Vision des Himmels

Im Deckenspiegel der in der Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten evangelischen Pfarrkirche in Seibelsdorf (Bayern) begegnen sich seit der umfangreichen Sanierung von 2008-2010 Rokoko und zeitgenössische Kunst (Ansicht 1, Ansicht 2). Die schwarzen 6 mm breiten Linien der Tuschzeichnung fügen sich harmonisch in das Licht- und Schattenspiel der sie umgebenden Stuckaturen ein. Nach den Regeln des Künstlers haben alle Linien eine ellipsoide Grundform. Sie berühren sich gegenseitig nicht und bilden auch keine Punkte. Mit ihren dynamischen Rundungen nehmen sie die Formensprache des Rokoko auf und führen sie thematisch in neue Dimensionen.

Während die Rundungen am Bilderrahmen dichter sind und dunkle Bereiche bilden, öffnen sie sich zur Mitte hin und geben Raum frei. Durch diese Strichführung erzeugt der Künstler die Wirkung einer Kuppel. So zieht es den Blick des Betrachters wie durch ein großes Auge hindurch in einen jenseitigen Raum mit unendlicher Höhe. Es öffnet sich ihm eine Vision des Überirischen und Transzendenten, die durch und über alles Dinghafte hinweg eine immaterielle Gegenwart in der Welt erahnen lässt (Großansicht).

Vier Säulen unterstreichen diese Bewegung nach oben und zur Mitte. Auf leichten Einwölbungen des Rahmens stehend, von Stuckelementen unterfangen, stemmen sie sich in eine Höhe, um eine mit Staubpartikeln versetzte Weite zu tragen. Durch die geschickte Linienführung entsteht nicht der Eindruck, dass diese zentrale Gegenwart leicht wäre oder die Säulen ins Nichts hinausgehen würden. Sie tragen vielmehr etwas unendlich Gewichtiges und Erhabenes.

Die vier Säulen werden von einem Linienmeer umwogt, das gleichzeitig Assoziationen an Flammen, Wasserwogen, Windwirbel und links auch an Pflanzen zulässt. Hier wird die Fülle des Lebens mit all seinen Bewegungen und Begegnungen angedeutet, so wie sie vom unsichtbaren Gott (vgl. Kol 1,15; 1 Tim 1,17) geschaffen wurde. Er thront über allem und ist gleichzeitig in allem (Eph 4,6) gegenwärtig. Ganz besonders in der Gemeinde, die sich unter diesem symbolträchtigen Bild versammelt.

Für sie ist diese große Deckenmalerei ein Blick in den Himmel. Sie soll erfahren, dass hier ein begnadeter Ort ist, ein Ort, an dem, wie bei der Taufe Jesu, der Himmel offen steht (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,21) und intensivste Gottesbegegnung und -gemeinschaft möglich ist. Gottesbegegnung wie sie der Prophet Elija am Berg Horeb machen durfte, in der er Gott nicht in machtvollen Kundgebungen erfuhr, sondern im kaum wahrnehmbaren Säuseln des Windes: „Der Herr antwortete: Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.“ (1 Könige 19,11-13)

Gerhard Mayer wurde am 5. Oktober 2011 für diese Arbeit der Kunstpreis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 2011 verliehen.

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Vision des Lebens

Plastisch erhebt sich die bildhohe T-Form vor dem schwarzen Hintergrund. Wie eine Lichtgestalt hebt sie sich vom undurchdringlichen Dunkel ab. Und doch bildet die T-Form so etwas wie einen Durchblick in eine ganz andere Welt. Im Gegensatz zum kalten und leblosen Schwarz ermöglicht die T-Form den Blick auf eine schwelende Glut, von der Wärme und Leben ausgeht.

Inmitten dieser Glut ist in den hellen Stellen trotz der undeutlichen Umrisse eine menschliche Gestalt zu erkennen. Durch die ausgebreiteten Arme, den angedeuteten, nach links gesenkten Kopf und die sie umgebende T-Form lässt sie sich unschwer als Gekreuzigten identifizieren.

Der Tod mitten in diesem mit Wärme und Leben erfüllten Raum? Ja, doch erscheint er als notwendiger Durchgang für die Verwandlung des Leibes in eine neue Wesensform, die im Bild durch Helligkeit charakterisiert wird. Der Künstler präsentiert uns den Tod, auch wie ihn Jesus am Kreuz erlitten hat, als endgültige Metamorphose zum Licht. Was für eine ermutigende Perspektive! Ganz Licht zu werden und gleichzeitig auch ganz leicht.

Ist das nicht eine tief in uns liegende spirituelle Sehnsucht, die uns durch das ganze Leben hindurch bewegt? Licht ist etwas durch und durch Gutes und bedeutet Leben. Ohne Licht hätten wir keine Entwicklungs- und Überlebenschancen. Licht werden ist verbunden mit Erkenntnis und Einsicht in die vielen verborgenen Dinge um uns herum. Licht werden ist verbunden mit Ausstrahlung und der Absicht, integral gut werden zu wollen und Gutes zu bewirken.

Doch das Finden der persönlichen Lichtgestalt ist schwer. Durch viele Rollen und Verwandlungen hindurch versuchen wir, sie peu à peu zu erreichen. Allein durch die menschliche Entwicklung wachsen wir in immer neue Rollen hinein, die uns Entfaltung zum Gutsein ermöglichen. Auch viele kleine und große Abschiede bringen – meist schmerzhafte – Neuerungen in unser Leben und zwingen uns zu ungewollten Veränderungen. Erheblich helfen aber wiederkehrende Rituale, Bräuche und besondere Zeiten der tiefen Sehnsucht in uns, gut und licht zu werden. So ermöglichen uns Fasching oder Karneval, aus den alltäglichen Rollen aus- und vielleicht auch Festgefahrenes in uns aufzubrechen. Ist es nicht, als brauche es dieses feurig-intensive Austoben, um anschließend in der Fastenzeit umso mehr in die Tiefe gehen und sich auf sein eigenes Wesen sowie seine Berufung konzentrieren zu können? Verzicht und Beschränkung sind in dieser vorösterlichen Zeit gewissermaßen die reinigende Glut, welche alles Unnötige wegbrennt und das Wesentliche, das Wichtige und Gute im Leben mit einem erneuerten Blick erkennen und mit befreiter Kraft auch leben lässt.