Gnade über Gnade

Überwältigt von der Fülle an lichten Farben und Formen steht man im nördlichen Seitenschiff des Ulmer Münsters staunend vor dem über vierzehn Meter hohen Gnadenfenster. Das Auge sucht die Fülle in immer neuen Konstellationen und gedanklichen Bezügen zu fassen und zu verstehen. Das Glasfenster ist längs durch Zwischenstützen in drei schmale Bänder geteilt. Im mittleren Band fließt wie ein Wasserfall Licht bzw. Wasser durch die verschiedenfarbigen Medaillons nach unten. Lebendig und gegenwärtig ereignet sich dieser Lichtstrom, nicht fern von uns oder in ferner Vergangenheit, sondern hier und jetzt (vgl. 2 Kor 6,2) bricht er durch gebaute Mauern und verdunkelte Lebenszeiten in unser Leben ein. Wie eine Offenbarung vergegenwärtigt die Lichtöffnung die Worte aus dem Paulusbrief an Titus: „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“ (Tit 2,11)

Die Gnade Gottes leuchtet auch in den großen und kleinen Medaillons auf, die das schlanke Fenster in der ganzen Höhe gliedern. Da der Kreis von alters her durch seine endlose und perfekte Form als Symbol für Gott verwendet wurde, ist es möglich, die Medaillons als durch die Gnade Gottes bewirkte Heilsereignisse zu sehen, die für unseren Glauben eine große Bedeutung haben. Am konkretesten wird dieser Ansatz in den unteren zwei Medaillons, in deren Übergang sich eine Lichtgestalt zu erkennen gibt. Die herabfließende Gnade nimmt in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, Menschengestalt an. Mit den erhobenen Armen, die gleichzeitig an die Kreuzigung als auch an die Auferstehung erinnern, ist er als der Kommende dargestellt, als Erlöser von Sünde, Tod und Teufel.

Im untersten Medaillon trifft die Gnade auf die destruktive Macht der Sünde und des Todes. Explosiv wie Sprengstoff löst die Gnade das rote Kreuz als Symbol für alles unheilvolle und tödliche Blutvergießen auf und durchdringt verwandelnd das Violett des Leids und der Schmerzen aller Lebewesen und aller Zeiten. Damit hat der Künstler eindrücklich das kraftvolle Wirken der Gnade visualisiert. Dieser, von starken Kontrasten gezeichnete, unterste Kreis wirkt somit wie eine symbolische Verdichtung zentraler Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses: „Ich glaube an Jesus Christus … gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes“ und „Ich glaube an die Vergebung der Sünden.“ Ab hier beginnen in den Seitenfenstern farbige Kugeln wie Seifenblasen nach oben zu tanzen. Ob sie als kleinere und größere Abbilder der zentralen Heilsereignisse gedeutet werden dürfen?

Damit dieses alles umfassende Heilswerk der Gnade sich ereignen konnte, war die Geburt des Gottessohnes, seine Menschwerdung not-wendig. Das zweite große Medaillon beinhaltet im unteren Teil blau-grüne, darüber goldgelbe Farben und erinnert damit an die Farben des Wassers, an das Grün der Erde und das warme Licht der Sonne. Im roten Rondo leuchtet die Liebe Gottes, „denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16). Als neuer Mensch trat Jesus in unsere Mitte, stets ausgerichtet auf die Güte und Gnade seines Vaters, die durch ihn lichtvoll sichtbar wurde.

Das dritte Medaillon befindet sich in der Mitte des Fensters, so dass ihm eine besondere Bedeutung zukommt. Von allen kleinen Rondos auf dem Mittelband leuchtet das Gelbe am hellsten. Es hat etwas Österliches an sich, das zusammen mit der Farbenfülle rundherum auf dem ganzen Erdkreis freudig das wiedergeschenkte Leben feiert. Durch die Gnade der Auferstehung Jesu steht das Tor zum Himmel für uns im Glauben offen. Aufbauend auf den vorherigen Heilsereignissen fassen die Worte des Apostels Paulus an die Epheser (2,4-9) die Bedeutung von Ostern treffend zusammen: „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“

Das oberste große Medaillon ist farblich vom Rot des Feuers und dem Blau des Wassers geprägt. Es öffnet sich schalenartig nach oben hin zu dem blau-weißen Flügelwesen, welches in sich einen kleinen Kreis mit den gleichen Rottönen trägt. Erinnerungen an die Beschreibung des Pfingstereignisses in Jerusalem werden wach, aber auch an das gnadenreiche Wirken des Heiligen Geistes quer durch die ganze Geschichte Gottes mit den Menschen.

Die Spitze des Gnadenfensters bildet das Maßwerk-Dreieck mit gerundeten Seiten. Es trägt in sich sechs Vierpässe, welche den gelb-rot leuchtenden Dreipass in ihrer Mitte umgeben. Dieser erhält durch die darunterliegenden gelb dominierten Elemente einerseits eine thronartige Basis, andererseits durch die gelben Kreise im Vierpass darüber und darunter eine betonte Vertikale, die sich dann vom obersten kleinen Medaillon ausgehend nach unten fortsetzt. Der zentrale Dreipass wirkt vom Gelb der unendlichen Barmherzigkeit und vom Rot der leidenschaftlichen Liebe geprägt als trinitarisch-mystische Quelle des Fensters. Die sechs Vierpässe umgeben das leicht zu übersehende und doch leuchtende Dreieck in ihrer Mitte wie himmlische Wesen, unten farblich heller und vorwiegend in Weiß, Gelb und Grün, oben dunkler in Blau und Rot.

So lässt das Fenster in der ganzen Höhe die überfließende Liebe Gottes zu uns Menschen erleben. Eine erste gnadenvolle Entäußerung manifestiert sich im obersten gelb-roten Rondo, in dem der Gnadenfluss der göttlichen Zuwendung seinen Anfang nimmt. Im untersten Medaillon vollendet sie ihr Werk in der unverdienten Rechtfertigung des Gläubigen durch die Erlösung von den Sünden durch Christus Jesus. Sie „werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Röm 3,24). So führt die Gnade den geretteten Gläubigen aus der Tiefe in die die Höhe und lässt ihn als Sohn oder Tochter an Gottes Herrlichkeit teilhaben.

Das Glasfenster von Thomas Kuzio verdeutlicht in der größten evangelischen Kirche Deutschlands die zentrale Bedeutung der Gnade im christlichen Leben. Sie ist das immerwährende Angebot Gottes, in sie hinzuspringen wie in einen Fluss, um sich von ihr tragen, treiben und erneuern zu lassen. So visualisiert das Fenster auf großartige Weise das frühchristliche Grußwort am Anfang und am Ende von vielen Briefen an die Gemeinden: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit euch allen!“ (hier z. B. 2 Tess 3,18)

Himmelstor

Das dunkelblaue Oval kündet in seiner weißen Umgebung von einer faszinierenden Kraft. Beide wirken vor dem runden Goldgrund wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Mit Symbolen angedeutet werden Realitäten angesprochen, die bildlich nur schwer oder gar nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Die nachfolgende Betrachtung versteht sich als eine Spurensuche, bei der die einzelnen Bildelemente wahrgenommen, mit bekannten Motiven verknüpft und dann gedeutet werden.

Das zentrale Bildgeschehen wird vom weiß gerahmten, blauen Oval dominiert. Die Übergänge sind unscharf gestaltet. Nach innen folgt ein sehr dunkler Bereich, der von goldenen Stellen aufgelockert wird und zu einem verhalten leuchtenden, blauen, eiförmigen Element führt. Durch die weiße Umrandung kann das Oval als eine vereinfachte Kopfform gesehen werden, die von gelocktem Haar gerahmt unten in einem geteilten Bart endet. Der Kopf schwebt losgelöst und frei im ihn umgebenden golden Kreisrund mit weißen Aufhellungen und kreuzartigen Enden (weitere Ansicht mit anderer Ausleuchtung).

Die einzelnen Bildelemente wecken unterschiedliche Assoziationen. Der Kopf gleicht einem Blick ins All, die weißen Haare erinnern an das Antlitz Christi in Ikonendarstellungen. Der runde Goldgrund steht für die Unendlichkeit und die Herrlichkeit Gottes und bildet gleichzeitig einen Nimbus um den Kopf Christi.

Vom Bildrand her gedeutet vergegenwärtigen die vier Kreuzenden das leidvolle Sterben Jesu. Doch das Kreuz und die es symbolisierende Zeitlichkeit und Endlichkeit sind durch den Kreis in Gottes Ewigkeit überführt worden. Gottes lebendige Gegenwart hinterfängt und trägt Jesus im Tod. Seine weißen Haare wirken wie ein verklärtes Zeichen seines Menschseins und seiner Weisheit, während sich sein Antlitz als Durchgang in die Unendlichkeit des Universums präsentiert. Sein wahres Antlitz (Vera Icon) kann nicht erblickt werden, obwohl der Psalmist betet: „Mein Herz denkt an dich: Suchet mein Angesicht! Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.“ (Ps 27,8). Aber gerade darin wird der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen und zum Suchen von Jesus und seinem Vater aufgefordert. Jesu Wort in seiner Abschiedspredigt wird deutlich: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6)

Die Goldpartikel im dunkelsten Bereich des „Gesichts“ wirken wie Lichtpunkte, die durch das zeichenhafte Antlitz Jesu hindurch den Weg zu den freien Stellen im goldenen Hintergrund finden. Dieser meditative Dialog zwischen dem von Freiräumen durchwirkten Goldgrund und den goldenen Lichtern in der Dunkelheit lädt in Jesu Nachfolge ein. Sein Antlitz ist wie ein Brunnen, in den man eintauchen und sich vertiefen will. „In deine Lieb versenken, will ich mich ganz hinab“ singt ein Liedvers von Friedrich Spee. Er ist die Quelle, aus der man trinken und sich stärken möchte für die Bewältigung der irdischen Herausforderungen. Sein Antlitz ist das Tor zu Gott und zur ewigen Glückseligkeit, in ihm finden alle Frieden. Seelenfrieden.

Bild des unsichtbaren Gottes

Vor einem wellig bewachsenen Hügel des quadratischen Innenbildes steht ein Mensch mit weit ausgebreiteten Armen. Es ist nicht ersichtlich, ob er zum Betrachter hin oder von ihm wegschaut, denn seine Gestalt ist nicht gemalt, sondern ausgespart, so dass er in der Einfachheit und Natürlichkeit des Holzes auftritt. In der Kreuzhaltung erinnert er an Jesus, doch gibt es keine konkret auf ihn hinweisenden traditionellen Attribute.

Zentral positioniert bildet er die vertikale Bildmitte. Anders betrachtet wirkt die Figur wie ein Schlüssel zum Werk hinter ihm, das er wie ein Bild in den Händen hält und oder es gerade an eine Wand hängt. Die nach oben schmaler werdenden, mit Naturpigmenten und Sand gemalten Gras- oder Moosstreifen deuten perspektivisch nicht nur einen Hügel an, ebenso kann durch den gebogenen Horizont auch das Erdenrund in ihm gesehen werden. Letzteres wird durch das Quadrat verstärkt, das symbolisch für unsere sichtbare Welt steht.

Die mittige und das Quadrat sprengende Position lassen in der stehenden Gestalt Christus, den Auferstandenen erkennen. Durch die Aussparung seines Körpers ist er wie abwesend dargestellt, aber mit der klaren Kontur der Silhouette doch greifbar nahe. Die Darstellung erinnert an die Begegnung einiger Jünger mit dem Auferstandenen am See Tiberias. Nach dem wunderbaren Fischfang und dem gemeinsamen Mahl wussten die Jünger plötzlich, dass die Person, die sie so unbegreiflich angerührt hatte, ihr Herr war (vgl. Joh 21,1-14). So mag der Auferstandene wie im Bild dargestellt möglicherweise abwesend erscheinen, aber real-präsent und lebendig ist er durch die Vermittlung des Geistes schon dem, der da glaubt. „Keiner unter den Jüngern wagte ihn zu befragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war.“ (Joh 21, 12) Mit den ausgebreiteten Armen scheint der Auferstandene auch hier zu bekräftigen: Ja, ich bin es!

Erinnert ihr euch, dass ich euch sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. … ihr seht mich, weil ich lebe und auch ihr leben werdet.“ (Joh 14,6.19b)? Jesu Gestalt ist unvoreingenommen und zukunftsoffen. Christus ist eine neue Schöpfung, die Person und der Ort, durch die und an dem neues entstehen kann: neues Leben, Begegnungen, Freude, und vieles mehr. Christus ist der Erstgeborene der neuen Schöpfung, die sich hinter ihm wellenförmig über den Erdball ausbreitet und die Welt neu gestaltend in zartem grün-gelb-gold aufblühen lässt. Als „Bild des unsichtbaren Gottes“ steht er der Schöpfung vor und hat segnend die Hände über sie erhoben.

Paulus bezeugt am Anfang seines Briefes an die Gemeinde in Kolossai: „Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“ (Kol 1,15-20)

Knospenkreuz

Während bei den sogenannten Astkreuzen der Gotik durch die astförmigen Kreuzbalken ein Bezug zum Baum des Lebens hergestellt wurde, verarbeitet dieses moderne Kreuz den Begriff gleichsam wörtlich: Der ganze Korpus von Jesus ist aus einem dichten Gewirr feiner Äste mit kleinen Knospen gebildet, die von Schnüren ergänzt und zusammengehalten werden. Seine Knie sind angewinkelt, seine Arme langgestreckt durch das Hängen am Holz. Eine Schnur mit Ast wächst wie ein Verbindungskabel aus dem Kopf: Ein direkter Draht nach oben? Oder eher das Tau eines Ankers in der Tiefe?

Hans Thomann hat in ähnlicher Größe und Art auch mit Stacheldraht oder Nato-Draht Kreuzfiguren hergestellt und mit dieser Serie einen eigenen „Kreuzweg“ geschaffen. Schon die Titel der Reihe lassen mystische Tiefe und Wandlung erahnen:
JESUS – Schmerz.ER.tragen
JESUS – Schmerz.Träger
JESUS – Schmerz.Wandl.ER
JESUS – hinter dem Schmerz

In der Figur „JESUS – hinter dem Schmerz“ sind die mörderischen Dornen und messerscharfen Widerhaken zu Knospen geworden. Die kleinen Kugeln stehen ab, greifen sich unbequem an, lassen aber neu begreifen, dass Tod und Leben in Christus ganz nahe beieinanderliegen und sich durchwirken. Sie machen deutlich, dass bereits in Christi Tod die vielfältigen Knospen des Lebens gegenwärtig sind und bereit aufzubrechen. In den scheinbar toten Ästen pulsiert schon das Leben, das mit den heranwachsenden Knospen und den sich daraus entfaltenden Blüten der ganzen Welt seine überwältigende Kraft zeigen will. Hinter dem Schmerz vergegenwärtigt die Vergangenheit als auch die Zukunft Schmerz und Erlösung zugleich. Die Figur lässt die Bedeutung des Schmerzes spüren und wendet den Blick auf das gerade dadurch Vollbrachte und Vollendete. So wird das „Knospenkreuz“ zum Träger der Hoffnung und der Zuversicht, wie sie auch im Gottesknechtslied vom Propheten Jesaja besungen wird:

„Wie sich viele über dich entsetzt haben – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen …, Vor seinen [des Herrn] Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. … Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht.“ (Jesaja 52,14; 53,2-5.10a-c.11a)

ZuWendung

Im ersten Bild dieses Stationenweges fordert eine unzählbar große Menschenmenge mit aggressiv erhobenen Armen vehement die Kreuzigung Jesu. Es ist die Macht der Masse und die Ohnmacht des einzelnen Entscheidungsträgers, dass Jesus verurteilt und gekreuzigt wird. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld, während die schreiende und tobende Menschenmenge Jesus vor sich her in den Tod am Kreuz treibt.

Unterwegs ereignen sich zwischen Jesus und vereinzelten Menschen symbolträchtige Begegnungen: Von der Totale des Getümmels auf der Straße zoomt sich der Bildausschnitt in der vierten Station zu einer Nahaufnahme zweier Köpfe. Alle Farbe ist nach außen gewichen. Der farbige Rahmen bildet einen Schutzraum für die persönliche Begegnung. Durch die einfarbig blau gezeichnete Ausführung und die strahlenförmig angeordneten, feinen Striche erhalten die Gesichter und damit auch die Begegnung etwas Tierhaftes, fundamental Einschneidendes und in der Bedeutung weit über die Einzelbegegnung Hinausweisendes. Das Bild lässt offen, um wen es sich in der Begegnung handelt. In der Volksmenge sind Jesus auch Frauen auf dem letzten Weg gefolgt. Jesus schenkt ihrem Klagen und Weinen Gehör und wendet sich ihnen zu mit den Worten „weint nicht über mich; weint vielmehr über euch und eure Kinder! (vgl. Lk 23,28f).

Auch Maria, seine Mutter, ist Jesus auf dem Weg durch die Gassen gefolgt und könnte aus der anonymen Menge herausgetreten sein, um Jesus ein letztes Mal auf Augenhöhe zu sprechen und zu sehen. Ihr ganzes Leben fokussiert und verdichtet sich in diesem Augenblick. Aber der eindringlich suchende Blick von Maria scheint auch zu fragen: „Warum machst Du das?“ – Die stille Antwort Jesu verweist einmal mehr auf den Willen seines Vaters: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, war mein Gefallen und deine Weisung ist in meinem Innern.“ (Ps 40,9).

Die Begegnung von Veronika mit dem leidenden Jesus ist eine weitere Lesemöglichkeit. Doch bildet sich, wenn man das Bild als „hölzernes Tuch sieht“, nicht allein das Antlitz Jesu darauf ab wie auf dem Schweißtuch der Veronika, sondern es zeigt Jesus als den seinem Nächsten Zugewandten. Er schenkt seinem Gegenüber seine ganze Aufmerksamkeit und weitet gleichzeitig den Blick über die vordergründigen Probleme hinaus und zum Reich Gottes hin.

So steht das Bild für die unzähligen Geschichten, in denen Jesus den Menschen begegnet, sie ihn suchen und finden. Damals wie heute. Das Stationen-Bild des sich den Menschen zuwendenden Jesus ist eine Einladung, uns auf unserer Suche nach dem Sinn des Lebens auf die Suche nach der Begegnung mit Jesus zu machen. Auf dass unsere Lebensfrage von ihm eine Antwort erhalte in seiner das Leben erfüllenden und durch alle Höhen und Tiefen hinweg stärkenden Zuwendung: Du bist nicht allein! Ich bin an deiner Seite allezeit mit dir!

Heute wie damals

Übergroß strahlt der vielfarbige Stern in dem Rundbogen des flachen Schreins aus Holz. Er hängt dominant über dem heiligen Geschehen, das Hochhaus hinter sich halb verdeckend und überschattend. Es ist Nacht. Alle Fenster sind dunkel und grauschwarz, so dass darin nur schattenhaft Menschen, Katzen oder Pflanzen zu erkennen sind. Das Fenster am linken Rand bildet ein Ausrufezeichen über der erhöhten, aber verschlossen Türe. Neben dieser weist ein Pfeil nach rechts zu einer ebenerdigen Tür, die geöffnet ist und symbolisch über die Treppe in das Untergeschoss des Hauses führt. Weiter unten weist ein zweiter Pfeil wie bei Fluchtweghinweisen nach links auf einen kleinen Rundbogen. Ihn deutend steht in kyrillischer Schrift darüber „Versteck“ oder „Zufluchtsraum“ im Falle eines Angriffs oder Krieges.

Der Stern ist in den Farben der Personen unter ihm gemalt und bildet dadurch mit ihnen eine Einheit. Maria und der mittlere König tragen die Rottöne der kreuzförmigen Sternachsen, Josef und der König auf der Treppe blaue Gewänder, die mit dem blauen Ring um die Mitte des Sterns harmonieren. Die hellweiße Gewandfarbe des Engels und des rechten Königs findet sich nicht im Stern, sondern im eingewickelten Jesuskind wieder, dem Licht der Welt. Die Heiligenscheine der sieben Personen erscheinen wie Satelliten der goldenen Sternmitte.

Die harmonische Feierlichkeit der modernen Ikone lässt beinahe vergessen, dass sich die Geburt Jesu in der Abgeschiedenheit und Dunkelheit eines Luftschutzkellers ereignet. Andächtig, aber auch sorgenvoll stehen Maria und Josef an der Krippe mit dem Jesuskind, das in seiner Ei-Form den Ursprung des Lebens verkörpert. Die Katze daneben ist froh, dass sie in ihrem Katzenkorb in Sicherheit gebracht wurde und dabei sein darf. Sie trägt einen kleinen, fischförmigen Anhänger am Halsband, dessen ovaler Stein die gleiche Farbe und Form wie das Gesicht des Jesuskindes hat. Ein Verweis auf das griechische Wort Ichtys – dass das neugeborene Kind Jesus auch ihr Retter ist und die Tiere in das Heilsgeschehen mit hineingenommen sind?

Auch die drei Weisen haben mit ihren Gaben den Weg zur Krippe gefunden. Sie sind dem großen Stern gefolgt, sind mit ihm in die Tiefen der Erde hinabgestiegen, um in Jesus das wahre Licht der Welt zu entdecken und ihm zu begegnen. Die auffälligen, blauen Schuhe, die alle Akteure tragen, mögen symbolisch für den Himmel stehen, der sie trägt und führt. Einige stehen mit nachdenklich an den Kopf gelegter Hand an der Krippe, doch alle – bei Maria ist es Jesus selbst – haben etwas für den Gottessohn dabei: Josef einen Apfel als Symbol, dass er ihn nähren wird; die drei Könige Gold, Weihrauch und Myrrhe; der Engel verzaubert die Nacht mit seiner Schalmei.

Die dreidimensionale Ikone erinnert nicht nur inhaltlich an den andauernden Krieg in der Ukraine, an die vielen Vertriebenen, Flüchtigen, Heimatlosen oder nur unter schwierigsten Bedingungen Überlebenden. Sie ist wie eine Ikonostase für die Reise konstruiert, die in Einzelteilen verpackt und mitgenommen werden kann. Die sorgsam hergestellten Schlitz- und Zapfenverbindungen verdeutlichen, dass sich in der Geburt Jesu alles auf wundersame Weise gefügt und zusammengefunden hat. Jesu Geburt im Keller eines einfachen Mehrfamilienhauses vergegenwärtigt Gottes Kommen und seine bleibende Gegenwart unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Gott lässt uns nicht allein. Er ist mit uns unterwegs. Er teilt unsere Armut, Ängste und Bedrohungen. Gott möchte durch seine Menschwerdung auf wunderbare Art und Weise Heil und Frieden in unser Leben bringen. Damals wie heute.

 

Die Krippe von Olya Kravchenko ist bis zum 26. Januar 2025 in der 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung “Heller Stern” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Gesucht: Retter und Erlöser

Wäre da nicht der mächtige Stern mit seinem langen Schweif, würde man die Szene in dem tristen Gefängnishof wahrscheinlich nicht mit der Geburt Jesu in Verbindung bringen, denn es ist nirgends ein Neugeborenes zu sehen. Vielmehr muss Jesus gesucht und gefunden werden, wie es das englische Wort WANTED über der Wandzeichnung des erwachsenen Jesus andeutet.

Aus der Sehnsucht nach Jesus ist im Gespräch mit Gefangenen, den Seelsorgern und dem Künstler diese Kontrast-Krippe entstanden. Es war ihnen wichtig, dass Jesus auch zu ihnen kommt, mitten im Gefängnisalltag, fast unbemerkt. So sitzt Jesus denn als junger Gefangener wartend auf der kargen Pritsche – wie viele von ihnen. Doch seine überkreuzten Arme und Beine deuten bereits seinen Tod am Kreuz an. Er selbst scheint von oben her gekommen zu sein, da seine Füße als einzige der Figuren keine Bodenhaftung haben. Frontal schaut er uns Betrachter an. Was will er uns wohl sagen?

Drei Frauen und zwei Männer sind heute zu Besuch bei ihm. Sie sind ihm zugewandt und ihre Hände weisen auf ihn als Hauptperson hin. Maria trägt mit ihren Blue-Jeans und der roten Kitteljacke ihre traditionellen Farben. Darunter ein weißes Shirt, das auf ihre Reinheit und Unbeflecktheit deutet. Ihr gegenüber steht nicht Josef, sondern ein älterer Mann. Denn wenn die Eltern fehlen, sind es oft die Großeltern, die weiter zu den Jugendlichen halten und nicht selten die Elternrolle übernehmen. Auch die anderen drei Besucher sind anders als die drei Könige besetzt, auch wenn die Frau im knallgrünen Mantel eine Königskrone trägt. Sie verkörpert die Hoffnung und den Sieg über die gegenwärtigen Leiden. Ihr gegenüber verweist eine aufrecht und streng stehende Anwältin mit dem roten Gesetzbuch auf Rechte und Pflichten, die einzuhalten sind, um wieder in die Freiheit zurückkehren zu können. Der dritte Besucher macht Jesus in der Gestalt eines Wärters seine Aufwartung. Er trägt ein Funkgerät, um jederzeit Hilfe rufen zu können, Verstärkung, wenn Gefahr im Verzug ist. Hinter seiner grau getönten Brille und in der Dienstkleidung verschwindet er in der Anonymität eines Staatsdieners. Er sieht nichts, aber er hört offenbar. Könnte das Funkgerät trotz allem auch für die Kommunikation mit Gott stehen?

Aus dem dunklen Zellentrakt eilt mit großen Schritten ein beflügelter Mann in den lichten Innenhof. Seine beige Latzhose beschreibt ihn als Handwerker, doch seine Flügel weisen ihn als Boten Gottes aus. Die coole, schwarze Sonnenbrille lässt ihn wie einen Blinden daherkommen, der von einer inneren Kraft erfüllt dem Betrachter mit lauter Stimme eine frohe und befreiende Nachricht verkündet. Doch niemand scheint dem hippen Himmelsstürmer Beachtung zu schenken. Nur einer der drei Kartenspieler schaut staunend auf das unglaubliche Geschehen, so dass seine linke Hand herunterhängt und ein Teil seiner Karten für seine beiden Mitspieler sichtbar wird. Trotzdem hängen ihre Blicke gebannt an seinem erstaunten Gesichtsausdruck, der den suchenden Betrachter über den Engel wieder zur Hauptperson zurückführt.

WANTED – gesucht, ersehnt, erwartet wird der Retter und Erlöser, der mit dem Einsatz seines Lebens und seines Blutes – die rot verschmierten Wände deuten es an – alle Schuld sühnt und Gefangene befreit. Könnte es sein, dass der Engel uns zuruft: „Komm! Komm zu uns! Raus aus den immer gleichen Konventionen deines Weihnachtsfestes. Hier, am Rande der Gesellschaft, ganz unten, wo Jesus auch geboren wurde, da kannst Du Weihnachten ganz neu und anders erleben.“

Zum Entstehungsprozess der Gefängniskrippe aus dem Ausstellungskatalog: „Ist das überhaupt eine Krippe? Da gibt es keinen Stall, sondern eine Zelle mit einer schmalen Pritsche, einem vergitterten Fenster und einem Fernseher an der Wand. Auch die Heilige Familie fehlt; stattdessen sitzt ein junger Gefangener zusammengesunken auf dem Bett, daneben stehen eine Mutter und ein Großvater als Besuch. „Auf den ersten Blick war ich erschrocken“, erzählt ein Gefangener. „Aber je mehr ich geschaut habe, desto mehr wurde mir klar: Jou, das sind wir. Das ist mitten im Leben – und nicht die heile Welt.“ „Wir wollten die Lebensrealität der Gefangenen hineinbringen in die Krippe“, erklärt Gefängnisseelsorger Michael King. „Darum haben wir Inhaftierte gefragt: Was hat die Geburt Jesu eigentlich mit uns im Gefängnis zu tun?“ Michael King und sein Kollege Stefan Thünemann waren es, die den Künstler Rudi Bannwarth eingeladen haben, gemeinsam mit Gefangenen eine Knastkrippe zu gestalten. Im Gespräch entstanden ganz spezielle Gedankenverbindungen zum traditionellen Krippenpersonal: Maria? Das ist die Mutter, die sich weiter um ihren Jungen sorgt – ein hochsensibles Thema für die Gefangenen, wie Stefan Thünemann erklärt. Beleidigungen der Mutter gehören denn auch zu den hochexplosiven Situationen im Knast. „Da weiß man, dass es am nächsten Tag richtig Stress gibt“, erklärt W., ein weiterer jugendlicher Gefangener. Was ist mit Josef? Der wird zum Großvater – denn die Väter fehlen oft, und es sind die Großeltern, die weiter zu den Jugendlichen halten und nicht selten die Elternrolle übernehmen. Der Verkündigungsengel? Ein cooler Typ, wie es sie haufenweise gibt im Gefängnis. Und das Jesuskind? Das blieb lange offen. Schließlich wurde es ein jugendlicher Gefangener – ein Mensch an einem dunklen, unangenehmen Ort. Geburt Jesu – das bedeutet, Gott kommt runter vom Himmel, auch dahin, wo es nicht gut ist. Kann ich ihm also auch im Knast begegnen?“ (Michael King in „Heller Stern“ – 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung, 2024, S. 21)

 

Die Krippe von Rudi Bannwarth ist bis zum 26. Januar 2025 in der 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung “Heller Stern” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Heiliger Berg

Mächtig erhebt sich die zweieinhalb Meter hohe Bildskulptur, bei der sich faltenreicher Stoff zu einem dreieckigen Berg auftürmt. Ein weiteres Tuch liegt oben auf, so dass der Ursprung der sich strahlenförmig nach unten weitenden Falten nicht sichtbar ist. Vor dem großen Faltenwurf liegt ein drittes Tuch am Boden.

Die üppigen Falten scheinen etwas zu verbergen, ebenso wie das textile Gewebe selbst oder das angehäufte Material. Schillernd wird ein Geheimnis angedeutet, die nackte Wahrheit mit einem Kleid bedeckt, es umhüllend und ihm eine äußere Gestalt gebend, ohne etwas von seinem inneren Wesen preiszugeben.

Und dennoch: Etwas Banales wird nicht verhüllt, geschützt oder mit kostbaren Materialien umgeben. Aber für die Auf-Bewahrung des Heiligen werden keine Kosten gescheut, um ihm eine angemessene Wohnstatt zu geben, einen Aufenthaltsort, der von seiner Größe und Herrlichkeit erzählt. Übermenschlich groß wirkt das in einem Dreieck herabfallende Tuch, das trotz seiner Abstraktheit fast menschlich gegenübertritt. Es verbirgt etwas Größeres als wir Menschen sind und die dreieckige Silhouette steht für das Geistige überhaupt. Kostbare Materialien wie Blattgold, Weißsilber und Platin auf einer Marmor- und Alabastergrundierung veredeln die Bildskulptur äußerlich zu einem Tabernakel des Heiligen und Göttlichen.

Der dreieckige Faltenwurf erinnert auch an weite, stark gefaltete Röcke von Frauen und lässt daher zusammen mit dem aufliegenden Tuch an Pietàdarstellungen denken, bei denen der Leichnam Jesu auf dem Schoß Mariens liegt. Die roten Farbstellen im unteren Bereich vermögen seine Passion anzudeuten, sein Leiden, seinen Schmerz, sein vergossenes Blut. Gleichzeitig erzählt die Skulptur unter diesem Aspekt betrachtet von der Größe Mariens, von ihrer Stärke. Der Faltenwurf wirkt wie ein Zelt, in dem der Ewige temporär auf Erden wohnt (vgl. Offenbarungszelt, Ex 33,7-20; Num 12,4-6), ein vorübergehender Schutzraum, wie nur Frauen ihn während der Schwangerschaft zu geben vermögen.

Insofern öffnet die Skulptur einen weiten Assoziationsraum, in dem das Transzendente und Heilige in einer kostbaren, aber dennoch vergänglichen irdischen Wohnung Platz nimmt als auch Jesus andeutet von seiner Empfängnis bis zu seinem letzten Ruhen im Schosse Mariens. Das Velum, wie die Künstlerin die Skulptur nennt, ist so nicht nur verbergender Schleier oder prachtvolle Draperie, sondern auch ein offenbarendes Kommunikationsobjekt, durch das der interessierte Betrachter viel über den Unsichtbaren erfahren und mit ihm ins Gespräch kommen kann. Eine spirituelle Perspektive, die auch das vor der Skulptur liegende Stück Tuch, das unsere Einsamkeit, Verlorenheit und Bedürftigkeit verkörpern mag, in die Skulptur aufnimmt und uns das Erhabene als auch das Erhebende des Heiligen erleben lässt.

Mein Auge schaut den Berg hinan, dort kommt mir Hilfe her;
von Gott wird mir die Hilfe nahn, der Land erschuf und Meer.
Getrost! dein Fuß geht nimmer fehl, dein Hüter kennt nicht Ruh;
nicht schließt dein Wächter, Israel, sein Aug im Schlafe zu.
Der Herr, dein Schutz und Schatten, hält an deiner Rechten Wacht,
dass tags die Sonne dich nicht quält und nicht der Mond bei Nacht.
Gott lässt kein Übel dir geschehn, dein Leben ist geweiht.
Er schützt dein Kommen und dein Gehn jetzt und in Ewigkeit.

(Franz A. Herzog nach Ps 121; Kath. Gesangsbuch der Schweiz Nr. 550)

 

Die Skulptur wird vom 23. März bis 22. April 2025 in der reformierten Kirche Therwil (BL/Schweiz) ausgestellt sein.

segensreich

Jesus steht als Kleinkind auf dem Schoß seiner Mutter. Von ihr gehalten kann er sich aufrecht und mit weit ausgebreiteten Armen dem Betrachter zeigen. Sein Gewand ist weiß, doch seitlich von den ihn und seine Mutter umgebenden Rosen rot eingefärbt. Die Rosenfülle in diesem lebensfrohen Bild deutet ihre übergroße Liebe an, die rote Farbe verweist aber auch auf das am Kreuz verlorene Blut und Leben. Das Kreuz und der Tod sind hintergründig im Bild gegenwärtig, doch durch seine aufrechte Haltung und das im angedeuteten Heiligenschein leuchtende Gelb stehen seine Auferweckung von den Toten und seine Verherrlichung nach der Heimkehr zum Vater im Vordergrund.

Maria ist in mystischer Zurückhaltung als Quelle des Lebens und des Glaubens dargestellt. Ihre Gestalt tritt in der blau-grünen Ausarbeitung hinter Jesus zurück. Ihr Torso ist jedoch lichterfüllt hervorgehoben als Quelle eines Glaubensstroms, der sich über ihren rechten Oberschenkel schwungvoll nach unten ergießt und dort neues Wachstum ermöglicht. Mit ihrer sitzenden Haltung und Jesus auf dem Schoß tragend bildet Maria die sogenannte „Sedes sapientia“ – den Stuhl der Weisheit. Gleichzeitig weist ihr die Mondsichel unter ihren Füßen auch den Platz der apokalyptischen Frau (Offb 12,1) zu, die ihr Kind dank Gottes Hilfe vor Satan retten konnte.

Still tönt aus dem Bild die Botschaft, die nach diesem Ereignis im Himmel zu hören war: „Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten; denn gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte. Sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und durch ihr Wort und ihr Zeugnis. Sie hielten ihr Leben nicht fest, bis hinein in den Tod. Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen.“ (Offb 12,10-12)

In der Gottesmutter von Oberschönenfeld klingt wie in den meisten religiösen Arbeiten von Erich Schickling die ganze Heilsgeschichte an. Das biblische Wort ist durch den Künstler Bild geworden. Er lässt die Frohe Botschaft in starken Farben durch das Hinterglasbild dem Betrachter entgegenleuchten und diesen spüren, dass Jesus das Licht und der Retter der Welt ist. Die Darstellung der Gottesmutter ist eine genial verdichtete Momentaufnahme, die kunsthistorisch den berühmten Madonnen im Rosenhaag von Stefan Lochner oder Martin Schongauerin Referenz erweist und doch als eines seiner Schlüsselwerke ganz eigene Wege geht. Nicht Maria steht im Mittelpunkt des Bildes, sondern Jesus, der Gottessohn. In der Art und Weise wie Maria ihren Sohn stützt, weist sie auf ihn hin, als wollte sie wie Gott sagen: „Das ist mein geliebter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.“ (vgl. Mt 17,5). Dabei erfährt ihre linke, grüne Hand (der Hoffnung) in der rechten Hand ihres Sohnes eine auffallende Wiederholung und Fortsetzung. Einen Drittel größer als die linke Hand gemalt, lässt sie an die Taten Gottes denken, die er mit starker Hand vollbracht hat. Die rechte Hand ist – auch ohne entsprechenden Gestus – die Segenshand. Jesus umarmt mit seinen ausgebreiteten Armen die ganze Welt, gleichzeitig segnet er freudestrahlend alle, die zu ihm und zum Vater kommen. Seien es die Kinder, die Mühseligen und Beladenen (vgl. Mt 11,28) oder auch die Hungernden und Dürstenden. Ihnen allen schenkt Jesus die Freude: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ (Joh 6,35)


Zum 100. Geburtstag  ist ein zauberhafter Bildband zu seinem Leben und Wirken erschienen, den ich sehr empfehlen kann: 

Erich Schickling 1924–2012. Werke – Wirken – Licht, Erich-Schickling-Stiftung (Hrsg.), Kunstverlag Josef Fink, 2024, 240 Seiten, 275 Abb., Hardcover 23,5 x 25 cm, 39 Euro, ISBN 978-3-95976-469-8
Rezension

Zwischen Jammertal und himmlischer Aussicht

Vertraute Objekte schweben in einer raumlosen Weite, die gedanklich über die Wolken oder in Traumwelten entführt. Bis auf den zentralen Stuhl sind sie alle schattenlos und verweisen damit auf geistig-seelische Räume unserer Gedanken.

Zwei weiße Rahmen suggerieren eine Wandfläche, doch öffnen sie vielmehr wie zwei Augen Ausblicke und Rückblicke. Sie regen zur aufmerksamen Betrachtung der Außen- und Innenwelt an, der sorgfältigen Unterscheidung zwischen Realität und Traum, Erinnerung und Vorstellung. Das linke Rechteck ist als Kippfenster gestaltet und ermöglicht mit dem Baum und dem Horizont einen Blick in die reale Welt mit ihrem Wachsen, Blühen und Vergehen. Der Ausblick zeigt eine rosarote Welt, die doch vom Kampf um die Existenz und um Freiheit gezeichnet ist.

Das Rechteck am anderen Bildrand ist als Rahmen gemalt. Das Bild zeigt den gleichen Hintergrund wie die Umgebung, allerdings etwas heller. Der Hund und das Metallgeländer darüber ragen in das Bild hinein, während das Mädchen als drittes Bildelement ihm nach oben entschwebt. Mit dem Angeschnittenen oder Fragmentarischen wird ein Kommen und Gehen symbolisiert und Vergänglichkeit thematisiert. Nichts bleibt für immer.

Der leere Stuhl in der Mitte lädt ein, sich darauf zu setzen, innezuhalten und das Leben zu betrachten: sich selbst und sein Umfeld, die Vergangenheit und die Gegenwart, die Licht- und die Schattenseiten des Lebens. Im Licht, das von hinten durch die rosaroten Wolken fällt, werden die vielen Durchkreuzungen sichtbar und Beleuchtungs- oder Betrachtungsweisen bewusst gemacht. Die bunte Erinnerungsbox darunter lädt ihrerseits ein, die gesammelten Erlebnisse liebevoll in ihr abzulegen, um Freiheit für Neues zu gewinnen: federleicht in neue Sphären zu entschweben oder einen neuen Begleiter im Leben zuzulassen, wie das Bild daneben suggeriert.

Der auf einer Schattenkonstruktion stehende Stuhl wirkt instabil wie das Leben. So könnte er ein Anlass sein, über die Grundlagen des eigenen Lebens zu reflektieren und zu überlegen: Was gibt mir Halt? Auf welchem Boden stehe ich?

Christlich-theologisch möchte man dem sich Fragenden, Sinnenden und Suchenden die Empfehlung Jesu mit auf den Weg geben, ihm, Jesus, zu vertrauen und seinem Wort zu folgen. Dann sei sein Haus auf festen Fels und eben nicht auf beweglichen Sand gebaut und könne allen Stürmen des Lebens standhalten (vgl. Mt 7,24-27). Der Apostel Paulus gibt seiner Glaubens- und Lebensbasis im Brief an die Römer Ausdruck: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38-39) Paulus will uns damit sagen, dass in der Vergänglichkeit unseres Erdendaseins, in der Instabilität aller Beziehungen durch das ständige Werden und Vergehen, Kommen und Gehen nur eine höhere Macht, Halt und Lebensmut geben kann: die Liebe Gottes. Die Liebe Gottes ist größer als alle Mächte und Gewalten dieser Schöpfung, sie steht über der Zeit und gibt uns Leben in Ewigkeit.

Ins Zeitliche geboren

Das Wunder der Geburt geschieht in der liebenden Zuneigung der Eltern. Sie bilden in ihrer knienden und demütig sich vor dem Kind verneigenden Haltung eine bergende Krippe und ein beschützendes Haus. Der Freiraum zwischen Mutter und Vater ist des Kindes erster Lebensraum in der neuen Welt. Er erscheint als grauer Alltag. Die kurzlebige Tageszeitung als Hintergrund verortet die Geburt an einem bestimmten Tag und in der Armut der Obdachlosen, die Zeitungen als Isolation auf den Boden legen oder sich damit zudecken. Nur die Eltern können die lebensnotwendige Wärme schenken, die das Kind braucht.

Die drei Personen sind hauptsächlich durch die schwarzen, skizzenhaften Konturen definiert. Die sparsam verwendeten Farben deuten mit den braunen Farbtönen links Josef an, die rötlichen Farbspuren verweisen auf Maria und das lichte Gelb lässt das Göttliche im Kind aufleuchten. Jesus ist auf Zeitungen gebettet und in sie gewickelt.

Der Glanz der Heiligen Nacht entfaltet sich um das traute Paar herum. Die gelben Lichtblitze erhellen den Himmel und lassen gleichzeitig an die Engel der himmlischen Chöre denken. Am Boden verdichtet sich das himmlische Licht mit dem irdischen Stroh zu einer wahren Lichtflut, die warm und froh die Kunde der Geburt Gottes über die ganze Erde verbreitet.

Nun sind es nicht die Zeitungen, welche die Nachricht in alle Welt hinaustragen, sondern das Licht selbst, das im Denken, Sprechen und Handeln der Menschen vom Gottessohn kündet. Denn das Kind ist nicht arm, sondern reich an Liebe und Macht, um in allen Menschen den Glauben an Gott zu entzünden und in der Liebe zueinander zum Brennen zu bringen.

Geheimnisvolles Zusammenspiel

Rätselhaft gibt sich die Assemblage aus altem Holz, aufgesetzten Metallteilen und blauem Glas. Die Arbeit aus Fundstücken lebt von Gegensätzen wie rund – eckig, oben – unten, außen – innen, geschlossen – offen, aber auch durch Dreiklänge wie Metall – Holz – Glas oder die drei zentralen Rundformen aus verrostetem Eisenblech.

Bei der Annäherung an das Rätsel bildet die gestemmte Holztür die Grundlage und den Rahmen. Sie formt das rechteckige Pendant zu den drei Kreisformen im oberen Drittel. Im Zusammenspiel erscheinen sie wie ein Haus, bei dem die drei Metallteile das Dach bilden und sich vertraute Elemente wie die Öffnung oder der blaue Glasstein in der Türfüllung wiederfinden. Zwei sich gegenüberliegende flache Bogen betonen die sich nach unten öffnende Bewegung und formen gleichzeitig einen geschützten Innenraum.

Jedes einzelne Element des Werkes ist gleichsam energetisch aufgeladen mit seinem sinnlich-physischen Dasein und seiner Geschichte und weist doch im Zusammenhang darüber hinaus. Die drei Kreiselemente vermögen in ihrer runden Vollkommenheit die Unendlichkeit und die Dreifaltigkeit Gottes anzudeuten. Darunter findet sich in der rechteckigen Tür als Symbol für die Erde als viertes Kreiselement ein rundes Loch, das kreuzförmig mit Flacheisen versperrt wurde und deshalb an den Kreuzestod Jesu erinnert. So wie dieses Loch mit der Öffnung ganz oben korrespondiert, stehen die beiden blauen Glasstücke miteinander im Dialog. Während das obere im Kreis unzugänglich fern wirkt, erscheint das größere, herzförmige Glas näher und durch die offenen seitlichen Bogenformen greifbarer. Senkrecht von oben nach unten betrachtet thematisiert das Werk Entäußerung, Niederkunft, Gestaltwerdung im Herzen der Schöpfung und insbesondere des Menschen.

Denn die Assemblage kann auch als vereinfacht dargestellter menschlicher Oberkörper gelesen werden: Die oberste Kreisform als Kopf, die anderen beiden als Schulterpartie, die knochenartigen hellen Bogen als Rippen des Brustkorbs und gleichzeitig als bewahrende Arme oder große Hände vor dem rechteckigen Oberkörper. Bereits 2008 hat Jörgen Habedank eine ähnliche Assemblage geschaffen, die er „Heilige Umarmung der Welt“ genannt hat. Dieses Umarmende, Beschützende, Geborgenheit und Lebensraum Schenkende kulminiert in dem blauen Herz. Die Beleuchtung intensiviert seine Strahlkraft und lässt es noch lebendiger wirken.

In der Mitte der beiden „Rippenbogen“, die auch als offenbarende und verherrlichende Mandorla oder als symbolische Krippe gesehen werden können, gewinnt das himmelblaue Herz eine besondere Bedeutung: In seiner blauen Farbe schwingt die Symbolik des Saphirs mit, der als Edelstein mit der stärksten Energie gilt und für Reichtum und Weisheit steht. In ihm leuchtet die Weite des Himmels und die Tiefe der Ozeane, geheimnisvoll verborgen auch der Gottessohn.

So verwandeln sich die weggeworfenen Fundstücke durch den Künstler in Objets trouvés und erhalten im Zusammenspiel der Assemblage eine weitere Bedeutung und neues Leben: Die Geburt des Gottessohnes in der Welt und insbesondere in den Menschenherzen andeutend.

 

Die Assemblage war Teil der 82. Telgter Krippenausstellung „Mittendrin“ im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte. Die Ausstellung war mit über 120 zeitgenössischen Ausstellungsstücken bis zum 22. Januar 2023 zu sehen.

Weitere Assemblagen des Künstlers

Die Antwort zur Frage

In einer sternförmigen Glasflasche schwebt mittig ein kleiner Schlüssel. Er hängt an einem feinen Faden am Korkpfropfen, der die Flasche verschließt. Die einfache Kombination regt zu vielfältigen Fragen an.

Wieso wurde der Schlüssel in diesen gläsernen Safe gehängt? Er ist wie ein Schaustück sichtbar und wird gleichzeitig hinter Glas unberührbar weggesperrt. Wozu ein Schlüssel und welches Schloss vermag er aufzusperren? Wer darf ihn aus der Flasche nehmen, um damit welche Tür zu welchem Raum zu öffnen? Auf welche Fragen wird er eine Antwort geben?

Die Sternform der Flasche lässt uns an dunkle Tages- und Jahreszeiten und vielleicht auch an die Advents- und Weihnachtszeit denken. Der Stern führte die drei Magier aus dem Osten zum menschgewordenen Gottessohn. Er weckte die Sehnsucht der drei Männer nach dem lebendigen Gott und offenbarte ihnen ein neugeborenes Kind.

Kann man den Schlüssel als Symbol für Jesus sehen und den Stern gleichsam als seine Krippe oder sogar als lichten Christusträger? Auch wenn der Glasstern nicht leuchtet, so verweist er doch auf eine vom Licht durchflutete, immaterielle Herkunft und der Schlüssel auf eine ihm innewohnende materielle, in Jesus menschgewordene Zukunft. Ist unser Herz die Antwort auf Seine Suche nach einer Herberge, so wie Angelus Silesius es auf den Punkt gebracht hat: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren“? Soll das Herz durch IHN wie ein Stern leuchten – weil ER der Schlüssel zu Gott, zur Erkenntnis, zum Glück, zum Seelenfrieden, zur Freude, zur Freiheit und vielem anderem Lebenswichtigem ist?

Fragen sind die Triebfedern der Suchenden: Die Leute haben Johannes den Täufer gefragt „Wer bist Du?“ (Joh 1,22), weil sie den Messias, den Retter ersehnt und gesucht haben. In der O-Antiphon des 21. Dezembers („Gott, send herab uns deinen Sohn“, 5. Strophe) wird Jesus besungen als „O Schlüssel Davids, dessen Kraft befreien kann aus ewger Haft: Komm, führ uns aus des Todes Nacht, wohin die Sünde uns gebracht.“ Die Schlüsselantwort Jesu auf die Frage der Suchenden ist: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6)

Der einsame Schlüssel ruft in Erinnerung, dass Jesus der Türöffner zum Himmel, zum Vater ist. Der einsame Schlüssel möchte berühren, die Schlösser und Türen unserer Herzen aufsperren, damit sie weit offen für die Begegnung und die gelebte Gemeinschaft mit Gott, unserem Vater, werden. ER ist die Antwort, auf die Frage.

 

Der Stern von Bethlehem

Der Stern von Bethlehem
leuchtet hinein
in unsere Dunkelheit
der inneren Unruhe,
des Überfordert- Seins,
des Machtstreites
untereinander,
der Lieblosigkeit,
der Verzweiflung
und der Unfähigkeit
zum Handeln.
Du, Stern von Bethlehem,
laß dein Licht
unsere Seelen erhellen
und uns zu Taten
der Liebe bewegen.

© Gudrun Kropp

Das Objekt war Teil der 82. Telgter Krippenausstellung „Mittendrin“ im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte. Die Ausstellung war mit über 120 zeitgenössischen Ausstellungsstücken bis zum 22. Januar 2023 zu sehen.

GegenMacht

Die Gestalt des Gekreuzigten wächst hoch oben aus der dünnen Senkrechten heraus. Sein Körper ist bis auf den Kopf und die Arme vor allem auf der Vorderseite figürlich als Beine, Lendenschurz, Bauch und Brustbereich gestaltet. Die senkrechte Teilung der Beine setzt sich in einem Spalt im Brustbereich fort und bildet dort mit der Unterseite der Brust ein Kreuz.

Der Kopf ist nach rechts gedreht, der Blick nach unten gerichtet. Seine Arme hat der Erhöhte maximal ausgestreckt, ebenso seine Hände: rechts senkrecht erhoben, links waagrecht nach vorne abgewinkelt. So bildet der Körper als Ganzes ein hochaufragendes Kreuz, gleichzeitig trägt er im Brustbereich das Kreuz in den Körper eingeschrieben.

Er ist nicht als der leidende Jesus dargestellt, auch wenn seine Wundmale deutlich zu sehen sind. Jesus wird nicht als passiv das Leiden Erduldender, sondern als Mitleidender, als sich Erbarmender und Beschützer aller wie er Gekreuzigter dargestellt. Er hat das Unrecht der Missbrauchten durch Spott, Folter und Tod am eigenen Leib erfahren. Nun wehrt er sich und verteidigt alle: Es ist genug! Hört auf! Das ist nicht auszuhalten!

Jesus tritt den Peinigern und Mächtigen als Verteidiger der Missbrauchten und Entwürdigten entgegen: Am Kreuz erhöht stellt er sich mahnend zwischen die Gewalttätigen und die Unterdrückten. Mit seiner aufgerichteten rechten Hand gebietet er Halt und Einhalt, mit seiner waagrecht gehaltenen linken Hand wehrt er eher ab. Jesus hält die Gewalttätigen auf Distanz, er schaut sie nicht an. Er, der Menschenfreund, weist sie ab und will auch nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Er will auch von seinen eigenen Leuten nicht missbraucht oder verzweckt werden.

Missbrauch hat viele Gesichter und durchzieht zu allen Zeiten alle Gesellschaftsbereiche. Er ist uns näher als wir vielleicht denken, wenn wir stärker, reicher, klüger, älter, gesünder oder einflussreicher sind als andere (vgl. Lk 1,48-53). Macht ist schnell missbraucht, wenn Eigeninteressen höher gestellt werden als das Gemeinwohl und insbesondere das Wohlbefinden des Nächsten im biblischen Sinne. Niemand ist vor dieser Versuchung gefeit, auch nicht Priester oder Lehrer, Väter oder Mütter, Geschäftsleute, Arbeitgeber oder Politiker. Jesus ist gegen jede Art der Unterdrückung und Bevormundung. Im Christuslied des Philipperbriefes (2,6-8) wird beschrieben, wie Jesus auf seine unvorstellbare Machtfülle verzichtete, um den Menschen nahe zu sein und ihnen durch Gottes heilende, stärkende und rettende Kraft ihre Menschenwürde zurückzugeben.

Jesu Gegenmacht zum „Missbrauch von gutem Brauch“ ist seine Liebe und Fürsorge, sein Für-andere-da-Sein. Sein Umgang mit den Menschen ist geprägt von Respekt und Toleranz, von Wertschätzung und Vertrauen in deren Fähigkeiten und Kräfte. In seinen Augen sind alle Menschen gleich und in seiner Gerechtigkeit gibt es keine Unterschiede, außer dass den wie auch immer Benachteiligten Hilfe und Unterstützung zusteht.

Dieses Kreuz verkörpert Jesu Haltung über den Tod hinaus. Von „Gott über alle erhöht“ (Phil 2,9) bleibt er für alle Selbstsüchtigen und Peiniger ein Mahner des Unrechts und somit ein Stein des Anstoßes und ein Zeichen des Widerstands. Alle anderen stärkt Jesus als unübersehbares Vorbild im rechten und guten Umgang miteinander.

Licht in der Welt sein

Die Schlichtheit der übergroßen, brennenden Kerze auf dem schmalen Bildträger überrascht in der barocken Kirche. In marianisches Blau gekleidet bildet die Kerze einen warmen Kontrast zur feingliedrigen Formenfülle des Kirchenraumes, in dem sie sich optisch in die Mitte zwischen die Säulen des Hochaltars einreiht und diese über das Hochaltarbild hinausgehend überragt.

Schlank wie eine Säule steht sie mitten im Kirchenraum, mit ihrer Flamme Licht und Wärme ausstrahlend, alle Aufmerksamkeit auf sich fokussierend, die Gedanken beruhigend, sammelnd und zum Gebet erhebend.

Die überdimensionale Kerze erinnert an das Bibelwort: „Man zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus.“ (Mt 5,15) Hier bildet die Kerze selbst den Leuchtkörper für das Licht. Selbstverständlich gegenwärtig wie Jesus steht und brennt sie in der Mitte der Gemeinde: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12) So wie Jesus für alle Menschen da war und ihnen Orientierung, Zuversicht und Lebenskraft gab, so sollen auch wir für unsere Mitmenschen Licht und Halt sein.

Im Symbol der schlichten Kerze – nicht in der festlichen Osterkerze – ist er allen Gläubigen leuchtendes Vorbild der selbstverzehrenden Hingabe, der Caritas. Und er berief uns in seine Nachfolge mit den Worten: „Ihr seid das Licht der Welt.“ (Mt 5,14) So wie sein Leben leuchtete und eine Ausstrahlung hatte, soll unser Licht vor den Menschen leuchten, damit sie unsere guten Taten sehen und unseren Vater im Himmel preisen (vgl. Mt 5,16). Wo wir als Christen handeln, wo wir wie Christus handeln, werden wir die Menschen an Gott erinnern, an sein lebenspendendes Licht, seine unendliche Liebe, seine unfassbare Güte und Barmherzigkeit.

 

Ein himmlisches Angebot

Eine blaue Fläche verdeckt den barocken Hochaltar und erfordert einen Wechsel der Sehgewohnheiten. Durch das zeitweise Verhüllen des Gewohnten sollen die Gläubigen die Chance zu einer Neuentdeckung und einer neuen Sicht auf Gott erhalten und damit eine Umkehr zu Ihm. Das hängende Fastentuch eröffnet mit seiner blauen Farbe einen universellen Blick in die unergründlichen Weiten des Himmels oder Tiefen des Meeres. Seine halbtransparente Struktur lässt spielerische Lichteffekte zu und vermag damit an die Bedeutung von lebendigem Wassers für das Leben hinzuweisen.

Von oben senkt sich mittig ein intensiveres blaues Band in die Tiefe und breitet sich zwischen den beiden seitlichen Heiligenfiguren horizontal aus. In diesem auf dem Kopf stehenden T (Tau oder Kreuz) zieht ein helles Tondo den Blick auf das in einem Rosenstrauch sitzende nackte Jesuskind.  Auf der rechten Seite ist es von drei Rosenblüten umgeben: einer großen, voll aufgeblühten, darüber einer großen Knospe und Jesus selbst hält einen von der voll aufgeblühten Rose ausgehenden Stiel mit einer verschlossenen Knospe wie ein Zepter vor seinem Körper. Die drei Rosenblüten symbolisieren die Dreifaltigkeit. Das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ (GL 334/EG 30) ist ein Zugang zu diesem ungewöhnlichen Fastentuch. „aus Gottes ew‘gem Rat hat sie ein Kind geboren …“ heißt es in der zweiten Strophe und so sieht man das Jesuskind als Menschensohn zwischen der symbolischen Darstellung von Gott Vater in der aufgeblühten Rose und der haltgebenden Hand Mariens. Ebenso passt die dritte Strophe: „ Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß; mit seinem hellen Scheine vertreibt’s die Finsternis, wahr‘ Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet uns von Sünd und Tod.“

In mir begann die zweite Strophe des Liedes „zu Bethlehem geboren“ von Friedrich Spee (GL 239/EG 32) bei der Betrachtung des Fastentuches zu singen. Denn die große blaue Fläche und das leuchtende Tondo fokussieren den Blick auf Jesus und auf seine Position in meinem Leben: So klang in mir: „In seine Lieb versenken will ich mich ganz hinab; mein Herz will ich ihm schenken und alles was ich hab. Eia, eja, und alles was ich hab.“ Erschrocken über die weihnachtlichen Klänge kam ich aber zur Erkenntnis, dass es in der Fastenzeit gerade darum geht: Den vielleicht aus den Augen und aus dem Alltag verlorenen Gott wiederzufinden und ihm den Platz in meinem Leben wiederzugeben, der ihm als „höchsten Gut“ gebührt. Dem war sich Friedrich Spee bewusst, wenn er in der fünften  Strophe formuliert: „Dazu dein Gnad mir gebe, bitt ich aus Herzensgrund, dass dir allein ich lebe jetzt und zu aller Stund. Eia, eia, jetzt und zu aller Stund“.

Diese gnadenvolle Veränderung soll mein/unser ganzes Leben durchwirken und es zur Ehre Gottes verändern, damit es wie die goldenen Strahlen von seiner Präsenz in meinem/unserem Leben kündet. Um anzudeuten, dass so eine Veränderung meist unsichtbar, aber doch durch ein vielfältiges, heilsames Wirken in konkreten menschlichen Beziehungen, Handlungen und Gesten geschieht, hat die Künstlerin auf der Rückseite des Fastentuches in der Höhe des Tondos mit goldenen Umrisslinien neun bewegte Hände in zwei Gruppen dargestellt: gebende, helfende, empfangende, darreichende, betende, bewahrende, beschützende und segnende Hände. – Eine Einladung, dem Mitmenschen wie Jesus zu begegnen, sie wie sie sind anzunehmen, ihnen Freiheit und Lebensfülle schenkend, sie an der Hand nehmend oder ihnen segnend die Hände aufzulegen zur Stärkung in allen Lebenslagen – aus der Verbundenheit mit Gott und Ihm in jedem Mitmenschen.

 

Das Fastentuch ist bis zum 14. April 2022 in der Stadtpfarrkirche St. Jakob in Villach (A) im Original zu sehen. Auf der Website der Pfarrei können Sie eine andere, sehr lesenswerte Betrachtung von Herrn Pfarrer Dr. Richard Pirker lesen.

Schlüssel zum Leben

Sehr schlicht präsentiert sich dieses Kunstwerk ganz besonderer Art. Auf einer Grundplatte steht hochkant ein Stück Holz mit einem abgenutzten Türbeschlag, der oben keinen Griff oder Knauf, aber unten ein intaktes Schlüsselloch hat. Nichts weist auf eine außergewöhnliche Situation hin. Allein ein Klingelknopf lädt zum Drücken und Hoffen ein, dass dieser eine Reaktion auslöst, durch die sich die eigenartige Aufmachung erklärt.

Doch auf Knopfdruck ereignet sich nicht allzu viel. Allein das Schlüsselloch wird beleuchtet, was allerdings die Aufmerksamkeit auf sich zieht und genauer hinschauen lässt. Denn im Schlüsselloch wird ein Kleinkind mit nacktem Oberkörper und lockigem, goldenem Haar sichtbar: Jesus! Die karge Tür ist gleichsam der Stall, in dem er geboren, die Krippe, in die er gelegt wurde. Er erstrahlt als Licht in der Dunkelheit des Schlüssellochs. Er nimmt den Platz des Schlüssels ein und verweist damit auf die vorweihnachtliche O-Antiphon des 20. Dezembers, in der die Schlüsselgewalt des Gottessohnes verkündet und ersehnt wird:

O Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel  –
du öffnest, und niemand kann schließen,
du schließt, und keine Macht vermag zu öffnen:
o komm und öffne den Kerker der Finsternis.“
(vgl. Jes 22,22; Offb 3,7; Mt 16,19)

Jesus ist der Schlüssel zum Reich Gottes. Sein Leben, seine Worte der Liebe öffnen neue Lebensräume und führen aus der Gebundenheit und Gefangenschaft dunkler Abhängigkeiten in die Freiheit des wahren Lebens. Die Geburt Jesu ist der geschichtliche Wendepunkt. Seine Geburt lässt sich leicht übersehen, seine universelle Bedeutung in seiner Zeit weder erahnen noch verstehen.

Heute feiern wir mit Millionen von Lichtern Jesu Geburt. Aber haben wir verstanden, was es bedeutet, die Liebe selbst zu sein? Bei Jesus und in unserem Leben für den Nächsten?  Die Liebe allein vermag die Türen der Herzen zu öffnen und diese mit Licht und Leben, mit Glückseligkeit und Freude zu erfüllen. Keine andere Kraft hat eine solche Macht.

Komm Herr Jesus, kehr bei uns ein. Sei unser Gast und erfülle uns mit deinem Licht und deiner Liebe, auf dass wir heil werden und selbst zu befreienden Schlüsseln der Liebe werden.

Diese Krippe ist bis zum 13. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Hineingenommen

Die kreisrunde Installation bildet während der Advents- und Weihnachtszeit einen neuen Brennpunkt im Kirchenraum. Die großen, spielerisch angeordneten Kugeln aus massivem Holz ziehen die Besucher in ihren Bann und verwandeln sie durch ihre einzigartige Maserung und Schönheit zu Betrachtenden und Verweilenden.

Auf einer kargen Grundfläche umgeben zehn Kugeln scheinbar zufällig eine schalenförmig gewölbte Baumscheibe,  die auf dem Schnittpunkt zweier Fugen in der dunklen Grundplatte ruht. Doch schnell lassen sich drei Gruppen ausmachen: die beiden Kugeln links und rechts der Baumscheibe, fünf helle Kugeln auf der rechten und drei dunklere Kugeln auf der linken Seite. Durch das Material Holz sind sie irdisch individuell von der Baumart und den örtlichen und zeitlichen Wachstumsbedingungen geprägt, während ihre Form ohne Anfang und Ende auf Gott verweist und eine wie auch immer gelebte Gottverbundenheit nahelegt. So verdichten sich die Beobachtungen zur Entdeckung einer Krippendarstellung, bei der die Personen um die Krippe durch Kugeln repräsentiert werden: Beidseits der Baumscheibe „schauen“ Maria und Josef fürsorglich durch die Astaugen zur Mitte; die einfacheren hellen Hölzer in unterschiedlichen Größen mögen die Hirten und evtl. Schafe darstellen, während die drei prachtvoll maserierten Kugeln eine Repräsentation der Weisen oder Könige aus dem Morgenland nahelegen.

Doch wo ist der Neugeborene? Wo ist das Jesuskind? In der Dramaturgie dieser Krippe senkt sich für ihn vom 1. Advent an eine leuchtende Kugel Tag für Tag mehr vom Himmel zur Erde herab, um an Heiligabend als Licht der Welt in der Krippenschale seinen bescheidenen Thron unter den Menschen einzunehmen. „Jetzt umgeben die versammelten Gruppen den Einen zu zweit, zu dritt und zu fünft und bilden mit diesem Arrangement nicht zufällig den Beginn der Fibonacci Reihe für natürliches Wachstum. Die kleine Menschentraube an der Krippe wird zur Keimzelle des Wachstums.“

Damit niemand außen vor bleibt, sondern jedermann aktiver Teil des Geschehens werden und an der Krippe verweilen kann, sind die 30 bis 50 cm hohen Kugeln als Sitzgelegenheiten für die Besucher konzeptioniert. Sie laden gerade in unserer hektischen Zeit zum Verweilen ein, zum Schauen auf Jesus und Erleben seines Heils. Denn mit der Ankunft Jesu hat sich der harte Boden des „Erdenrunds“ geöffnet und ein leuchtendes Kreuz freigegeben, das dem ganzen Erdkreis verkündet, dass Jesus der Retter und Erlöser aller Menschen ist. „Das Kreuz markiert den Punkt der Menschwerdung Gottes, es kann aber auch als Vorbote der Passion gesehen werden, zu deren Ende sich ebenfalls die Felsen spalten (vgl. Mt 27,51).“ (Konzeption Institut für Inszenierung)

Die Installation lässt die Niederkunft von Gottes Sohn sinnlich erwarten und erfahren. Wie Franziskus von Assisi die Menschen seiner Zeit durch das Krippenspiel in das Geschehen eingebunden hat, so ist die Installation offen für eine interaktive Teilnahme und Teilhabe an der Geburt Jesu. Alle sollen ohne Barrieren an der Krippe verweilen können, sie betreten, begehen und sich in ihr niedersetzen können. In ihrer formalen Einfachheit strahlt die Krippe eine heilsame Ruhe und einen tiefen Frieden aus, die man aus den Perspektiven der einzelnen Krippenfiguren erfahren kann, wenn man deren Platz einnimmt.  In ihrer Sinnlichkeit trägt die Krippe dazu bei, die Geburt Jesu als gegenwärtiges Geschehen zu erleben, das uns alle betrifft und unser aller Leben zu verändern vermag. Im Verweilen an der Krippe entziehen wir uns der Eile (die sich im Wort „Verweilen“ versteckt) und schaffen die Möglichkeit, aus Gottes Fülle beschenkt zu werden mit „Gnade über Gnade“ (Joh 1,17).

 

Die Installation ist in der kath. Kirche St. Agnes in Hamm zu sehen und zu erleben.

Ein Modell der Krippe von Marc von Reth / Institut für Inszenierung ist bis zum 13. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

ER!

Eine halbgeöffnete Hand und wenige Worte bilden im Zentrum des Glasfensters von Angelika Weingardt – über dem Taufstein in der evangelischen Ulrichskirche von Weissach – den geheimnisvollen Hinweis auf einen unsichtbaren Dritten. Von oben nach unten führt die Bewegung des zweigeteilten Textes „es kommt einer nach mir“ – „der vor mir war“ (Joh 1,30) zwischen den beiden Hauptdarstellern hindurch. Die fotografische Wiedergabe von Menschen in einfacher Kleidung unserer Zeit weist auf eine Vergegenwärtigung des Geschehens zur Zeit Jesu hin. Trotz ihrer realistischen Präsenz entziehen sich die beiden Personen einer eindeutigen Identifikation durch die vom Bildrand verdeckte Hälfte. Dennoch kann über die geöffnete, „sprechende“ Hand und die räumliche Nähe der Worte zur größeren, bärtigen und älteren Person diese als Johannes der Täufer gesehen werden. Durch seine hinweisende Hand ist er als der Handelnde ausgewiesen. Seine rötliche Aura könnte auf den roten Sand der Wüste oder vielmehr auf seine Be-Geist-erung für die Sache Jesu deuten. Sein Gegenüber hingegen wird durch die schwarzgraue Kleidung und die in sich gekehrte Haltung als Empfangender und durch die blaue Aura vorrangig auch als ein durch die Taufe neu in die Glaubensgemeinschaft Eintretender dargestellt.

Die Worte des Täufers rufen also die Taufsituation in Erinnerung und man ist versucht, Jesus personifiziert in der Gestalt des jungen Mannes zu sehen. Doch die Worte des Täufers stellen Jesus als den Größeren und Wichtigeren unsichtbar und unmittelbar an die Seite des Täuflings. Dieser wird auf den Namen des Gottessohnes getauft werden, „der ist, der war und der kommt“ (Offb 1,8). Somit verweist der zweite Teil der Johanneischen Worte, dass der Nachfolgende schon vorher existent war, auf das nicht mit dem Verstand zu entschlüsselnde Geheimnis der überzeitlichen Omnipräsenz Jesu, an dem der Getaufte teilhaben wird.

Die diffus und mit niedrigem Horizont angedeutete Landschaft zwischen den beiden Männern lässt einen Baum erkennen und dahinter einen See. Das lässt die beiden Männer schwerelos erscheinen und erhebt sie in eine überirdische Sphäre. Ihre Köpfe ragen denn auch in das klare Weiß des Himmels, als wolle damit ihre geistige Verwurzelung in Gott als Quelle ihres neuen Lebens betont werden. In der pfeilförmigen weißen Erscheinung im Rundbogen des Fensters ist man versucht eine unauffällige Taube als Symbol für den Heiligen Geist zu sehen. Stärker jedoch verbindet ein gelber Bogen ihre Köpfe. Er wirkt als Licht- und Kraftbogen einer geistigen Verbundenheit, der im Dreiklang mit den geheimnisvollen farblichen Auren gleichzeitig die göttliche Dreifaltigkeit anklingen lässt: Rot: Vater/Liebe. Blau: Sohn/Glaube und Treue. Gelb: Heiliger Geist/Hoffnung und Erleuchtung. Denn Getauft-Werden bedeutet: Aufnahme in die ganze dreifaltige Wirklichkeit.

Die beiden ausgestreckten Finger des Täufers bleiben bei all diesen Gedanken präsent. Der Daumen weist auf den Täufling und alle Getauften, der Zeigefinger auf die Worte „der vor mir war“ am unteren Rand des Fensters, um allen in Erinnerung zu rufen, dass die Taufe ein Geschenk, der Glaube an Gott eine Gnade ist und wir wie Johannes nicht würdig sind, die Riemen seiner Sandalen zu lösen (vgl. Joh 1,27). Die zeigende Hand ist der Hinweis, wachsam zu sein auf sein Kommen. Denn: „Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26b). Doch Johannes der Täufer hat den Gottessohn erkannt und ihn uns gezeigt, damit ER durch seinen Heiligen Geist in unserem Leben für alle Menschen sichtbar offenbar wird.

Atem der Seele

Auf einem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch konzentrieren sich in der Mitte goldene Schmetterlinge. Sie bilden eine Art Nest, einen Schwarm, eine übervolle Schale, von der ausschwärmend sich die Schmetterlinge im ganzen Raum auf den Gegenständen und an den Wänden niedergelassen haben.

Der schlichte Tisch mit den goldenen Schmetterlingen erinnert an den mit Kelch und Patene bedeckten eucharistischen Tisch in den Kirchen. Der Tisch steht für jede gute menschliche Versammlung zum gemeinsamen Mahl. In den Kirchen erinnert der „Tisch des Herrn“ an das Letzte Abendmahl, in dem sich Jesus nach Lobpreis und Dank selbst seinen Jüngern schenkte mit den Worten: „Nehmt, das ist mein Leib“ – „Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.“ (Mk 14,22f) Etwas davon schwingt in den Schmetterlingen mit in den Raum und zu den Menschen.

Wunderbar werden hier Tod und Auferstehung symbolisch dargestellt. Denn das weiße Tischtuch erinnert auch an ein Leichentuch, mit dem man Verstorbene zudeckt. Doch dieses hier ist in der Mitte kaum sichtbar aufgerissen und durch seine Öffnung steigen unaufhaltsam Schmetterlinge. So steht dem einsamen Ableben die gemeinsame Auferstehung gegenüber, dem irdischen Tod das göttliche Leben, der Zeitlichkeit die Ewigkeit.

Der Schmetterling war durch das Verpuppen und Schlüpfen aus dem anscheinend leblosen Kokon nach monatelanger äußerer Ruhe in der Antike das Sinnbild der Wiedergeburt und Unsterblichkeit und ist in der christlichen Kunst noch heute ein Symbol für die Auferstehung. In der altgriechischen Sprache wurde der Schmetterling „Psyché“ genannt, weil die Hellenen diese Verwandlungskünstler als Verkörperung der menschlichen Seele sahen. Im Schmetterling fanden sie die Lebendigkeit und den Atem der Seele wieder, die nach der überraschenden Verwandlung die Erdgebundenheit hinter sich lässt und in ungeahnter Leichtigkeit im Sonnenlicht dem Himmel entgegentanzt.

Der goldene Schmetterlingsschwarm deutet funkelnd auf ein außerordentliches Ereignis, eine unerwartete Fülle an Leben und Bewegung, eine sich unaufhörlich ausbreitende Segensfülle, auf ein Sich-Verteilen und -Verschenken. Er erinnert an das staunend hervorgebrachte Wort aus dem Johannesevangelium 1,16 über Jesus: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.“ Dieser dichte Schmetterlingsschwarm vermag Wesentliches von Jesus zu versinnbildlichen: Die Offenbarung seiner göttlichen Herkunft, die Kraft und den Auftrag, die ihn beseelten Gutes zu tun und den Menschen alles an die Hand und ins Herz zu geben, damit aus der Verbundenheit mit Gott Verwandlung zu einem neuen Leben möglich wird. Ein Leben, das durch den Atem der Seele Freiheit und Leichtigkeit gewinnt. Ein Leben, das durch die Begeisterung der Seele alle Lebensdimensionen so verwandelt, mitgestaltet und prägt, dass sie teil hat an der Ewigkeit.

Video vom „Offenen Himmel“ im Klinikum Singen im Mai 2021:  mit Flügeln und mit einem langen Atem (43 Min)