Erinnerung
Die aus neun Einzeltafeln bestehende Komposition entführt den Betrachter in eine fast ungegenständliche Welt, die zudem zum größten Teil verhüllt erscheint, denn über einem schmalen Saum erhebt sich eine tuchähnliche blaue Fläche. Sie bedeckt gut zwei Drittel des Bildes. Eine starke grafische Strukturierung verleiht ihr ein textiles Aussehen. Dazu trägt auch der obere Abschluss bei, bei dem das Gewebe lockerer zu werden scheint, ausfranst, einen Übergang zum Dahinterliegenden bildet.
Dieser oberste Bereich wird einerseits durch die braune Grundfarbe geprägt, andererseits durch das Licht, welches eine landschaftliche Tiefe erzeugt. Auf den Seitentafeln scheint das Blau der Hauptfläche turmartig und wie ein Dunst-Schleier in die Höhe zu steigen.
Die farbliche Einheit der horizontalen Elemente am oberen und unteren Bildrand lässt das blaue Mittelfeld plastisch hervortreten. In seiner Mitte wird durch die lineare Gestaltung ein weiterer Gegenstand in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt. Die verschiedenen weißen Linien lassen in ihm Fäden sehen, ein Fadenknäuel, das zum Teil abgewickelt auf dem gleichfarbigen Tuch liegt. Eine geheimnisvolle Komposition!
Durch die horizontale wie vertikale Dreiteilung wohnt dem Werk etwas Sakrales inne. Das Tuchhafte mag zudem an die Darstellungen der Schweißtücher der Veronika erinnern, an die Abbildungen des Antlitzes Christi auf seinem Leidensweg. Doch anstelle des Gesichtes ist nur eine „Stellvertretung“ zu sehen, an Haare erinnernde Fäden, die bedroht sind, vom Wind verweht zu werden und die letzten Spuren verschwinden zu lassen.
Der Künstler thematisiert auf diese Weise unsere Erinnerungen. Etwas mehr oder weniger weit in der Zeit Zurückliegendes wird aus der Dunkelheit der Vergangenheit hervorgeholt und wieder neu ins Licht und in den Mittelpunkt gerückt. Auf dem Grundgewebe der Geschichte wird dann das Gefundene ausgebreitet und betrachtet. Wie die einzelnen Bildtafeln sich durch ihre Bearbeitung als zusammengehörend und zusammenhängend erweisen, so müssen sich auch die einzelnen Erinnerungen als Bestandteile eines zusammenhängenden Ganzen beweisen.
Und ist es nicht die Erinnerung, welche in unserem Bewusstsein einzelne Erlebnisse miteinander verbindet und ihnen dadurch einem roten Faden gleich einen Sinn zu geben vermag? Auch unser christlicher Glaube hätte ohne die Erinnerung an die Heilstaten Gottes kaum die alles verändernde Kraft. Nicht umsonst rufen die geistlichen Führer unermüdlich zur Erinnerung daran auf. Stellvertretend für viele Textzeugnisse sollen hier vier starke Texte zur Sprache kommen:
Als erstes das grundlegende „Schema Israel“, weil in ihm viele Erinnerungsstützen formuliert werden (Hervorhebung durch den Autor): „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben. Und wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land führt, von dem du weißt: er hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es dir zu geben – große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, mit Gütern gefüllte Häuser, die du nicht gefüllt hast, in den Felsen gehauene Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast -, wenn du dann isst und satt wirst: nimm dich in Acht, dass du nicht den Herrn vergisst, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat.“ (Dt 6,4-12)
In den Psalmen wird die erinnernde Funktion des Gebetes thematisiert. „Denkt an die Wunder, die er getan hat, an seine Zeichen und die Beschlüsse aus seinem Mund. Bedenkt es, ihr Nachkommen seines Knechtes Abraham, ihr Kinder Jakobs, die er erwählt hat. Er, der Herr, ist unser Gott. Seine Herrschaft umgreift die Erde. Ewig denkt er an seinen Bund, an das Wort, das er gegeben hat für tausend Geschlechter, an den Bund, den er mit Abraham geschlossen, an den Eid, den er Isaak geschworen hat.“ (Ps 105,5-9) Der Mensch soll an Gott denken wie Gott sich an den Menschen erinnert und ihm in Güte und Treue zugeneigt ist (vgl. auch Ps 98,3).
Im neuen Testament stehen Jesu Worte beim letzten Abendmahl an zentraler Stelle: “Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ (Lk 22,19-20)
Damit eine Erinnerung lebendig bleibt, braucht sie die stetige Wiederholung. Dazu brauchen wir Menschen Erinnerungsstützen in Form von Gegenständen, Bildern, Fotos, Erzählungen, usw. In Glaubenssachen haben wir deshalb eine innere Hilfe erhalten: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ (Joh 14,26)
In diesem Sinne ist auch das Bild von Harald Gnade Anstoß zu einer geistigen Reise in die vom Leben gewebte Vergangenheit, Anknüpfungspunkt für ungezählte Erinnerungen, die das Leben einzigartig reich und schön machen.
Das Bild ist im Buch „MIMESIS“ abgebildet, das 2006 (Verlag ars momentum, ISBN 3-938193-27-1, Euro 19,80) anlässlich der Ausstellung „… besuche mich Zeit …“ in der St. Matthäus – Kirche im Kulturforum, Berlin-Tiergarten erschienen ist.
Harald Gnade
Steinmehle auf Leinwand
160 x 200 cm, 9-teilig
Foto: Manfred Sackmann,
Harald Gnade
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