• Text zum Bildimpuls
  • Informationen zu Kunstwerk und Künstler
  • Kommentare zum Bildimpuls
Helene B. Grossmann, II – XII – 05, 2005
© Helene B. Grossmann

Göttliche Erscheinung

Schauen
Es gibt Bilder, die verleiten zum Schauen. Sie haben eine Ausstrahlung, die berührt. Sie haben eine Anziehungskraft, die den Besucher zum Betrachter werden lässt, der in der Begegnung mit dem Unbekannten versucht, seine verborgenen Tiefen auszuloten. Was fasziniert mich? Was spricht mich an? Wodurch entsteht die Spannung? – Annäherung findet statt. Denn oft sehen wir, ohne zu erkennen, oft nehmen wir etwas wahr, ohne es zu verstehen.

Im Bild von Helene B. Grossmann begegnen uns abstrakte Formen. Es sind keine Linien zu entdecken, die abgrenzen oder an greifbare Gegenstände denken lassen. Im Gegenteil, alle Farbflächen haben weiche, auslaufende Konturen. Sie erinnern an Wolkenbilder. Ist es das, was fasziniert? Diese schwebende Leichtigkeit der Komposition, die Blickführung zur geheimnisvollen Lichterscheinung in der Mitte?

Ordnen
Das Bild lässt einen symmetrischen Bildaufbau erkennen. Um die weiße Mitte gruppieren sich farbige Wolken, die nach unten immer dunkler werden. Am unteren Bildrand formen sie eine schwarz-blaue Erhebung, welche die Basis des Bildes und einen harten Kontrast zur Bildmitte bildet. Nach oben ist das Bild offen. Der Gegensatz zwischen den geraden Bildkanten und den sich zur Bildmitte hin auflösenden Formen trägt wesentlich dazu bei, dass der Blick zur Mitte geführt wird und dort verweilt. Ein Dutzend weißer Wolkenfetzen im Vordergrund verstärken den Eindruck einer himmlischen Vision.

Dennoch ist die irdische Welt nicht abwesend. Sie spiegelt sich in den Farben und der Komposition. Ocker und Braun verweisen auf Sand und Erde, das Blau unterhalb der Lichterscheinung auf das Meer und seine dunklen Tiefen, das obere Blau auf den Himmel und seine Weite. Mitten drin dieses weiße, geheimnisvolle Licht, das nach innen immer intensiver wird. In seiner äußeren Form ist es als Oval erkennbar, in seinem Wesen spricht es vom Unfassbaren.

Visionen von Gott
Das Bild und das Licht als eine Vision von Gott zu deuten, liegt nahe. Eines Gottes, „der in unzugänglichem Licht wohnt“ (Tim 6,16). Der nicht etwa außerhalb seiner Schöpfung gegenwärtig ist, wie man es dem Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a) entnehmen könnte, sondern als Ursprung, Erhalter und Endziel in seiner Mitte lebt, wie es Paulus im Brief an die Römer (11,36) formuliert: „Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung.“

Dieser Ansatz eröffnet vielfältige Zugänge (die hier leider nur angedeutet werden können) zu Situationen, in denen Gott den Menschen erschienen ist. In geschichtlicher Folge ermöglicht das Bild als erstes einen Zugang zum Exodus des Volkes Israel. Das helle Licht kann als Wolkensäule gedeutet werden, die den Israeliten beim Auszug aus Ägypten vorausging (Ex 13,21f) und sie sicher durch das Rote Meer führte (14,15-31). Durch diese Tat erfuhr Israel seinen Gott als nahen Gott und starken Retter (15,2), der kraftvoll in der Mitte seines Volkes gegenwärtig war (vgl. Jes 12,6).

Visionen von Jesus
Einen weiteren Ansatz bildet die Verklärung Jesu. „Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes und sein Gewand wurde leuchtend weiß. Und plötzlich redeten zwei Männer mit ihm. Es waren Mose und Elija; sie erschienen in strahlendem Licht und sprachen von seinem Ende, das sich in Jerusalem erfüllen sollte.“ (Lk 9,29-31) Ein erster Blick vermittelt vielleicht den Eindruck einer abstrakten, symbolischen Darstellung dieser Szene. Weitere Blicke lassen aber so viele Andeutungen erkennen, dass einzelne Elemente etwas Figürliches erhalten. Hat nicht die blau-schwarzen Basis eine bergähnliche Form? Können darin die von der Oberkante ausgehenden Aufhellungen (oder die darüber auf der Spitze stehende weiße Dreiecksform) nicht als gekreuzte Füße gesehen werden, welche den verklärten Leib tragen? Und bilden die von der Mitte aus seitlich abfallenden „Linien“ im oberen Abschluss der Erscheinung nicht so etwas wie die Schulterpartie und die Arme eines Menschen? Im Zenit dieser beiden „Linien“ können aus einem Wolkenfetzen zudem die Gesichtszüge eines nach rechts geneigten menschlichen Kopfes herausgelesen werden. Nase und Stirn sind hell, während die Haare, die Augenhöhlen, die Wangen und die Mundpartie im Dunkeln liegen. Dadurch ist eine menschliche Gestalt, die ganz in Licht getaucht ist, mehr wahrnehmbar als sichtbar angedeutet. – Die singuläre Gestalt lässt an der Richtigkeit der Annäherung zweifeln. Aber wenn in den beiden obersten Wolken links und rechts neben dem „Kopf“ genauso geheimnisvolle, büstenähnliche Erscheinungen von Mose und Elija gesehen werden können wie bei Jesus in der Mitte, so hätte diese Ansicht durchaus ihre Gültigkeit.

Die gleichsam auf den Wolken schwebende Gestalt lässt weiter an die Vision des Menschensohnes im Buch Daniel (7,13) denken, die von Jesus in seinen Reden vom Ende der Welt aufgegriffen wird: „… Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ (Mt 24,30; vgl. 26,64) Schließlich taucht die Vision in der Offenbarung (1,7-8; 14,14-20) nochmals in der Ankündigung der Endzeit und des damit verbundenen Gerichts auf.

Zu guter Letzt vermag die lichte Erscheinung neben dem Kommen des Menschensohnes auch Jesu Heimgang zum Vater anzusprechen. In der angedeuteten Gestalt kann Jesus gesehen werden, der sich nach seiner Auferstehung ein letztes Mal den Jüngern gezeigt hatte. Noch während er sie segnete, wurde er „zum Himmel emporgehoben“ (Lk 24,36-53). In Anlehnung an die vielen von Offb 12,1 beeinflussten Mariendarstellungen ist die göttliche Erscheinung von einem Kranz heller Wolken umgeben. Sie funkeln nicht als Sterne, aber sie bilden als diskrete Lichterkette eine Art Heiligenschein, der die Herrlichkeit Gottes und seines aus Ihm hervorgegangenen und zu Ihm zurückgekehrten Sohnes hervorhebt.

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 3/2006 der Zeitschrift “das münster”, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Patrik Scherrer, 25.11.2006

Helene B. Grossmann

II – XII – 05
Entstehungsjahr: 2005
Acryl auf Leinwand
200 x 145 cm
© Helene B. Grossmann

Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert