Das Sein ausloten

Ein Spiegelsaal oder Spiegelkabinett war in der Zeit des Feudalismus der Höhepunkt eines Schlosses. Er sollte die meist sehr auf Äußerlichkeiten bedachte Hofgesellschaft von allen Seiten und für alle Anwesenden repräsentieren. Es ging darum, ob die neue Robe gut kleidete und zu den Tanzschritten des Paares harmonisch schwang, ob die Perücke dazu passte, ob man eben gut aussah.

Die Spiegelkunstwerk von Christian Lippuner ist für die Art der Bespiegelung nicht geeignet. Die sechs leporelloartig sich entfaltenden Spiegelreihen fragmentieren vielmehr den davor stehenden Menschen, teilen ihn durch ihre schräge Anordnung in scheinbar unzusammenhängende Einzelteile, verdoppeln ihn bzw. werfen seinen Oberkörper nach unten und seine Beine nach oben. Kein Wunder, wenn der Betrachter verwirrt vor diesem Facettenspiegel steht, der ihn regelrecht auseinander nimmt. Sie stellt ihn über seine Erscheinung, sein So-Sein hinaus auch in seinem Dasein in Frage. Es geht hier nicht mehr um die Schönheitsfrage von Schneewittchens Stiefmutter („Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“), sondern um die entsetzte Frage eines jeden Einzelnen: „Bin ich das?“ Durch die ungewohnt verzerrte Erscheinung wird der Betrachter zum Nachdenken über sein Wesen, seine Existenz und das, was aus ihm geworden ist, angeregt.

Doch sind da nicht auch noch Texte in einzelnen Spiegelflächen zu sehen? Auf einer schwarzen Wand hinter dem Betrachter angebracht sollen sie den Besucher wohl während der Betrachtung überraschen, seine Gedanken in die beabsichtigte Richtung lenken oder sie einfach bestärken. Dass diese Texte den Intellekt ansprechen wollen, zeigt sich schon darin, dass sie von Hand seitenverkehrt aufgemalt worden sind (Detailbild), auf genau gleich große Spiegel wie diejenigen vor dem Betrachter. So wird der Betrachter von vorn und von hinten gespiegelt und gleichzeitig können die Texte erst im Spiegelleporello vor dem Betrachter gelesen werden. Denn sie betreffen ihn.

Es sind keine Fragen, sondern vielmehr Gedanken, die um das Individuum, das Unteilbare eines jeden kreisen. Gedanken, die in unserer Zeit der vielen Rollen, die wir je nach Ort und Tätigkeit annehmen und ausfüllen, zur Sammlung anregen, zum Überdenken vom Können, Dürfen, Wollen, Sollen, Müssen, Werden und Lassen unseres Seins. So weist die Installation in einer Zeit, in der die Fülle an Möglichkeiten und steigenden Ansprüche immer mehr an uns zerren, darauf hin, dass ich in meinem Geist die vielfältigen Rollen und Möglichkeiten zusammenhalte. Sie weist darauf hin, dass ich sie zu einem unteilbaren Ganzen zu gestalten und zu vereinen habe.

„Sein dürfen, was man ist“: Ich darf das sein, was ich bin. – Jedes Kind kommt mit einer „Grundausstattung“ zur Welt, mehr oder weniger vollkommen. Die erste Frage jeder Mutter ist deshalb: Ist alles in Ordnung? – Aufatmen, wenn Bejahung die Antwort ist, erdrückende Last, wenn ein Organ oder das geistige Vermögen Defizite hat … bis man begriffen hat und vor allem erfahren, dass auch dieses Leben ein Geschenk ist, ein Glücksfall, der sehr wohl sein darf.

„Sein können, was man ist“: Ich kann das, was ich bin, ausleben bzw. in mein Leben einbringen. Meine Fähigkeiten und Neigungen wurden erkannt und gefördert. Nun kann ich sie in Familie und Beruf, in soziale und politische Tätigkeiten einbringen.

„Sein sollen, was man ist“: Ich muss mich nicht verstellen, ich muss nicht anders sein, um zu gefallen. Authentizität ist gefragt. Stimmige Einheit von Denken, Sprechen und Handeln berührt, bewegt und erzeugt Achtung und Wertschätzung.

„Sein lassen, was man ist“: Manche sind sehr anspruchsvoll gegenüber ihrem Körper geworden. Gesundes Leben braucht ein dankbares Einverständnis dafür, wie es angelegt ist. Es braucht eine Zufriedenheit für das, was gut ist und Gutes bewirken kann, selbst wenn es nicht genau dem Zeitgeist oder mancher Wunschvorstellung entspricht.

„Sein werden, was man ist“, könnte als Widerspruch angesehen werden. Aber genau dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Im Tempel des Apollo in Delphi ist das „ERKENNE DICH SELBST“ eingraviert, später schreibt Angelus Silesius „Vor jedem steht ein Bild, das, was er werden soll. Solang er das nicht ist, ist nicht sein Frieden voll“. Und die Philosophie, Psychologie und Pädagogik kennen bis in unsere Tage den Appell: „Werde, der du bist“.

„Sein wollen, was man ist“, das könnte auch heißen: mit sich selbst in Einklang stehen, zu sich stehen, im Großen und Ganzen mit sich und seiner Lebensgestaltung zufrieden sein.

„Sein müssen, was man ist“: Das Müssen drückt eine Notwendigkeit aus, der zu folgen keine Wahlmöglichkeit lässt. Diese kann sich in körperlichen Einschränkungen bei Behinderungen aller Art zeigen, aber auch in geistigen Überzeugungen und Haltungen wie jener des Martin Luther zu Tage treten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders …”