewirkt, das die betroffene Person rettet (vgl. Lk10,25-35).

So ist das Herz Jesu als Vorbild für ein barmherziges und damit gnadenvolles Handeln zu sehen. Jeder, der „nach oben“ will im Leben, soll Jesus vor Augen haben, wie er die Armen und Kleinen im Blick hatte und ihnen zu Ansehen und Leben verhalf. Jeder soll vor Augen haben, dass wahre Größe keine Überheblichkeit kennt, sondern grenzenlose Wertschätzung des Lebens bedeutet. Das gab Jesus auch dem Gesetzeslehrer zur Antwort: „Dann geh und handle du genauso!“

„Gnade walten lassen“ ist für das menschliche Herz nicht einfach, aber jeder kann es, wenn er will. Gertrud von le Fort schreibt: „Gnade ist nicht Gewalt, sondern Freiheit.“ Denn Gnade ist ein Akt der Freiheit und führt in die Freiheit. Sie ist eine wesentliche Zutat zur Erfahrung eines erfüllten Lebens.

Himmelszelt voller Gnade

Zwei weiße Hände von porzellanartiger Beschaffenheit ragen nebeneinander aus der Wand. Sie halten zwei Stricknadeln, die durch einen Draht verbunden sind, der die Maschen hält. Gestrickt wird mit zwei verschiedenfarbigen Fäden: einem mit Gold durchwirkten blauen Faden, der, wie die Hände, aus der Wand kommt, und einem dickeren roten Faden, der unten einem Fadengewirr entspringt. In dieses verstrickt sind menschliche Figuren in unterschiedlichen Körperhaltungen: still betend, im Fadenmeer versinkend oder verzweifelt sich an einem nach oben führenden Faden festhaltend, usw.

Die weißen Hände stricken eine Art Zelt, das auf seiner Außenseite blau und auf der Innenseite rot ist und dem Mantel entspricht, mit dem in traditionellen Darstellungen Maria gekleidet ist. Dabei symbolisiert das Blau den Himmel und Rot die Erde. Entsprechend entspringt der Faden für die blaue Außenseite dem Jenseits, hier ausgedrückt durch sein kontinuierliches Hervortreten aus der Wand. Demgegenüber werden die Menschen, die sich in ihrer Not an Maria wenden, durch die strickende Tätigkeit mit dem roten Faden nach oben und aus ihrer Misere gezogen, gleichzeitig wächst dadurch der Mantel in Richtung Erde und kommt ihnen schützend entgegen.

Maria wird hier nicht als Mensch mit individuellen Zügen dargestellt, sondern allein durch ihre strickenden Hände. Mit dieser typisch weiblichen Tätigkeit verbindet sie irdische Not mit himmlischem Erbarmen und fertigt damit einen weiten Mantel für die Bedürftigen. Wie ein Himmelszelt schwebt er über ihnen, beschützend, wärmend, Gottes Zuneigung und Liebe vermittelnd. Beeindruckend wird die Wandlung sichtbar, die Maria durch ihre Mittlerfunktion bewirkt. Die Menschen, die in der verwirrenden Not oder dem Chaos unterzugehen drohen, erhalten durch sie neue Hoffnung. Sie werden aufgerichtet und ihr zerstörerisches Leid wird gewandelt in den behütenden, Ruhe und Ordnung gebenden Innenmantel eingearbeitet, was sie gestärkt durchs Leben gehen lässt. Dadurch erhält der Schutzmantel Marias im Gegensatz zu traditionellen Darstellungen eine größere Eigenständigkeit, gleichzeitig wird Marias Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde, die bei der Marienfrömmigkeit eine große Rolle spielt, besonders deutlich.

Erfülltes Leben

Warme Farben lassen das Bild leben und geben ihm eine feurige Atmosphäre. Kräftiges Rot bildet die Basis, dann formen weiße Elemente in dynamischer Diagonale einen klar umrissenen Raum der Mitte, darüber gleichsam als Krönung aufflammendes Gelb vor lichtrotem Hintergrund

Das Bild lädt zum Verweilen ein. Es ist, als würde der Betrachter durch das weiße Element angeschaut und eingeladen, in diesen lichterfüllten Raum der Begegnung einzutreten.

Vom Rot der Liebe und der Begeisterung her gesehen, das wie ein standhafter Docht in den weißen Bereich hineinragt, kann dieser auch als geistige Flamme gesehen werden, als das Licht, das durch die tätige Liebe entsteht.

Von oben her ist gleichzeitig eine gelblich inspirierte Intervention zu beobachten, die durch die intensive gelbe Schicht hindurch wie eine Hand auf den roten „Docht“ hinweist. Diese Bewegung kann nur als Schatten gesehen werden – und doch geschieht Begegnung: von unten aus dem erdhaften Rot, von oben aus dem sonnenschweren Gelb.

So entsteht ein Begegnungsraum von großer Reinheit: Von oben mit intensivem Licht begnadet, von unten mit überfließendem Lebensdrang erfüllt. Entstanden aus dem ungeteilten Dasein für Gott und den Nächsten. Aus Begeisterung für die Sache Gottes und der Menschen entzündet, für ihn brennend, leuchtend, als sein Werkzeug andere damit erleuchtend, ihnen die Augen und Herzen öffnend, sie berührend, um das Licht Gottes in ihnen zu entdecken und sichtbar werden zu lassen.

Ein Begegnungsraum des Lebens, der wie ein Auge aussieht. Vielleicht wie Gottes Auge, das mich sanft betrachtet, mir Aufmerksamkeit und Wertschätzung vermittelt. Eine bleibende Wertschätzung, weil Gott seinen liebenden Blick nicht von mir lässt. So motiviert er, Leben und Fähigkeiten in seinen Dienst zu stellen, so stärkt er durch seine Gnade, so krönt er jedes hingegebene Leben mit der Krone des Lebens, dem ewigen Leben, als Belohnung für die Treue zu ihm, für die Durchhaltekraft, für alles Gute, was in dieser irdischen Zeit geschehen ist. So vermag das Bild darauf hinzuweisen, jetzt Begegnungsräume mit Gott zu suchen und zu schaffen.

Vielleicht erinnert der weiße Raum auch an das Samenkorn, das in die Erde fällt, im keimenden Aufbrechen stirbt, dadurch aber hundertfach Frucht bringt. Gottes Gnadenfülle macht Unerwartetes möglich, wo wir es zulassen. Insofern könnte das Bild auch vieles über Maria erzählen, von der Berufung zur Gottesmutter bis zur Krönung im Himmel. „Sei treu bis in den Tod, so werde ich dir die Krone des Lebens geben“, sagt der Geist im Buch der Offenbarung (2,10) zu den bedrängten Gläubigen in Smyrna.

 

Das Bild wurde von der Künstlerin zum Anlass „Ordination – Krone des Lebens?“ – „50 Jahre Frauenordination in der Hannoverschen Landeskirche“ geschaffen worden und schmückte am 4. Juli 2014 den Festgottesdienst für Pastorinnen in Bad Rothenfelde.

Grace: Gnade + Dank

49 weiße Körper, die an Kokons erinnern, liegen wie ausgeschüttet auf dem Boden. Alle haben eine rissartige oder rundliche Öffnung. Innen sind sie leer. Ähnliche Formen kennen wir von Schmetterlingen. Kokons sind beim Verwandlungsprozess von Raupen in Schmetterlinge nötig und bleiben quasi als Zeugen übrig.

Diese Kokonform wird in der Installation aufgegriffen und übergroß mit Materialien aus dem medizinischen Bereich dargestellt. Gips- und Mullbinden verweisen auf Zeiten, in denen unser Leben gefährdet war. Sie verweisen auf Krisenzeiten, in denen wir auf Grund von Unfällen etwas gebrochen oder uns verletzt hatten und zur Heilung einen zusätzlichen Halt und Schutz brauchten. Sie verweisen auf Verbände nach Operationen, die durch Krankheiten oder Versagen von Körperorganen nötig wurden. Die Kokonformen lassen an Lebenshüllen denken für Zeiten, in denen wir besondere Ruhe und Schutz benötigten, an einen Rückzugsort, aus dem man gestärkt und verwandelt hervorgehen kann.

Die fast transparenten und fragilen Hüllen machen bewusst, wie prekär der Aufenthalt darin war. Was wir hier sehen, sind die zurückgebliebenen Spuren geglückten Lebens. Die Kokons sind leer, weil das in ihren herangereifte Leben stark genug war, in die Welt aufzubrechen. Sie sind zurückgelassen, weil sie kein Nest sind, sondern vergängliche Notwendigkeit, darin zu reifen und fit zu werden für die vielfachen Anforderungen des Lebens, für die (fast) grenzenlose Freiheit, die wir wie Schmetterlinge entfalten dürfen.

Solche Gedanken lassen Staunen und Dankbarkeit aufkommen. Ist das nicht wunderbar? Es ist doch keine Selbstverständlichkeit, dass das Leben gelingt oder in Übergangszeiten die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Dass in der STille und Verborgenheit die Kraft für ein Comeback heranreift. Es könnte auch anders sein, wenn wir wieder einmal haarscharf an einer gefährlichen Situation vorbeigeschlittert sind, das Neugeborene vollkommen gesund, die Ernte reichlich, das Leben gut zu uns ist.

Eigentlich haben wir dieses ästhetische wie schöpferische Wunder nicht verdient. Es wird uns einfach zuteil, still und leise geschenkt. Es ist Gnade, grenzenlose Güte, unverdientes Glück! Gläubige sehen es als Geschenk Gottes. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Darauf möchte auch die Anzahl der Kokons hinweisen. Die Wurzel der Zahl 49 ist die Sieben, die Zahl der Fülle. 49 ist die Fülle im Quadrat – unfassbarer Überfluss!

„Grace“ hat die Künstlerin ihre Arbeit benannt. Nicht weil englisch immer besser klingt, sondern weil das Wort „Grace“ weitere Bedeutungen hat, die eng mit dem Begriff der Gnade verbunden sind. „Grace“ bedeutet auch Anmut und Schönheit, wie wir es ja auch im deutschen Wort „Grazie“ kennen. Und „to say grace“ meint, das Tischgebet zu sprechen, Dank zu sagen. Mille grazie!

Gnade und Schönheit werden uns geschenkt, unsere Antwort ist schlicht der Dank.

Offen für das Leben

Die wenigen Linien vermögen beim ersten Anblick geradezu ein Gedankenfeuerwerk auszulösen: Wir sehen ein Bett, das an seinem Kopfende gleichsam Fühler oder Antennen hat, die sich wiederum mit Raumkanten verbinden. So steht die Liegestätte nicht ganz haltlos im Raum – sie ist gleichsam von oben her wie mit Flügeln in der Schwebe gehalten.

Gleichzeitig vermag man einen stilisierten Käfer mit langen Fühlern zu sehen. Sucht er im unendlichen Raum des weißen Blattes nach einem Anhaltspunkt? Steht das Bild vielleicht für unseren Glauben, für unser suchendes Vorwärtsschreiten? Ist das Viereck zwischen den diagonalen Linien nicht auch so etwas wie ein Fenster, ein Durchgang zu einem Dahinterliegenden? Die wenigen Linien bilden für unser glaubendes Vorwärtstasten bereits Anhaltspunkte, führen uns an Orte und Situationen im Leben, in denen wir vielleicht Grenzerfahrungen gemacht haben und Gott unerwartet nahe waren.

Dies mögen Zeiten des Ausruhens oder Erholens sein, in denen wir bewusst oder unbewusst dem Leben und seinem Sinn nachgespürt haben. Vielleicht erinnern sie uns aber auch an Zeiten der Krankheit, der Prüfung oder des Ausharrens, des Abschiednehmens. Denn das Bett – oder ist es nicht doch ein Stuhl – ist leer. Viele könnten sich hier niedergelassen haben. Und jeder ist eingeladen, sich hier niederzulassen und sich von der von oben kommenden unsichtbaren Kraft erfüllen zu lassen, die über dem Bett wie von einem Sammelbecken aufgefangen und trichterförmig auf den im Bett Liegenden gelenkt wird. – Ein schönes Bild für die Gnade Gottes: Gerade in den Zeiten der Entspannung oder Erholung fließt Seine Kraft besonders intensiv dem Bedürftigen zu.

Sicher sind noch weitere Zugänge zu dieser Zeichnung von Monika Bartholomé möglich. 19 Bleistift- und Pinselzeichnungen hat die Künstlerin für das neue Gotteslob der Katholischen Kirche in Deutschland und Österreich geschaffen, die in ihrer grafischen Schlichtheit hervorragend mit den Schriftzeichen und Notensystemen kommunizieren.

Gerade in den wenigen, ganz einfach und damit existenziell und wesentlich gehaltenen Linien liegt ihre große Kraft, assoziativ auf die einzelnen Lebenslagen und –situationen des Betrachters eingehen zu können und ihn darin zu begleiten. Verletzlich fein präsentieren sie sich im Buch (Link zu den weiteren Zeichnungen mit kurzen Impulsen). Es sind lineare Anknüpfungspunkte, die zum Dialog einladen, offene Zeichen, die Freiraum ermöglichen, kraftvolle Impulse, die über den Gottesdienst hinaus bewegen.

Anlässlich der Ausstellung “Alles auf Papier – Monika Bartholomé” in der Akademie Franz Hitze Haus, Münster ist 2013 der Katalog “Monika Bartholomé: Die Fülle des Lebens” mit den Zeichnungen zum Gotteslob und einer hervorragenden Einführung von Stefan Kraus erschienen. Der Katalog kann zum Preis von 7,50 Euro + 4 Euro Versandkosten im Shop des Liturgischen Institutes in Trier bezogen werden.

Mysterium

Auf den ersten Blick könnte man an eine Skizze für die Bühnenausstattung zu einem Mysterienspiel denken: eine tiefe Straßenschlucht öffnet sich zwischen einer hohen, dunklen Hauswand zur Rechten und der Silhouette eines kleineren blauen Hauses zur Linken. Darüber strömen feine weiße Striche wie Nieselregen auf dieses Haus herab, das wohl menschliche Anwesenheit, menschliches Leben andeuten mag.

Zwischen diesen Kulissen dominiert ein leuchtend weißes Objekt, das nach beiden Seiten ausgreift. Trotz seiner vagen Form ist ein Kreuz zu erkennen. Auch wenn es seine Materialität und Schwere verloren hat, lässt es zusammen mit der zackig gezeichneten Gestalt in seinem Innern eine vorausgegangene Kreuzigung oder schwere Leiderfahrung ahnen. Durch den Farbwechsel ist es jedoch zum Symbol von etwas Hellem, Schönen, Sich-mitteilenden geworden. Damit tritt es aus der Dunkelheit hervor und breitet sich schützend über die Menschen und ihren Lebensraum aus.

Zwei Kreisbogen deuten an, dass das am Kreuz Geschehene aus den Wirkungskreisen von zwei unterschiedlichen Interessen heraus entstanden ist. Von unten erhofften die einen den Tod eines unbequemen Zeitgenossen, von oben gab der Unendliche seinen einzigen Sohn als Lösegeld für die Vergehen der Menschen hin, damit sie nicht in der Dunkelheit untergehen, sondern zum Licht und zum Leben gerettet werden.

Können nicht in der helleren blauen und der gelben Fläche unter dem Kreuz nach oben gewandte Menschengestalten gesehen werden? Menschen, die stellvertretend für alle nach Erlösung von ihren Gebundenheiten verlangen? Mit dem Kopf nach hinten strecken sie sich nach Freiheit und Licht aus, nach der Vergebung ihrer Vergehen. – In der goldgelben Flut scheint sie ihnen wie aus einer Wunde des Kreuzleibes zuzufließen: voller Licht, erneuernd, verwandelnd.

So können das Kreuz der Heilsgeschichte und das Leid in jedem Menschenleben ihre spezifische Gestalt und deren harte Konturen und Dunkelheit verlieren. Aber dazu bedarf es des Menschen, der offen ist für diese Wandlung, der das Gute, den Segen, die Gnade, oder wie immer wir es benennen mögen, dieses goldgelb Leuchtende wahrnimmt und aufnimmt.

Göttliche Zuwendung

Solche Bilder sind uns von Mandalas her bekannt. Man kann sie drehen wie man will, sie sind von allen Seiten gleich aufgebaut und haben einen klaren Mittelpunkt. Das ruhige grüne Passepartout, in den vier Ecken mit einem stilisierten Blumenmotiv gehalten, führt den Blick wie durch ein Fenster hindurch auf ein rotierendes Gebilde, das aus zwölf Händen und sie verbindenden Linien besteht.

Die Hände kommen von außen, aus dem blauen Hintergrund, und erinnern dadurch an frühchristliche Malereien, in denen Gott und seine Zuwendung zu den Menschen durch eine aus den Wolken ragende Hand dargestellt wurde. Hier wie dort ist die Handhaltung eine segnende. Hier sind die Umrisse der Hand zudem aus Gold: ein traditionelles Zeichen für Gottes Herrlichkeit, unterstrichen durch die goldgestreiften Ärmel eines roten Festgewandes. Gold kann für Macht und Herrschaft gesehen werden, das Rot für sorgende und bergende Liebe.

Gottes Hände rotieren geradezu um das Geschaffene. Sie sind unaufhörlich in Bewegung: segnend, schöpferisch, behütend. Ist das nicht wohltuend zu sehen, wie alles aus Gott Hervorgegangene auch von ihm umgeben ist und gehalten wird? Wir Menschen dürfen uns zusammen mit allem Geschaffenen in diesem Focus von Gottes Aufmerksamkeit und Handeln wissen.

Doch ist das unsere erlebte Realität ? Ist das nicht eher eine Wunschvorstellung? Persönliches Leid, Krankheit, Armut, Verständigungsschwierigkeiten unter Einzelnen, Völkern und Religionen, Naturkatastrophen und, und, und … Gibt es nicht genug Gründe, an Gottes Allmacht und Liebe zu zweifeln?

„Gott ist Vater, Gott ist gut, gut ist alles, was er tut“, wurde früher den Kindern mit auf den Lebensweg gegeben. Und dann ging das Leben weiter und überrollte diesen wohlgesetzten, gutgemeinten Kinderspruch, denn er widerspricht zunächst der Lebenserfahrung – wenn er nicht von Anfang an eingebettet ist in ein grünes Passepartout der Hoffnung und des Glaubens. Der Hoffnung, dass Einer eine Regie führt, die wir zwar meistens nicht verstehen; des Glaubens, dass es einen Plan gibt, den nur Gott kennt.

Der Künstler stellt uns diese Gedanken in dem fein gezeichneten Gespinst im Kreis der zwölf Hände vor Augen, das aus einer Vielzahl von geometrischen Formen besteht: wohltuenden Bogen und vielerlei eckigen und kantigen Fragmenten, die für sich allein gesehen sinnlos erscheinen. Doch zusammengefasst ergeben sie ein durchdachtes, harmonisches Gebilde von großer Schönheit.

Wenn es gelingt, diesen Plan zu erhoffen, kann diese Hoffnung zu einem „doppelten Boden“ im Leben führen oder zu einem Netz, das im Absturz hält und trägt. Rainer Maria Rilke hat das in seinem Herbstgedicht von den fallenden Blättern so ausgedrückt: „… und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“. Das stärkt den Glauben und lässt die vielen sich kreuzenden Linien gar zu einem bergenden Gewölbe werden, voll unfassbarer Gnade und Fülle.

Lichtgestalt

In leuchtendem Gegensatz zur nachtblauen Horizontale bildet die weiße Lichterscheinung im Bild eine vertikale Achse. An sich ist das Bild eine abstrakte Komposition von helleren und dunkleren Farben. Es ist nichts Konkretes zu erkennen. Selbst die Lichtquelle bleibt unscharf, wie von Nebelfetzen verhüllt. Dennoch erinnern uns die teils fließenden, teils luftigen Farbübergänge unweigerlich an Wolkenbilder und Lichterfahrungen, die jeder von uns schon mit dem Blick zum Himmel machen durfte. Denn da sind solche Farbmalereien keine Seltenheit.

Die kontrastreiche Stimmung dieses Bildes verbinden die meisten wahrscheinlich mit einem Gewitterhimmel. Unheimlich und doch faszinierend schwebt das schwere Dunkelblau nicht nur ganz oben im Bild, sondern wie eine dunkle Gewitterwolke auch über dem Betrachter.

Darunter die mächtige Lichtgestalt, welche dem Druck von oben buchstäblich standhält. Sie lässt sich durch das Dunkle nicht erdrücken, bricht unter ihm nicht zusammen. Ihr Kraftzentrum könnte die hellere Wolke in der oberen Hälfte sein. Weitere fünf Lichtpunkte sind sternförmig um dieses Zentrum angeordnet und tragen zu seiner starken Ausstrahlung bei.

Geheimnisvoll diffus ist in diesem Bild das Licht gegenwärtig. Es ist nicht klar zu bestimmen, ob es von unten oder von oben kommt oder gar aus der lichten Mitte. Doch scheint diese nicht vor den blasseren Partien zu schweben und mehr von vorne als von hinten beleuchtet zu werden?

Jedem wird die Betrachtung dieser Begegnung von Licht und Dunkel etwas anderes offenbaren. Für mich sagt das Bild viel über die Begegnung von Gott und Mensch aus. Kann in der Lichtgestalt nicht ein nach rechts schreitender Mensch gesehen werden? Er ist vom Licht und der Gnade Gottes erfüllt, welche am intensivsten in seiner Seele leuchten und ihn zur Suche nach Gott bewegen, der ihm nahe ist und sich doch in mystischer Dunkelheit allen menschlichen Zugriffen und Vereinnahmungen entzieht.

So finde ich mich wie in einem Spiegel auch im Bild wieder: Als vom Licht Erleuchteter, als Gott Suchender und nach ihm Tastender, als Mensch auf dem Weg zu Ihm, dem unfassbar Großen, zu dem ich als sein Kind berufen bin. Dabei erfahre ich seine Größe nicht als Bedrohung oder Gefahr, sondern als Schutz und Geborgenheit, die mir überall im Leben den notwendigen Raum zur Weiterentwicklung gibt.

Ein Katalog Ausstellung im Dom zu Meißen mit ganzseitigen Abbildungen der Bilder kann bei der Galerie Sybille Nütt (galerie@kunstindresden.de) bezogen werden.

Die Kraft des Höchsten

Wie durch einen Schleier hindurch ist die sitzende Gestalt der Maria zu erkennen (Vorlage: Maria aus der Verkündigungsgruppe vom Alter der Sieben Freuden Mariens im Chor der Abteikirche von Brou, Franchcomté, um 1520). In ein weites Gewand gehüllt scheint sie beim Lesen der Heiligen Schrift gerade innezuhalten und den Kopf nachdenklich nach hinten zu neigen.

Ob das, was im Vordergrund geschieht, Ausdruck ihrer inneren Erfahrung ist? Zwei Dutzend pastos aufgetragene, fast weiße Kreisformen scheinen mit großer Leichtigkeit auf sie herunterzufallen. Sie können als Zeichen der Gnade, als „die Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35) gelesen werden, die auf Maria herabkommt.

Das verhüllende Weiß des Bildes scheint dabei die Unschuld und die Reinheit des Immateriellen zu verkörpern. Insofern mag dieser nebulöse Schleier auch ein Ausdruck der göttlichen Gegenwart sein. Im Buch Exodus (40,34) wird überliefert, dass eine Wolke das Offenbarungszelt in der Wüste verhüllt und die temporäre Wohnstätte des Herrn mit seiner Herrlichkeit erfüllt habe. Ebenso erscheint uns Maria im Bild von einer Wolke verhüllt und lässt an den wunderbaren Moment denken, an dem sie durch die Kraft des Höchsten und von seiner Herrlichkeit erfüllt schwanger wurde. Maria wird so zum neuen Offenbarungszelt, aus dem heraus Gott sein ewiges Wort spricht. Hier klingen die Texte der Kirchenväter an, welche in Maria die neue Bundeslade sahen, die der Welt das neue Gesetz geboren hat: Jesus Christus.

Der Evangelist Johannes (1,14) bringt es mit prägnanten Worten auf den Nenner: „Das Wort ist Fleisch geworden!“ Auf dem lasierend gemalten Motiv der Maria erinnern die pastosen und damit sehr materiellen Kreisformen an die Verwandlung des Wortes zu Fleisch. Räumlich gesehen scheinen diese „materialisierten Worte“ perspektivisch auf Maria zuzufliegen oder von ihr empfangen zu werden.

Wie durch einen Schleier hindurch lässt uns der Künstler ehrfurchtsvoll an diesem einzigartigen Geschehen teilhaben. Die Verwendung einer alten Mariendarstellung sowie die „blasse“ Zeichnung Mariens mögen in die Vergangenheit weisen. Doch die Gnadenfülle, die Maria durch ihr gläubiges Ja-Wort bei Gott ausgelöst hat und die vom Künstler „schwebend“ zwischen Maria und den Betrachter gemalt wurde, fließt weiter und macht auf wunderbare Weise für Menschen Unmögliches möglich (Lk 1,37; 18,27). Damit bezeugt uns der Künstler, dass für ihn der Empfängnis „nichts Vergangenes, sondern im Gegenteil ein ganz gegenwärtiges Geschehen von hoher Präsenz“ innewohnt.