Die Kathedrale

Vor und in einer terrassenförmigen Landschaft erhebt sich fast unsichtbar ein hochaufragendes, sakrales Bauwerk. Unsichtbar, weil die kleinteilige Struktur der unregelmäßig verteilten und ungleich großen, dunklen Fenster sich über das ganze Relief verteilt. Die Kathedrale hebt sich nur durch ihre vertikale Gliederung von den horizontalen Terrassen des Fundamentes oder des Hintergrundes ab. Ihr Baumaterial besteht aus dem gleichen Rotbuchenholz wie ihr Umfeld, doch ihre Zeichen wachsen transzendent über das Vergängliche hinaus.

Als Relief mit Erhöhungen und Vertiefungen geschnitzt bildet es einen unwirklichen Raum zwischen flachem Bild und dreidimensionalem Architekturmodell, der gleichzeitig vermittelnd die alles übersteigende Wirklichkeit zur Sprache bringt.

Der Einstieg in die Höhe, die zum Höchsten und in die Tiefe, die zum Tiefsten und alles Tragenden führt, beginnt am unteren Reliefrand. Pyramidenförmig sich zuspitzend führen 23 Stufen hinauf zur schmalen kleinen Eingangstür unter einem sich immer weiter verkleinernden Torbogen. Die nach oben weisende Dreiecksform wiederholt sich im Giebel der Eingangshalle, über dem sich die Fassade des fünfschiffigen Langhauses erhebt, dessen Dach wiederum steil nach oben zu den fünf Türmen weist.

Frau Dr. Renftle, die Kuratorin der Ausstellung „Geöffnet – Verschlossen“ in Biberach schreibt dazu treffend: „Das Tor hat ebenso viel räumlich abgestufte Tiefendimension wie die Treppe ein mühsam zu erklimmender, vielstufiger Berg ist. Diese hohen, vielteilig gegliederten und emporgeschichteten Kathedralfassaden können als ein Gleichnis auf die Schöpfung oder das Himmlische Jerusalem angesehen werden – wer hineingelangen möchte, muss sich erst auf dem steilen Stufenberg hinauf quälen – zwar wird er bald von schwingenden Rundbögen beschirmt, das Ziel jedoch erscheint fern und klein wie ein Schlüsselloch. Dieses letzte Tor wirkt im Gesamtgefüge ungeheuer winzig und doch hält es die gesamte, vielfach perforierte, höchst unruhige Komposition im Innersten zusammen, fokussiert das ganze Gewimmel auf das Nadelöhr, durch das ein Jeder hindurch finden muss, will er sich das Reich erschließen, das dieser Kathedralen-Kosmos versinnbildlicht. Die archetypischen Symbole von Treppe und Tor sind hier ebenso dynamisch wie untrennbar verbunden: Das Eine bedingt das Andere, das Aufsteigen ermöglicht erst das Eintreten.“ (Renftle S. 43)

Zwei weitere Beobachtungen kommen dazu: Zum einen führen die Treppe und der Torbogen in die Tiefe. Sie führen über viele Stufen und Abstufungen in die Tiefe des Glaubensgebäudes, weit hinein in die symmetrische Mitte, die vertikal alles im Gleichgewicht hält. Das Eintreten bildet für den Betrachter gleich dem real Eintretenden ein Schlüsselerlebnis, das ihn mittet, ihnen sakramental die verlorene Mitte und damit das seelische Gleichgewicht wiederschenkt. Das erhebt den Menschen weit über sich hinaus in himmlische Sphären, verbindet ihn unsichtbar mit seinem Schöpfer und Herrn, der Mitte und alles in allem ist.

Das vierte archetypische Symbol neben Treppe, Tor und Tiefe ist die Höhe. Die hochaufragende Kathedrale versinnbildlicht mit ihrer feinen Gliederung und edlen Gestaltung den Sitz des Bischofs. In ihrer vertikalen Fächerung bietet sie Schutz, in ihrer horizontalen Gliederung breitet sie empfangend einladend die Arme aus. Im übertragenen Sinn spricht diese Kathedrale die Einladung Jesu aus: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. “ (Mt 11,28) „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen, …“ (Joh 14,2) Jesus selbst ist der Gastgeber in dieser Kathedrale, die mit ihren Fenstern wie eine Stadt, in ihrer weißen Gestalt wie das himmlische Jerusalem, die verheißene Stadt, das neue Paradies wirkt.

„Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.“ (Offb 21,2-3)

Das Bild ist in der Themenausstellung „Geöffnet – Verschlossen. Tür und Tor in der bildenden Kunst“ bis zum 24. November 2023 in der Galerie der Stiftung BC – pro arte in Biberach zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog mit allen Werken und einer umfassenden kunstgeschichtlichen Einführung der Kuratorin Dr. Barbara Renftle erschienen.

Niemand wird sie benutzen – oder doch?

Buch um Buch stapeln sich über 130 Bibeln in schwindelerregende Höhe. Jedes Buch liegt leicht versetzt über dem anderen, so dass sich eine dynamische Treppe ergibt, die zuerst nach hinten, dann nach links oben führt, um dann noch weiter nach hinten anzusteigen.

Von verschiedenen Seiten gesehen ist es ein sehr schiefer Turm, der sich in die Höhe schraubt. Er gleicht einer suchenden Bewegung, die sich mal nach links, dann wieder nach rechts in die Höhe wagt. Symbolisch steht die Bücherskulptur für den Menschen in seiner Gottessuche. Die Büchertreppe hat kein Zwischenpodest, auf dem zwischendurch eine Pause eingelegt werden könnte. Schritt um Schritt geht es weiter. Ohne Geländer, ohne Absturzsicherung. Was für ein Wagnis! Was braucht es für einen Glauben, sich auf so einen Weg einzulassen und zu hoffen, dass er trägt und vor allem nicht ins nirgendwo, sondern zu Gott führt.

Die Installation von Jochen Höller führt vor Augen, dass das Wort Gottes eine Stiege zum Himmel, zu Gott selbst ist. Das Wort Gottes ist eine Tritthilfe in ungeahnte Höhen und göttliche Welten. Es hilft sich zu erheben, Gott zu suchen und ihm zu vertrauen. Es hilft, sich auf den Weg zu machen.

Die Arbeit führt aber auch vor Augen, dass niemand diese Bibeln, die bislang schon nicht benutzt worden sind, benutzen wird. Ins Kunstwerk integriert, können sie nicht mehr geöffnet werden. Doch die Bibel muss ein offenes Buch sein, sonst kann Gottes Wort nicht lebendig werden. Die Bibel muss ein offenes Buch sein, damit Gottes Wort wirken kann, damit die göttliche Weisung zu den Menschen gelangen kann, damit die Menschen nicht nur menschlich miteinander umgehen, sondern göttlich.

Durch ihre Dynamik und Symbolkraft passt die Skulptur wunderbar in die 2004 von den Architekten Ulrich und Ilse Maria Königs in Burgweinting erbaute Kirche, „die sich öffnet zum Himmel und Geborgenheit gibt auf Erden“.

Jochen Höller hat mit der Skulptur seiner Himmelsleiter Mitte Mai 2018 beim Wettbewerb des Katholischen Bibelwerks Austria gemeinsam mit dem Bibelwerk Linz „Transformiert statt ausrangiert“ den 1. Preis gewonnen! „Die Schlichtheit und die spirituelle Gesamtaussage des Kunstwerks sowie die Professionalität der Umsetzung haben die Jury überzeugt“, heißt es in der Begründung.

Die Bücherskulptur war im Sommer 2018 in der Katholischen Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting installiert.

Lebenstreppe

Auf dem Foto kann man nur eine Treppe erkennen. Sie ist aus Stein und trägt Spuren der Verwitterung: abgesplitterte Treppenkanten und schwarzen Schimmel. Es kann keine stark frequentierte oder öffentliche Treppe sein, denn die seitlichen Handläufe und Geländer zur Gewährung der Sicherheit fehlen.

Wozu mag sie wohl dienen? Wohin mag sie führen? Der Bildausschnitt gibt keine klare Auskunft über die Umgebung, den Zweck und das Ziel der Treppe. Sie führt von einer durch den dunklen (gemalten) Balken angedeuteten Waagrechten am unteren Bildrand hinauf zu einer durch eine starke Diagonale angedeuteten Ebene, die über dem Horizont des Betrachters liegt. Ob diese Ebene eine Brücke oder ein Balkon ist, lässt sich nicht erkennen. Die dunkle Unterseite suggeriert aber einen Blick wie aus der Öffnung einer Höhle heraus in die Weite eines klaren Himmels.

Diese Öffnung wird von der Treppe diagonal durchquert und lässt den Eindruck entstehen, dass die Treppe durch den Himmel oder sogar in den Himmel führt. – Ein verrückter Gedanke! – Jetzt verstellt die Treppe noch den Ausblick, doch bereits die Treppe selbst und die Plattform an ihrem Ende verheißen eine ungehinderte Sicht auf die himmlische Weite.

Wer diese Treppe hinaufgehen will, braucht Vertrauen: Vertrauen in die luftige und schon etwas in die Jahre gekommene Konstruktion, sowie Vertrauen in sich selbst, da er oder sie sich weder links noch rechts abstützen kann. Einziger Halt ist – im Bild mit dem blauen Himmel angedeutet – der Glaube, dass sich dieses Wagnis lohnen wird und sinnvoll ist.

Diese Treppe könnte ein Sinnbild für unser Leben sein. Aus der Horizontalen suchen wir den Aufstieg, den Erfolg. Körperlich helfen uns Rolltreppen, Fahrstühle, Autos und Seilbahnen und andere moderne Verkehrsmittel, schnell und bequem Höhen zu überwinden. Wer will, kann ganz leicht „hoch hinaus“. Aber das ist nicht das wirkliche Leben. Letztlich müssen wir doch alle die Erfahrung der Anstrengung machen, dass man nicht überallhin kann, wo man gerne sein möchte, dass man nicht alles auf einmal haben kann, dass sich das Leben – glücklicherweise – nur Stufe für Stufe realisieren lässt. Erst am Ende werden wir vollumfänglich sehen, was „oben“ ist. Erst am Ende der Treppe werden wir den Aufstieg mit seinen verschiedenen Etappen bewerten können und erfahren, ob er zu einem lohnenden Ziel geführt hat.