wartende Engel
Es ist selten, dass ein Kunstwerk eine solche Tiefenwirkung entfaltet. In der Radierung von Markus Lüpertz wird der Betrachter geradezu in das zentrale Licht hineingezogen: nach vorn – oder auch in die Höhe, wenn man sich das Bild über sich vorstellt. In der Barockzeit haben viele Kirchenbaumeister ihre Kuppeln oben mit einer Laterne voller Fenster versehen, um einen ähnlichen Lichteffekt zu erzielen.
Der stufenlose Übergang vom Dunkel zum Licht ist ein Blick vom noch Greifbaren in das Unfassbare, ein Blick in die Unendlichkeit. In kreisenden Bewegungen wird das Auge zum Licht geführt. Vermag es in den Bildecken die Tunnelwand noch zu sehen, verliert es durch die Stärke der Lichterscheinung schon bald alle Anhaltspunkte und muss sich blind dem Licht hingeben, wenn es weitergehen möchte. So sehr das Auge also verführt wird zu schauen, wird ihm letztlich kein irdischer Ein- oder Ausblick geboten. Vielmehr hat sich der Himmel „geöffnet“ und lässt in weiter Ferne seinen Glanz ahnen.
Begleitet werden unsere Blicke von neun Engeln. Mit wenigen Strichen hat der Künstler menschenähnliche Gestalten in langen Gewändern und mit Flügeln skizziert, die auf dem Rund des Ovals zu tanzen scheinen. In ihrer Einfachheit haben sie etwas Kindliches an sich. Doch ihre lineare Ausführung macht sie zu transparenten Wesen, die uneingeschränkt das hinter ihnen Seiende sehen und wahrnehmen lassen – Botschafter Gottes, Übermittler von Gottes Wort.
In der Adventszeit liegt es nahe, die Verkündigung der Frohbotschaft von der Geburt des Heilands an Hirten in dem Bild zu sehen, bei der sich zu dem Engel eine große himmlische Heerschar gesellt, die Gott lobte und sang: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,13f). Aber der Künstler legt sich nicht fest. Er könnte genauso eine Erzählung aus dem Johannesevangelium im Kopf gehabt haben, in der Jesus zum Erweis seiner Sendung zitiert: „Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn“ (Joh 1,51) oder Jakobs Traum im Buch Genesis (28,12ff): „Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.“
Aber das Kunstwerk will zu keiner der drei Erzählungen so richtig passen. Auch die zentralen Linien lassen sich damit nicht erklären. Das Kunstwerk ist kein historischer Tatsachen-Bericht, ebenso wenig wie es die Evangelien sind. Aber es ist eine starke Einladung, zum Licht aufzubrechen und sich dabei von den Engeln begleiten und führen zu lassen. Sei es zum Licht des Neugeborenen in der Krippe, sei es das ewige Licht, auf das wir hoffen und ein ganzes Leben lang zugehen.
Die Radierung wurde für die Kunstausstellung „Sieben Engel für Württemberg“ in Stuttgart geschaffen. Als künstlerischer Beitrag zum 475-Jahr-Jubiläum der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und zugleich zugunsten der Stiftung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wurden sieben Künstlerinnen und Künstler von internationalem Renommee gebeten, ihre Engelsvorstellungen in einer graphischen Gestaltung auszuführen. Die Kunstwerke können über diesen Link angeschaut und auch erworben werden!
Markus Lüpertz
49 x 69,5 cm
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