Überwältigt von der Fülle an lichten Farben und Formen steht man im nördlichen Seitenschiff des Ulmer Münsters staunend vor dem über vierzehn Meter hohen Gnadenfenster. Das Auge sucht die Fülle in immer neuen Konstellationen und gedanklichen Bezügen zu fassen und zu verstehen. Das Glasfenster ist längs durch Zwischenstützen in drei schmale Bänder geteilt. Im mittleren Band fließt wie ein Wasserfall Licht bzw. Wasser durch die verschiedenfarbigen Medaillons nach unten. Lebendig und gegenwärtig ereignet sich dieser Lichtstrom, nicht fern von uns oder in ferner Vergangenheit, sondern hier und jetzt (vgl. 2 Kor 6,2) bricht er durch gebaute Mauern und verdunkelte Lebenszeiten in unser Leben ein. Wie eine Offenbarung vergegenwärtigt die Lichtöffnung die Worte aus dem Paulusbrief an Titus: „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“ (Tit 2,11)
Die Gnade Gottes leuchtet auch in den großen und kleinen Medaillons auf, die das schlanke Fenster in der ganzen Höhe gliedern. Da der Kreis von alters her durch seine endlose und perfekte Form als Symbol für Gott verwendet wurde, ist es möglich, die Medaillons als durch die Gnade Gottes bewirkte Heilsereignisse zu sehen, die für unseren Glauben eine große Bedeutung haben. Am konkretesten wird dieser Ansatz in den unteren zwei Medaillons, in deren Übergang sich eine Lichtgestalt zu erkennen gibt. Die herabfließende Gnade nimmt in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, Menschengestalt an. Mit den erhobenen Armen, die gleichzeitig an die Kreuzigung als auch an die Auferstehung erinnern, ist er als der Kommende dargestellt, als Erlöser von Sünde, Tod und Teufel.
Im untersten Medaillon trifft die Gnade auf die destruktive Macht der Sünde und des Todes. Explosiv wie Sprengstoff löst die Gnade das rote Kreuz als Symbol für alles unheilvolle und tödliche Blutvergießen auf und durchdringt verwandelnd das Violett des Leids und der Schmerzen aller Lebewesen und aller Zeiten. Damit hat der Künstler eindrücklich das kraftvolle Wirken der Gnade visualisiert. Dieser, von starken Kontrasten gezeichnete, unterste Kreis wirkt somit wie eine symbolische Verdichtung zentraler Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses: „Ich glaube an Jesus Christus … gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes“ und „Ich glaube an die Vergebung der Sünden.“ Ab hier beginnen in den Seitenfenstern farbige Kugeln wie Seifenblasen nach oben zu tanzen. Ob sie als kleinere und größere Abbilder der zentralen Heilsereignisse gedeutet werden dürfen?
Damit dieses alles umfassende Heilswerk der Gnade sich ereignen konnte, war die Geburt des Gottessohnes, seine Menschwerdung not-wendig. Das zweite große Medaillon beinhaltet im unteren Teil blau-grüne, darüber goldgelbe Farben und erinnert damit an die Farben des Wassers, an das Grün der Erde und das warme Licht der Sonne. Im roten Rondo leuchtet die Liebe Gottes, „denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16). Als neuer Mensch trat Jesus in unsere Mitte, stets ausgerichtet auf die Güte und Gnade seines Vaters, die durch ihn lichtvoll sichtbar wurde.
Das dritte Medaillon befindet sich in der Mitte des Fensters, so dass ihm eine besondere Bedeutung zukommt. Von allen kleinen Rondos auf dem Mittelband leuchtet das Gelbe am hellsten. Es hat etwas Österliches an sich, das zusammen mit der Farbenfülle rundherum auf dem ganzen Erdkreis freudig das wiedergeschenkte Leben feiert. Durch die Gnade der Auferstehung Jesu steht das Tor zum Himmel für uns im Glauben offen. Aufbauend auf den vorherigen Heilsereignissen fassen die Worte des Apostels Paulus an die Epheser (2,4-9) die Bedeutung von Ostern treffend zusammen: „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“
Das oberste große Medaillon ist farblich vom Rot des Feuers und dem Blau des Wassers geprägt. Es öffnet sich schalenartig nach oben hin zu dem blau-weißen Flügelwesen, welches in sich einen kleinen Kreis mit den gleichen Rottönen trägt. Erinnerungen an die Beschreibung des Pfingstereignisses in Jerusalem werden wach, aber auch an das gnadenreiche Wirken des Heiligen Geistes quer durch die ganze Geschichte Gottes mit den Menschen.
Die Spitze des Gnadenfensters bildet das Maßwerk-Dreieck mit gerundeten Seiten. Es trägt in sich sechs Vierpässe, welche den gelb-rot leuchtenden Dreipass in ihrer Mitte umgeben. Dieser erhält durch die darunterliegenden gelb dominierten Elemente einerseits eine thronartige Basis, andererseits durch die gelben Kreise im Vierpass darüber und darunter eine betonte Vertikale, die sich dann vom obersten kleinen Medaillon ausgehend nach unten fortsetzt. Der zentrale Dreipass wirkt vom Gelb der unendlichen Barmherzigkeit und vom Rot der leidenschaftlichen Liebe geprägt als trinitarisch-mystische Quelle des Fensters. Die sechs Vierpässe umgeben das leicht zu übersehende und doch leuchtende Dreieck in ihrer Mitte wie himmlische Wesen, unten farblich heller und vorwiegend in Weiß, Gelb und Grün, oben dunkler in Blau und Rot.
So lässt das Fenster in der ganzen Höhe die überfließende Liebe Gottes zu uns Menschen erleben. Eine erste gnadenvolle Entäußerung manifestiert sich im obersten gelb-roten Rondo, in dem der Gnadenfluss der göttlichen Zuwendung seinen Anfang nimmt. Im untersten Medaillon vollendet sie ihr Werk in der unverdienten Rechtfertigung des Gläubigen durch die Erlösung von den Sünden durch Christus Jesus. Sie „werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Röm 3,24). So führt die Gnade den geretteten Gläubigen aus der Tiefe in die die Höhe und lässt ihn als Sohn oder Tochter an Gottes Herrlichkeit teilhaben.
Das Glasfenster von Thomas Kuzio verdeutlicht in der größten evangelischen Kirche Deutschlands die zentrale Bedeutung der Gnade im christlichen Leben. Sie ist das immerwährende Angebot Gottes, in sie hinzuspringen wie in einen Fluss, um sich von ihr tragen, treiben und erneuern zu lassen. So visualisiert das Fenster auf großartige Weise das frühchristliche Grußwort am Anfang und am Ende von vielen Briefen an die Gemeinden: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit euch allen!“ (hier z. B. 2 Tess 3,18)

