Dunkelheit

Hängend der Mensch
gekreuzigt des Menschen Sohn
erhöht – und doch erniedrigt
reduziert auf Arme, Kopf und Brust
Dunkelheit ist in ihm
belastende Schwere, erdrückende Macht
alle individuellen Züge sind weg
stellvertretend
für alle
nimmt er alles Leiden auf sich
allen Schmerz
alle Einsamkeit

Das Kreuz
ein Pfahl – ein Querbrett
ein Marterpfahl
ein Folterinstrument
um zu quälen
das Lebenslicht langsam auszulöschen
jeden Atemzug zu ersticken
bis zum Tod

Darüber
erdrückend groß
das schwarze Rund
noch mehr Schwarz
schwer lastend
Unheil über dem Gekreuzigten
in seinen Rücken, in seinem Nacken sitzend
abstrakte Form, Kreis, rund, hell: Ein Symbol für Gott?
schwarz verhüllt, von Nacht umgeben
die dunkelste Stunde Gottes: Sein Sohn stirbt am Kreuz

Dunkle Verbundenheit
doch innen hell
Nähe trotz des Gefühls der Verlassenheit
mitleidend in jeglicher Dunkelheit
Lichtblick trotz menschlicher Verlassenheit:
Kontrapunkt und Hoffnung des Lebens

Zum Gedenken an die Spurlosen

Unzählige weiße Stoffschilder hängen im Raum. In sie sind zwischen zwei Kreuzen, die wie Anführungs- und Schlusszeichen wirken, Zahlen und Namen gestickt. Schwarz ein Datum, dann in Rot ein Vorname und ein Name, danach wieder in Schwarz eine Altersangabe. (Detailbild). Jedes Schild erinnert an einen Verstorbenen. Sie alle eint, dass sie 2005 in München verstorben sind, allein und ohne Angehörige, „die Spuren seines Lebens in ihrem Leben weitertragen …“.

289 Namensschilder hängen so über den Köpfen der Besucher. Man muss den Kopf heben, zu ihnen aufschauen, um ihre Namen lesen zu können (Detailbild). Das rote Garn, mit dem der Name gestickt ist, wurde nicht direkt nach dem Namenszug abgeschnitten, sondern hängt lange in den Raum herunter. Symbolisch führt „der rote Faden“ durch den Namen und damit durch das Leben und die Persönlichkeit der Verstorbenen in unsere Welt hinein und schafft posthum Berührungspunkte, wenn er die Körper der Betrachter streift. Der Lebensfaden der Verstorbenen ist abgeschnitten, aber mit der Installation wird ihr Leben gewürdigt und geeint durch ihr Schicksal wird ihrer über den Tod hinaus gedacht.

Das genähte Stoffschild (Detailbild) erinnert an das Papierschild, das früher mit Namen und Todeszeitpunkt versehen den Leichen zur Identifizierung an den Zeh gebunden wurde. Auch schlägt das Stoffschild eine Brücke zum Vorgehen der städtischen Bestattungsbeamten. Nach der Klärung der Todesursache in der Pathologie wird der tote Körper ungewaschen in einem Plastiksack in den Sarg gelegt. Die evangelischen Gläubigen werden eingeäschert, die katholischen Gläubigen bleiben im Sarg. Die Beerdigung findet in der Regel ohne Feier statt. Nach einer kurzen Aufbahrung in der Aussegnungshalle werden die Toten als „stiller Abtrag“ zum Grab gebracht, weil meistens niemand da ist, der dem Sarg oder der Urne folgt und dem Verstorbenen damit das letzte Geleit geben würde. Die Gegenstände, mit denen der Verstorbene ein Leben lang gelebt hat, landen bei Nachlasssammlern oder im Sperrmüll. So wird die Wohnung aufgelöst, entleert, so werden alle Lebensspuren nach und nach verwischt und ausgelöscht.

Die Gedenkinstallation wirkt still gegen das Vergessen. Sie macht nachdenklich. Sie lässt an die vielen Menschen in unserer Gesellschaft denken, die ohne Verwandte oder Freunde an der Seite einsam und verlassen sterben. Sie lässt an die unzähligen Kriegs- und Flüchtlingsdramen (Stichwort Lampedusa) denken, in denen viele Menschen ähnlich spurlos verschwinden (Detailbild).

Die Namensschilder sind an einem weißen Faden aufgehängt. Sie sind von oben gehalten. Wir Christen glauben, dass Gott niemanden vergisst, niemanden fallen lässt. Das ist uns Hoffnung, darf aber keine Entschuldigung sein, im Bereich des Möglichen nicht selbst aktiv zu werden. In dem Sinne ist die Gedenkinstallation auch ein Aufruf zu mehr Mitmenschlichkeit, zu mehr Nähe, zu mehr Herzlichkeit, damit es gar nicht zu Situationen kommt, in denen Menschen spurlos verschwinden, einsam sterben oder still abgetragen werden.