Rote, blaue und gelbe Farbmuster ziehen sich über die drei Chorfenster der Kirche der Benediktinerabtei St. Mauritius in Tholey. Jedes Fenster ist vertikal mit zwei nahezu identischen Fensterspalten gestaltet. Gleichwohl bilden sie ein Spiel von warmen Farben und durch horizontale und vertikale Spiegelungen sich wiederholende Motive. Ohne etwas Konkretes darzustellen entstehen kaleidoskopartige Muster. Wie farbige Röntgenbilder unbekannter Welten gliedern sie die hohen Fensterflächen in klar erkennbare und doch auch unscharfe Formen. Durch das Teilen, Spiegeln und Wiederholen werden die einzelnen Motive aufgeklappt, vervielfältigt und offenbaren so in einem fantasievollen Form- und Farbenspiel neue Strukturwelten und Ornamente.
Die Glasfenster sind der Abschluss und Höhepunkt einer langjährigen intensiven Beschäftigung Gerhard Richters mit seinem abstrakten Gemälde, das die Werkverzeichnisnummer 724-4 trägt. Bei der digitalen Bearbeitung wurde das Bild systematisch geteilt, gespiegelt und vervielfältigt, was letztlich zu seinen bekannten Streifenbildern führte. Die Entwürfe der Fenster gehen auf fünfzehn Motive eines Zwischenschrittes in diesem Entfremdungsprozess zurück (16mal geteilte Serie), die für die Chorfenster wiederum vertikal als auch horizontal gespiegelt wurden. Durch diesen Prozess sind aus einem Bild mit komplexen Zufälligkeiten wieder geordnete, „sinnhafte“, ornamentale Muster entstanden.
Ein ähnlich kompliziertes und innovatives Verfahren wurde auch bei der Umsetzung in Glas angewendet. Dabei unterstützte die digitale Bildbearbeitung das tradierte kunsthandwerkliche Können, um durch drei übereinander liegende, in unterschiedlichen Techniken kleinteilig bearbeitete Glasschichten den Entwurf Richters adäquat in die Fenster übertragen zu können. Nun fällt das Licht durch die von zahlreichen kreativen Schaffensprozessen geprägten „Schöpfungsfenster“ in den Chorraum, kleidet ihn in farbiges Licht und taucht den Altarbereich in eine mystische Atmosphäre.
In der Zusammenschau bilden die beiden seitlichen Fenster eine das Mittelfenster umrahmende und hervorhebende Einheit. Durch die helleren Farben und die zentrale Anordnung erzeugt das mittlere Fenster eine besondere Tiefe und Faszination. Die warmen Rot- und Goldtöne und die um ein Feld erhöht platzierte Mitte der Motive verleihen ihm eine herrschaftliche oder gar königliche Ausstrahlung. Im Gegensatz zum fließenden Verlauf der Seitenfenster strukturieren das Mittelfenster vier dichte Motivgruppen, die Brennpunkte mit dazwischenliegenden Übergängen schaffen. Dadurch wirkt das Mittelfenster wie eine Aussicht in himmlische Sphären und suggeriert eine goldene Treppe oder Leiter, die symbolisch auf das Herabsteigen Gottes in unsere Welt und gleichzeitig auf sein erhebendes Heilswirken hinzuweisen vermag.
Die Glasfenster von Gerhard Richter vermitteln keine eindeutig religiöse Botschaft. Sie sind offene Andeutungen, die dem Betrachter Anknüpfungspunkte in seinem Suchen nach dem transzendent Erhabenen, dem ganz Anderen, nach dem verborgenen und doch stets gegenwärtigen Gott vermitteln. So können sie Anlass sein, über das geheimnisvolle Du, das uns ins Leben gerufen hat, das diskret unser Leben begleitet und zu sich in die Ewigkeit führt, zu meditieren. Auf ihre Weise erzählen sie im Kirchenraum der Benediktiner von Tholey durch ihre außergewöhnliche Schönheit, die malerischen Unschärfen und durch die sich herauskristallisierenden Räume und Zwischenräume, die zu Freiräumen für neues Leben werden, von einem Schöpfergott, der selbst Leben ist und uns dieses Leben in seiner ganzen schöpferischen Fülle unaufhörlich schenkt.
Weitere Bilder und Texte auf der Website der Glaswerkstätten Gustav van Treeck