WERDE

Das Wort WERDE – geschrieben mit Weizenkörnern – ist gerade noch lesbar. Oben sind die Buchstaben deutlich ausgeformt, doch nach unten hin lösen sie sich auf. Sie zerfallen förmlich und rieseln Korn für Korn hinunter auf die Erde.

Die fallende Bewegung erweckt den Eindruck, als würde dem Wort der Boden unter den Füßen weggezogen, als verlöre es seinen Halt. Es löst sich von seinem ursprünglichen Ort, um an einem anderen Ort in neuer Form aufzutauchen und in neuer Weise vom Werden und Vergehen aller Dinge zu erzählen. Es wird aber auch der dem Wort innewohnende Zeitbegriff und die damit einhergehende Vergänglichkeit sichtbar.

Werden und Vergehen bilden in der Natur einen immerwährenden Kreislauf. Das Werden währt nur begrenzte Zeit und kann nicht festgehalten werden. In seinem Ende liegt schon der Neuanfang eines anderen Lebens. Werden ist evolutionäres Sein, ein sich aus seiner Natürlichkeit entwickelndes Geschehen. Ein Werden zu dem, was grundlegend in jedem Wesen angelegt ist: Körperlich, besonders aber auch, was die Entwicklung seiner eigenen, persönlichen Fähigkeiten angeht.

„Werde, der Du bist!“ forderte der griechische Philosoph Pindar (518 – 442 v. Chr.) seine Mitmenschen auf. Jeder Mensch soll ganz der Mensch werden, der er in seinem tiefsten Inneren ist und nicht so wie andere ihn sehen oder wie die Gruppe, in der man sich bewegt, es möchte. Dies beinhaltet seine zweite Aufforderung „Erkenne dich selbst!“. Nur wer sich selbst erkennt, kann herausfinden, wo seine eigenen Stärken, Fähigkeiten und Wünsche liegen und seine Potentiale verwirklichen.

In der christlichen Tradition könnte Pindars Satz umformuliert werden zu: „Werde zu dem, wozu du berufen bist!“ Die Verwirklichung des Lebens geschieht im Dialog mit Gott als unserem Schöpfer, der uns das Leben schenkt und unsere individuellen Eigenheiten und Fähigkeiten kennt. So bittet der Psalmist: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Sieh doch, ob ich auf dem Weg der Götzen bin, leite mich auf dem Weg der Ewigkeit! (Ps 139,23f). Auch Paulus kennt die Gratwanderung des richtigen Werdens, wenn er Timotheus ermutigend schreibt: „Jage aber nach der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, dem Glauben, der Liebe, der Geduld, der Sanftmut! Kämpfe den guten Kampf des Glaubens; ergreife das ewige Leben, wozu du berufen bist …” (1 Tim 6,11b-12a) Nach diesen beiden Zitaten ist das Ziel das ewige Leben, das Leben nach dem Tod, nicht die Selbstverwirklichung in dieser Zeit.

Es geht um die Erfüllung einer Bestimmung im Einklang mit Gott. Jesus hat das in einem sehr deutlichen Gleichnis zum Ausdruck gebracht: „Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24) Werden im biblischen Sinne bedeutet, sein Leben mit einem ganz bestimmten Sinn oder einer eindeutigen Aufgabe zu verbinden, die von Gott gegeben und durch seinen Geist erkannt wird. Sich in diese dem Großen und Ganzen dienende Aufgabe hineinzubegeben, seine Haltung und sein Verhalten dem anzupassen und sich in aller Bescheidenheit einzuordnen, ist Teil christlicher Demut. Wir sind nicht für uns oder wegen uns in der Welt, sondern wir haben ein Mandat, einen Auftrag zu erfüllen. „Werden“ hat eine intrinsische Dynamik, die in Gott ihren Ursprung und ebenso ihr Ziel hat. Dazwischen haben wir es in der Hand, unser Werden zu steuern und in die richtige Richtung zu lenken.

Geistige Sprengkraft

Kraftvoll leuchtet weißes Licht aus dem zentralen Kreis in den Bildraum hinein. Ununterbrochen strömt es dem Betrachter entgegen. Die Lichterscheinung gleicht einer Sonne, doch strahlt sie in ihrer Reinheit eine unfassbar tiefe Unendlichkeit, Weisheit und Erleuchtung aus.

Strahlenförmig breitet sich das Licht aus: Zuerst unscharf, dann gelbe und rote Farben annehmend und schließlich formt es sich zu nach außen fliegenden, gezackten Blüten – der Gesamterscheinung nach an eine Pusteblume erinnernd. Wenn die Blüte des Löwenzahns verblüht ist, schließt sie sich zur Verwandlung und öffnet sich erneut als Pusteblume. In etwa zwei bis drei Tagen reifen im Verborgenen bis zu 300 Samen pro Blüte und auch die kleinen Stiele und Härchen wachsen. Bei trockenem Wetter öffnet sich die Blüte wieder als Pusteblume mit den vielen konzentrisch angeordneten Federbüschen oder Flugschirmen.

Diese im Bild nach außen fliegenden Federbüsche, welche die Samenkörner des Löwenzahns in sich tragen, besitzen eine gewaltige Sprengkraft. Zum einen hat die übergroße Fülle an Samen ein gewaltiges Potential, zum andern sprengen die haarigen Flugschirme mit ihrer Stoßkraft den die Mitte umgebenden schwarzen Ring. Bedrohlich dunkel, dick, massiv und gefühlt unzerstörbar hatte er das Licht abgeschirmt und das Leben an seiner Ausbreitung gehindert. Doch die federleichten Samenträger sprengen das Angst, Mutlosigkeit, Resignation und Aussichtslosigkeit auslösende Bollwerk der Begrenzung und Einschüchterung und folgen mit dem Licht ihrer Bestimmung, Leben in die Welt zu bringen. Vom Geist Gottes erfülltes Leben!

Bildhaft bringt die Künstlerin die an einem Ort versammelten, verängstigten und mutlosen Jünger zum Ausdruck, die durch Gottes Geist ermutigt und befähigt wurden, in die Welt hinauszugehen und den Menschen in ihrer Muttersprache das Evangelium zu verkünden (vgl. Apg 2,5-11). Die Samen tragenden Flugschirme verdeutlichen ihre Sendung, Gottes Wort als Multiplikatoren zu den Menschen zu tragen, damit es in ihrem Lebensfeld einem Samen gleich reiche Frucht bringe (vgl. Mk 4,20): Lebensfreude, Begeisterung, Freiheit. Die netzartige Hintergrundstruktur lässt ein Beziehungsnetz wahrnehmen, das daraus wächst und in der Tiefe Halt gibt

Das Pfingstereignis wird hier symbolisch als Fest der Bewegung, der Befreiung und der Erneuerung inszeniert. Es gibt keine verschlossenen Bereiche mehr. Kirche wird hier als ein von Gott her bewegter Raum der Veränderung dargestellt, stets im Auf- und Ausbruch über sich hinauswachsend, auf die Menschen und ihre Bedürfnisse eingehend. Ein Raum mit Leucht- und Sprengkraft – weit über die menschlich engen Sichtweisen und Verständnismöglichkeiten hinaus, der alle Grenzen immer wieder überwindet. In diesem Sinne ist es notwendig, auch auf die Kirche nicht die eigenen engen und moralischen Vorstellungen zu projizieren, was sie zu sein und zu leisten habe, sondern selbst in irgendeiner Weise einen Beitrag zu leisten und damit einen Samen für einen Neubeginn zu säen.