Aufstieg ins Elysium

In der gotischen Westrosette der Regensburger Ulrichskirche strahlen die bunten Farben vom runden Mittelfeld über zwei mal zwölf konzentrisch angeordnete Glasscheiben nach außen. Im Zentrum schaut ein frontal dargestellter Engel (mit großer Ähnlichkeit zum berühmten lachenden Engel im Dom nebenan) auf den Betrachter hinunter. Er ist von zwölf intensiv blauen Perlen mit roten Spitzen umgeben. Die auf die Mitte ausgerichteten Maßwerkelemente werden von dünnen grünen, roten und blauen Strahlen begleitet, die wie Lebensadern nach außen führen.

Die offenen Hände des blondgelockten Engels liegen auf der unteren blauen Hälfte der Rosette auf, die leicht gewölbt an die Rundung der Erde erinnert. In deren blauen Feldern sind oben sechs expressiv gemalte Gesichter zu erkennen, unten drei Totenköpfe. Die dunkle Farbe und der finstere Gesichtsausdruck der Köpfe lassen an Menschen in irdischer Dunkelheit denken, an Umnachtete und Unerlöste.

Oberhalb der einladend ausgebreiteten Arme des Engels sind die Farben heller und bunter. Sieben Köpfe und drei Händepaare verteilen sich auf die Felder. Erhobene Hände und frohe Gesichter künden von glücklichen Menschen, von Erlösten. Sie sind bereits vom Engel mit wolkenartigen Flügeln an den Schultern zum Elysium erhoben worden, in das Land der Glückseligen, ins himmlische Licht. Sie leuchten wie Edelsteine.

Man könnte die Beobachtungen dabei bewenden lassen. Doch erstaunt es, dass der Künstler – wenn er dem Engel schon die Körperhaltung des Gekreuzigten gibt – nicht gleich Jesus als Auferstandenen und Schlüssel zum Himmelstor ins Zentrum gesetzt hat. Die Bibel erzählt, dass nach dem Sündenfall Cherubim das Tor zum Paradies bewachen (Gen 3,24) und an der Schwelle zur Endzeit Engel die Menschen ermahnen und offenbaren, was bald kommen wird (Offb 1,1; 22,6.16). Somit kann der Engel mit ausgebreiteten Armen Jesu Platz einnehmen. Er ist vom gleichen intensiven Himmelsblau wie der schmale blaue Streifen ganz oben umgeben, der wie ein Sternenhimmel aussieht und nach dem sich drei Händepaare sehnsüchtig ausstrecken. Der Engel erhebt die Menschen ins himmlische Licht, auf die Insel der Glückseligen, aber er vermag sie nicht zu erlösen oder zum Vater zu führen und ihnen damit eine ewige Heimat im Himmel anzubieten.

Das Elysium, die Insel der Glückseligen, wird so aus christlicher Sicht eine Zwischenstufe zum Himmel: sie ist die helle, obere Seite der Welt, der lebenswerte und lebensfrohe Teil. Wie in der griechischen Mythologie sind Himmelsboten zu den Menschen in der Dunkelheit gesandt, um sie aus ihren misslichen Lebensumständen herauszuholen, sie mit ausgebreiteten Armen willkommen zu heißen, ihnen auf die Füße zu helfen, sie in die Freiheit zu führen und hinein in das Licht der Gesegneten, Glücklichen, Lebenden.

Die Abwesenheit von Jesus fordert die Anwesenheit anderer Himmelsboten ein: Uns! – Alle, die an Gott glauben und eine Sendung in sich spüren, in welcher Form auch immer, den Be-nach-teiligten so zu helfen, dass sie gleichberechtigte Beteiligte an den Gütern und dem Wissen dieser Erde werden. Dabei gilt es nicht, die ganze Welt zu umarmen, sondern dem Einzelnen und Nächsten konkrete Hilfe zukommen zu lassen. Von so einem Handeln geht Segen aus, ähnlich wie die Hintergrundflächen der Engelshände golden leuchten.

So wie Jesus damals seine Jünger zu Menschenfischern, zu begeisterten Menschensuchern und -fängern berufen hat, um möglichst alle am Reich Gottes teilhaben zu lassen, so sind WIR heute berufen, ihren Auftrag engelsgleich in unserem Lebenskreis auszuführen und Menschen von der Dunkelheit ins Licht zu begleiten.

 

Einsame Spitze

Eine junge Frau mit Rock, Bluse und soliden Stiefeln an den Füßen läuft mit einem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht zielstrebig auf den linken Bildrand zu. Ihre Hände halten die Träger eines Rucksacks fest, doch überraschenderweise gehören sie zu den Engelsflügeln auf ihrem Rücken. Es wirkt, als müsse sie die Flügel festhalten, damit diese ihr nicht vom Zurückbleibenden, dem sie zu entspringen versucht, abgerissen werden. Durch ihre energische Laufbewegung konnte sie sich im oberen Teil bereits davon lösen, aber an ihrem linken Flügel und ihrer linken Schuhsohle klebt es hartnäckig fest.

Der Titel mag sich auf die Frau beziehen, die im Kampf gegen die ihr anhaftenden Strukturen „einsame Spitze“ ist. Er kann sich aber auch auf das Spitzendeckchen beziehen, das ohne die Frau eine einsame Spitze sein wird.

Die sich in die Länge ziehenden Fäden des Garngeflechts suggerieren, dass sie bisher fest mit dem Spitzendeckchen verbunden gewesen war. Die Verstrickungen der Vergangenheit – dem Deckchen nach waren sie mal kleiner gewesen – sind übergroß zu einer Bedrohung und einem Gefängnis geworden. Die ursprünglich perfekten, aber starren Strukturen haben sie offenbar wie eine Fliege in einem Spinnennetz festgehalten. Damit sie gemäß ihrer Engelsnatur leben und handeln kann, ist es not-wendig, panikartig zu fliehen, alles Altbekannte entschieden abzustreifen und den Sprung ins Haltlose und unbekannte Dunkle zu wagen.

Die Kreisstrukturen der Spitzendecke lassen vermuten, dass ihr Leben immer wieder im Kreis verlaufen ist. Hat sie vielleicht den Ausbruch gebraucht, um sich weiterentwickeln zu können? Spitzenmäßig gebunden konnte sie ihre Flügel nicht gebrauchen. Doch nun scheint sie fliehen und sich losreißen zu können, wodurch auch der Abflug in neue Sphären möglich scheint. Die Dunkelheit vermag allerdings keine Antwort zu geben, wohin sie die Flucht bringen und wie die neue Freiheit aussehen wird.

Doch woher hat sie die Kraft für diesen Befreiungsschlag, was beflügelt sie derart, dass sie nichts mehr halten kann? Ist es das Ziel vor Augen, welches sie das schier Unmögliche vollbringen lässt? Der Glaube an das Mögliche, die feste Überzeugung, dass es ein anderes Leben geben muss? Ein Leben, das von der Freiheit geprägt ist, dieses selbst zu gestalten? Vielleicht hat sie ähnlich wie der blinde Bartimäus ihre Bitte nach Freiheit an Jesus herangetragen und von ihm auch die Antwort erhalten: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 10,52)

In dem Fall könnte die Flucht vom Althergebrachten – denn die Spitzenarbeit steht nicht nur für das Kunsthandwerk und die Lebensgestaltung unserer Ahnen, sondern auch für deren Strukturen und Traditionen – nicht aus eigener Kraft, sondern wie es die Flügel andeuten, aus der engen Verbundenheit mit Gott gelingen. Die verbleibenden, anhaftenden Fäden lassen allerdings auch durchblicken, dass wir unsere Vergangenheit nie ganz abstreifen können, dass sie wie auch immer ein Teil unseres Lebens bleibt und dieses weiterhin prägt. Der Blick darauf und der Umgang damit werden durch den Glauben an Jesus gewandelt und relativiert. Jesus selbst antwortet auf die Frage des Petrus, wer denn noch gerettet werden könne: „Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben. Viele Erste werden Letzte sein und die Letzten Erste.“ (Mk 10,29-31)

Das ist einsame Spitze.

Botschafter gesucht

Groß und fast übermächtig steht das „haarige“ Gebilde an die Wand gelehnt. So, wie die unzähligen Kabelbinder von ihm abstehen, sperrt sich das Objekt einem schnellen Zugang. Aus der Ferne betrachtet sieht es wie ein überdimensionaler Zahn aus, doch in der Nähe sieht man, dass unzählig viele kleine Papierrollen mit Kabelbindern auf der Trägerkonstruktion befestigt wurden, so dass deren lange Enden wie Haare oder Federn abstehen und den beiden Hälften etwas Luftiges verleihen, das an Flügel erinnert.

Weiße Flügel?  – Wieso nicht! – Aber seltsam, so losgelöst von seinem himmlischen Träger, so an die Wand gelehnt, wie zufällig abgestellt.  Aber vielleicht war das der Auftrag des Engels, seine über und über vollgepackten Flügel mit den Spitzen auf den Boden der Erde zu stellen, seine unzähligen Botschaften einfach stehen zu lassen, bis die Menschen neugierig näher treten und nach und nach die eine oder andere Papierrolle von den Flügeln lösen und aufrollen.

Auf manchen Papierrollen können Vornamen gelesen werden, im Bild z.B. „Otto“ und „Doris“. Die meisten aber sind unbeschriftet. Es könnte also Zufall sein, wer welche Papierrolle erhält und mit welcher geheimnisvollen Botschaft. Es könnte aber auch engelsgleiche Fügung und göttliche Vorsehung sein, dass jede Papierrolle zum richtigen Empfänger gelangt.

Das Thema der Verkündigung liegt hier in der Luft, kann aber nicht allein auf die heilsgeschichtlich wichtige Verkündigung des Engels Gabriel an Maria beschränkt werden.  Vielmehr wird das Thema verallgemeinert und jede oder jeder kann zu einem „Engel“ oder zu einer „Maria“ werden. Stehen die Flügel nicht wie zum Auf-die-Schulter-Nehmen bereit da? Bepackt mit Botschaften, die zu den Mitmenschen gebracht werden wollen? Sollen nicht alle Menschen von Gottes Liebe hören und Jesus bei sich aufnehmen können als lieben Gast und guten Ratgeber, als Heiland, Retter, Erlöser, als Gottes Sohn? Ist es nicht unsere Berufung, Sein gutes Wort zu den Mitmenschen zu bringen, angefangen bei unseren Lieben und den Nächsten im Alltag?

Für eine Person allein ist die Last so vieler Botschaften und die Aufgabe, alle zu verteilen, immens. Kein Wunder, dass sich der Engel aus dem Staub gemacht hat. In unserer Zeit geht das doch auch automatisiert und digital. So wie bei den vielen Marketingbriefen, die Tag für Tag um die Aufmerksamkeit der Menschen werben. Aber vermögen diese anonymisierten Worte das Herz zu berühren und zu bewegen? Wir Menschen brauchen persönliche Worte und Antworten für unser Wohlergehen. Menschen, die uns ansprechen, die mit uns sprechen, die wir hören und verstehen können, die auf unsere ganz individuellen Fragen antworten.  Das kann nur durch viele Menschen, viele Botschafter Gottes erfolgen.

Der Evangelist Johannes sagt von Jesus: „Das Wort ist Fleisch geworden“ (1,14).  Aber sollte man das gleiche nicht auch von allen Gläubigen und zu jeder Zeit sagen können?  Dass Gottes Wort in den Menschen, die Jesus nachfolgen, Fleisch geworden ist, mitten unter uns wohnt und in uns lebendig geworden Gestalt annimmt? Wo wir Jesu Wort im wahrsten Sinne des Wortes beherzigen, brauchen wir keine auffälligen Flügel oder vorgegebenen Botschaften. Gottes Geist selbst wird uns beflügeln und uns Worte ins Herz und auf die Zunge legen, die berühren, verlebendigen und bewegen.

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit.“
(Joh 1,14)

Bund für‘s Leben

Die Botschaft des Engels an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde, ist per se raum- und zeitfüllend. Die gebogenen Flügel des herabsteigenden Engels füllen dynamisch die Bildfläche, den Körper des Engels verhüllend und gleichzeitig seine Herkunft offenbarend: Er ist ein Bote des Himmels und des Lichts. Und er ist ein Bote, der seinem Gegenüber auf Augenhöhe begegnet, ihm zugeneigt Gottes Gedanken und Entschlüsse auf eindringliche Weise übermittelt.

Maria ist in den Farben des Himmels gekleidet, weil sie „Magd des Herrn“ ist, Ihm gehörend und offen für sein Wort. Ihre Arme und Hände bilden einen geschützten Bereich, in deren Oval die Umrisse eines Kleinkindes zu erkennen sind. Die grüne Farbe hinter ihr und in ihrem Kleid weisen auf ihre irdische Herkunft und gleichzeitig auf ihre Fruchtbarkeit hin. Sie wird „ein Kind empfangen, einen Sohn gebären“ durch die „Kraft des Höchsten“ (vgl. LK 1,31.35).

Spiralförmig konzentriert sich der bewegte Lichteinbruch im Bauchbereich des Engels, um von dort zu Maria weiterzufließen und im Kind sein Ziel und seine Erfüllung zu finden.

„Der Herr ist mit dir“ offenbart kraftvoll die überwältigende Gnadenfülle. Der Engel überbringt des Himmels Fülle einer Frau, die bescheiden am Rande steht. Gott nimmt sie persönlich unter seine Flügel und seinen Schutz. So wie das Licht Maria umgibt und sie zärtlich berührt, verdeutlicht der Engel die respektvolle Gegenwart des Höchsten, welcher sie „überschattet“ und durch ihr Einverständnis fruchtbar werden lässt.

In den zwei sich hier begegnenden Welten wird deutlich, dass stellvertretend gerade ein grenzüberschreitender „Bund für‘s Leben“ geschlossen wird: Gottes bedingungsloses Ja zu uns Menschen und das ebenso freie Ja Mariens als Antwort auf das Wort Gottes bilden die Grundlage für die Entstehung einer neuen Lebensdimension. Zuerst in der Gestalt von Jesus. Gott hat sich erniedrigt und ist Mensch geworden (vgl. Phil 2,6-8). Jesus ist die Menschwerdung des göttlichen Lebens. In der Folge entstand durch sein Zeugnis und die Hingabe seines Lebens in den Menschen neue Hoffnung und neues Leben. Und schließlich verbinden die Christen durch den Glauben an Jesus und seinen Vater die Erde mit dem Himmel und erleben das Leben in einer Fülle, die durch die Hingabe Jesu sogar die zeitliche Begrenzung durchbricht und in ewiges Leben einmündet (vgl. Joh 10,10; 11,25f).

Heilsgeschichtlich gesehen findet das Ja Mariens sein Vorbild im Alten Bund, den Gott durch Moses mit seinem Volk geschlossen hat. Bevor Mose das Volk mit dem Blut des Bundes besprengte, antwortete es nach der Verlesung der Zehn Gebote und aller Vorschriften: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen.“ (Ex 24,7) Ähnlich hingebungsvoll sagte Maria: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38) Sie ebnet den Weg, damit Jesus den Neuen Bund mit der Hingabe seines Lebens vollenden und mit seinem Blut besiegeln kann (vgl. Lk 22,20).

Durch Maria erneuert Gott seine grenzenlose Liebe zu uns Menschen und zum Leben. Durch ihr Ja zu Gott und zu seinem Sohn Jesus, der nun in ihr Wohnung bezieht, verbinden sich ihre Lebensgeschichten untrennbar zur neuen Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch auf Augenhöhe.

Kein Platz für Gottes Sohn

Zwei geflügelte Männer in weißen Latzhosen stehen etwas verloren bzw. verwundert auf einem Fernsehgehäuse, das ein Stern mit Schweif gerade durchschlagen hat.

Auf der Innenseite des Gehäuses weist er nicht auf eine idyllische Krippenszene, sondern auf eine Dreierfamilie, die mit vielen Geschenken vor einem kleinen, mit Kugeln geschmückten Tannenbaum sitzt. Vater und Mutter hocken gelangweilt oder erschöpft in ihren Sesseln, ihr Sohn fotografiert das Ereignis des hereinbrechenden Sterns.  Erstaunlicherweise stehen auf ihrer Seite im Hintergrund ein verschmitzt schauender Ochse und ein lachender Esel. Die Wände ihrer Behausung sind mit Schlagworten wie BILDUNG IST KINDERSACHE, SKY, MY PERSON FIRST und in einem Stern SALE über den roten Buchstaben von XMAS bedeckt. Hier wird ein soziales Milieu auf dem Niveau einer Bild am Sonntag in Szene gesetzt, das den tieferen Sinn und Zugang zu Weihnachten verloren hat.

Wahrscheinlich aus diesem Grund stehen Maria in Gestalt einer einfach gekleideten Frau mit einem Neugeborenen auf dem Arm, und Josef auf der anderen Seite der Trennwand in der dunklen und kalten Nacht. Das Lämmchen verweist auf Jesus als dem Lamm Gottes, es scheint aber genauso zu frieren wie die kleine Familie.

Sozialkritisch formuliert der Künstler in dieser Krippe Missstände in unserer Gesellschaft. Weihnachten hat sich immer mehr zu einem Konsumfest entwickelt, bei dem es zentral um Erfüllung persönlicher Wünsche und um mehr oder weniger kostspielige Geschenke geht. Fast wie im Fernsehen (oder gar nach dessen Vorbild?) ist das Fest in vielen Familien zu einer großen Show verkommen, bei denen Christbaum und Geschenke zu netten Attributen eines profanisierten Weihnachtsfestes gehören. Alles dreht sich um die Familie, das Essen, die Dekoration und natürlich die Geschenke. Aber nicht mehr um die Geburt des Gottessohnes in unser Welt. Gnädigerweise erhält er vielleicht einen Platz in einer Krippe, vielleicht geht man auch zur Kirche – weil es sich so gehört. Aber die Heilige Familie und das Jesuskind haben viele vor die Türe gestellt. Sie finden keine Herberge, keinen Eingang und keinen Platz in den Herzen dieser Konsumfamilien.

Es ist Zeit umzukehren. Es ist Zeit, Gott wieder einen Platz in unserer Mitte zu geben, in unserem Leben. Die sonderbare Krippe zeigt, wie wir unser Leben von Konsumgütern bestimmen lassen. Es ist Zeit umzukehren. Es ist Zeit, Gott wieder einen Platz in unserer Mitte zu geben, einen festen Ort in unserem Leben. Die Konsumkrippe als kritisches Selbstbildnis möchte uns aufrütteln, uns wieder auf wesentliche Werte zu besinnen, damit wir unser Leben Tag für Tag mit Gottes Geist gestalten und es auf IHN ausrichten. Denn wenn wir anfangen, uns selbst zu verschenken, dann wird Weihnachten nicht nur an einem Tag, sondern das ganze Jahr gefeiert werden können.

Die Arbeit von Rudi Bannwarth war in der 79. Telgter Krippenausstellung “Auf der Suche nach dem Licht der Welt” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Heilsame Achtsamkeit

Das unsichtbar an der Wand befestigte Objekt mit den Holzstrukturen lässt zuerst an ein Fundstück aus dem Wald denken, an ein „object trouvé“, das weiß angemalt worden ist. Seine schwebende Position und die gerundeten Formen geben ihm etwas Engelhaftes, ja Transzendentes.

Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass das Objekt aus einer Art Papiermaché geformt ist und hinten als Stabilisierung mit Gipsmullbinden ausgekleidet ist, die nun eine Art Mantel bilden. Das Objekt stellt damit ein Abdruck einer Stelle am Baumstamm dar, an der durch höhere Gewalt ein Ast abgebrochen ist. Es ist das Negativ, das durch einen temporären Verband der verletzten Stelle entstanden ist. Es ist das Resultat der künstlerischen Aufmerksamkeit, die bei einem Spaziergang die schwarze Stelle an einem vom Blitz getroffenen Ahorn entdeckt hat und der Vision, dass an diesem Ort etwas Neues entstehen kann.

Umgeben von den engen Jahrringen erhält die Mitte der Skulptur eine Aura, welche die zentrale Hervorhebung verstärkt und sie dem Betrachter entgegenwölbt. So als solle auch er durch die vom Blitz getroffene Stelle berührt werden. Vergegenwärtigt man sich die Gegenüberstellung, erfährt man sich als Betrachter plötzlich in der Position des Baumes. Man wird selbst zum Betroffenen und kann seiner eigenen „Blitzeinschläge“ und Verletzungen gewahr werden.

Das Negativ der Brandwunde ist durch die weiße Farbe transzendiert, der Verlust des Astes hat durch die künstlerische „Verarztung“ der verletzten Stelle ein neues Gegenüber erhalten. Beide bringen eine heilsame Aufmerksamkeit zum Ausdruck, welche das Dasein des Ahorns übersteigt. Die skulpturale Abbildung erinnert an Berührungsreliquien in der Katholischen Kirche, an Gegenstände, die mit dem Heiligen in Berührung kamen oder gekommen sein sollen. Diese Arbeit ist insofern mit dem Heiligen in Berührung gekommen, als Blitze auf Grund ihrer Stärke und Schnelligkeit unberührbar sind und nur über die Einschlagstelle und Verletzung die unfassbare Kraft erfahren werden kann. Über das Negativbild ist das Numinose sozusagen zum Objekt geworden. So kann das Kunstwerk als „Berührungsreliquie“ bezeichnet werden, weil es einerseits die Naturgewalt spüren lässt, andererseits die heilsame Kraft der Aufmerksamkeit und Zuwendung. Beides lässt uns auf je eigene Weise die Größe Gottes und seine Gegenwart unter uns erleben.

Glaubenszeugnis

Das Bildgeschehen gruppiert sich um eine breite rötliche Senkrechte, auf der im oberen Drittel der Gekreuzigte schwebt. Er ist vom Kreuzbalken abgenommen und wird optisch nur von diesem starken Band gehalten, das für die Liebe Gottes steht, die bis in die menschlichen Abgründe geht und dort mit den Menschen leidet (violette Verfärbung am unteren Ende). Dadurch und in Verbindung mit dem Holz des Corpus Christi ist das Leiden durchaus gegenwärtig. Viel stärker jedoch wirken durch die Abwesenheit des Kreuzes, die Freistellung der Hände und die erhöhte Position der Skulptur die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu auf den Betrachter.

Im gelben Licht wird seine Himmelfahrt von Engeln begleitet. Sie schweben auf der intensiv-roten Linie, die von ganz unten in die Höhe führt und durch ihr Pendant diagonal gegenüber (links neben Jesus) auch mit Gott Vater in Verbindung gebracht werden darf, der seinen Sohn von den Toten auferweckt und zu sich geholt hat. Die Gestalt der gelben Fläche lässt zudem an einen Baum, durch Jesus an einen goldenen Lebensbaum denken oder auch an einen Kelch, in dem sein Blut aufgefangen und zu seinem Gedächtnis und zur Vergebung der Sünden zum Trinken gegeben wird.

Von Jesus, der seinen Kopf den Engeln zuneigt, geht die Bildbewegung über die Engel auf der Zwischenhöhe auf die andere Seite hinunter zu den Menschen. Das waagrechte Element dieser Figurengruppe bildet das Gegengewicht zum Geschehen auf der anderen Seite. In Blau gemalt bedeutet, in der Farbe des Glaubens dargestellt zu sein, des Wassers, in dem sie getauft wurden, dem Himmel, in den Jesus sie aufzunehmen versprochen hat. Sie sind als Pilgernde unterwegs, als Menschen auf dem Weg zu Gott, bereit in seinen Strahl der Liebe einzutreten, von seiner Barmherzigkeit umarmt und wie Christus erhoben zu werden. Spiegelbild der im Kirchenraum versammelten Gemeinde.

Dieses Bildgeschehen richtet auf und ermutigt. Es gibt die Bewegung der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu wieder, in der er ganz der den Menschen Zugewandte bleibt und ihre Sehnsüchte aufnimmt. Es ist kein endgültiges Entschwinden oder sich Verabschieden, sondern die Wandlung seiner Gegenwart durch die Kraft des Heiligen Geistes. Dieser ist im Bild nicht explizit zu sehen, aber in der von Jesus ausgehenden Abwärtsbewegung, welche in die vertikale Menschengruppe einmündet, spürbar am wirken.

Im Weiteren macht die Bildkomposition deutlich, dass Gott in seiner unverbrüchlichen Liebe hinter seinem Sohn steht … und auch hinter allen Menschen, die an ihn glauben (Gesamtansicht).

Zahlreiche weitere Arbeiten in Kirchen finden sich im Buch Zeitgemäße Wand- und Deckenfassungen für Sakralbauten, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg, 2015, 304 Stein, > 350 Abb., 19,80 Euro.

Perspektivenwechsel

Es gibt Tage, da geht nichts wie gewohnt. Es scheint, als hätte man zwei linke Hände, man kann nicht mehr klar denken, man steht immer wieder im Stau oder Bus und Bahn fahren nicht im Takt, man verletzt sich oder verunfallt sogar. Kurz, es gibt Tage oder Zeiten, da wird unser Lebensrhythmus durcheinander gebracht oder gar auf den Kopf gestellt. Da mag es uns gehen wie dem schmalen, hageren Engel, der kopfüber auf einer überdimensionierten Legoplatte steht.

Er, der gewohnt ist als Botschafter des Höchsten zu fliegen und erhobenen Hauptes den Menschen zu begegnen und sie zu begleiten, er kann nicht mehr gehen, weil er mit dem Kopf auf dem Boden fixiert ist. Trotz allem bewahrt er Haltung, die Hände an der Naht der Hose angelegt, stramm und kerzengerade aufgerichtet. Aber seine Welt steht Kopf.

Traurig, melancholisch, stoisch schaut er drein. Das sieht man, wenn man ihm ins Gesicht schaut (Detailbild). Was ist wohl mit ihm passiert? Ist er aus dem Himmel gefallen? Abgestürzt, herausgefallen aus seinen Gewohnheiten und Sicherheiten? Ein Flügel ist kürzer als der andere. Haben sie ihn ausgemustert? Haben sie ihn deswegen fluguntauglich erklärt? Als Mahnmal kopfüber auf die Erde gestellt?

Die Legoplatte dient dem Spiel. Sie ist eine Grundplatte, die Halt gibt, aber auch andere Möglichkeiten eröffnet. My angel ist kein gefallener Engel. Er liegt nicht, er ist nicht tot, vielmehr anders. Damit verstört er, regt aber gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit ihm an. Meditiert er sozusagen, um sich zu sammeln und wieder „funktionstüchtig“ oder „flugsicher“ zu werden? Wird ihm das je wieder gelingen? Oder wird er durch den Teilverlust seines Flügels behindert bleiben? Aber ist er das nicht schon, verhaltensauffällig, wie er da auf dem Kopf steht?

Wie auch immer ist dieser Engel ein Wesen mit besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Und trotz aller Verletzlichkeit oder Gebrechlichkeit ist er auch ein irritierender Clown unter den himmlischen Seelenflugbegleitern. Er ist er wunderbar, weil rätselhaft hintersinnig und eigen-artig. Liebenswert. Er steht Kopf, um die Welt auf dem Kopf zu sehen. Dabei schaut er – der himmlische Perspektiven gewohnt ist – die Welt von ganz, ganz unten an.

Vielleicht tut uns so ein „Kopfstehen“ zwischendurch auch mal gut. Nicht nur dann, wenn es uns überraschend widerfährt, sondern als Übung, die Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Zum einen aus der „Froschperspektive“, aus der Sicht derjenigen, die gesellschaftlich ganz unten leben, oder durch ihr Verhalten oder ihre Gebrechen an den (Existenz-)Rand gedrängt wurden. Zum anderen einen verdrehten Blick, bei dem der Boden der Dinge auf einmal Oben sind und alles was Oben war, nun unten ist. Eine heilsame Erfahrung, die uns selbst im Geist beweglicher machen kann und uns allen näher bringt, deren Leben gerade aus den Fugen geraten ist oder Kopf steht.

Gottesgegenwart

Die Abbildung einer Leiter mit dreizehn Sprossen durchquert mittig das Bild. Unten ist sie schmaler, nach oben wird sie weiter. Grau wie ein Schatten liegt sie auf dem wolkig hellen Hintergrund. Ihre Enden berühren weder den oberen noch den unteren Bildrand. So scheint sie im Bildraum zu schweben und erweist sich noch fragiler und haltloser als Leitern an sich schon sind. Gleichzeitig wird damit etwas Unfassbares, Traumhaftes angedeutet.

Zwischen Leiter und Hintergrund sind feine bewegte Linien und dunkle Verdichtungen zu sehen, die sich hier zu einem Arm, dort zu einem Oberkörper, dann wieder zu einem Kopf formen. Gestalten sind zu erkennen, die sich übereinander auf dieser Leiter drängen. Menschenähnliche Wesen – doch schemenhaft und transparent auf das hintergründige, tragende, weiße Licht, das von hinten das ganze Bild durchdringt.

Ihre Gestalten sind nicht zierlich, nicht unbedingt schön, sie haben auch keine Flügel. Sie sind wesentlich Boten des Lichts und als solche Niedersteigende und Aufsteigende. Im linken oberen und rechten unteren Drittel sind neben der Leiter zwei nach unten gekehrte Köpfe zu sehen, ein dritter Kopf unter der Leiter wie als Gegenüber zum angedeuteten Kreis, in dem die Leiter oben endet.

Alles wird schattenhaft wahrgenommen, entzieht sich dem Begreifen – und doch ist es das Sehen einer Wirklichkeit, die da ist und in Aktion da ist. Nicht nur von uns, sondern von einer weiteren Gestalt, die in dunkelbrauner Tinte unter der Leiter angedeutet liegt.

Es muss Jakob sein, der im Traum sieht. Er ist auf der Flucht von Zuhause, wo er sich den Erstlingssegen seines Vaters Isaak erschlichen hat (Gen 27). Während er schläft – allein in der nächtlichen Dunkelheit der Wüste – erhält er Besuch: Engel, Lichtgestalten „und siehe, der Herr stand oben“ (Gen 28,13). Gott zeigte sich ihm nicht nur, Gott sprach auch zu ihm, denn Jakob hört sagen: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.“ (Gen 28,13-15) Damit offenbarte sich ihm Gott nicht nur als gegenwärtiger Begleiter, sondern auch als machtvolle, zukunftsweisende Stärkung: Ich werde mit dir sein, bis sich alles erfüllt hat! Was für eine Verheißung!

Gott ist handlungsstark gegenwärtig, er lässt die Seinen nicht allein. Der belebte weiße Hintergrund erinnert auch an die Wolkensäule beim Auszug aus Ägypten, in der Gott sein Volk verhüllt und es doch aktiv aus der Gefangenschaft heraus in die Freiheit führte. Ein ermutigendes Bild. Gott ist da in dunklen und einsamen Zeiten, er spricht und verheißt eine lebenswerte Zukunft. Mag die Gegenwart noch so aussichtslos oder trüb aussehen.

 

Jacques Gassmann wurde am 24.11.2014 in Regensburg der Kulturpreis Kunst und Ethos 2014 verliehen. Dieser wurde anlässlich des 75-jährigen Gründungsjubiläums des Verlags Schnell und Steiner von den beiden Gesellschaftern gestiftet.

Verkündigung an Maria

In drei quadratischen Bildern entfaltet sich das Geschehen geradezu minimalistisch. Die einzelnen Begegnungsorte heben sich nur geringfügig durch die weiße Farbe vom unbearbeiteten Untergrund ab. In der Weite der Leinwand wurde so ein materieller und gleichzeitig spiritueller Raum mit hoher Reinheit geschaffen. Die Eiform identifiziert ihn als einen Ort des beginnenden Lebens.

Die Handlung ist klein dargestellt und beherrscht doch die weite, leere Fläche, so als wolle damit gesagt werden, dass sie für den ganzen Raum zentral und allein wichtig ist. Die Figuren sind auf Silhouetten reduziert. Es sind lehmfarbene Abdrucke bzw. Wiedergaben von „Protagonisten“ aus berühmten Werken des 15. Jahrhunderts (siehe unten). Auf zeitgenössische Weise aktualisiert und in ein neues Umfeld integriert vermögen sie eine moderne Sprache zu sprechen. Sie stehen im Spannungsfeld von dünnen, senkrechten wie waagrechten, dunklen Linien und vergoldeten Flächen, die leuchten.

Ankunft
Das linke Bild könnte den Untertitel „Ankunft“ haben. Eine engelhafte Gestalt „rauscht“ aus einer raum- und zeitlosen Sternenwelt heran, einer Welt ohne Koordinaten. Die goldene ovale Form könnte ein Ohr darstellen, ein „Geistesohr“ zum Lauschen über das Irdische hinaus. Maria steht in der diesseitigen Welt, am Kreuzungspunkt von Raum und Zeit. Sie ist als Sitzende, als Wartende, als Er-wartende dargestellt. In den Koordinaten kündigt sich schon das Kreuz an, im rechten Bild ist dieser Verweis dann ausformuliert. Die goldene ovale Form weist aber auch schon auf das ewige Antlitz Christi hin.

Berührung
Der mittlere Teil ist zärtlicher formuliert als die äußeren, hier findet eine „Berührung“ statt. Fast aus einem „Nichts“ erscheint der Engel, wie aus einer Wolke sich ins Irdische manifestierend. Zwei Hände berühren einander. Der materielle Raum (als Symbol für die Erde) biegt sich zur Schale, wird empfangend – wobei die konkave Linie auch ein angedeuteter Zeitstrom sein könnte, der den Tiefpunkt überwindet. In der Talsohle (Bildmitte) ist eine Verdichtung aus mehreren Lagen Japanpapier zu beobachten. Die materielle Konzentration bringt zum Ausdruck, dass eine Zeitenwende eingeleitet wurde, die Menschen wieder Boden unter den Füßen erhalten. Auf der „Erhebung“, die sich dadurch gebildet hat, wird Maria vom Himmelsboten zärtlich berührt und lässt sie – dargestellt mit der feinen goldenen Linie – Gottes Kraft spüren.

Gespräch
Im rechten Bild verdichtet sich die Handlung: Zwischen Gabriel und Maria entwickelt sich nun ein Gespräch. Der Engel schwebt nun über Maria und gibt ihr etwas hinunter, das wie ein Tierbein aussieht, aber die Kontur einer Textrolle ist. Maria, in einem Buch lesend, neigt sich nach hinten und wendet sich damit Gabriel zu. Dadurch bildet sie nun selbst eine Art Schale. Auch die strömenden Linien wirken verbindend, lebendige Linien, die über die gesamte Leinwand das Kreuz bilden, ein Leben bringender Tod wird vorverkündet. In die nach rechts führende, also zukunftsweisende Linie sind kleine Punkte Blattgold eingewoben: Gold, das aus einem Baldachin über dem Engel und Maria stammt und nun in die Zukunft hineinfließt. Die Szene spielt sich jetzt völlig in einem verdichteten Zentrum ab, geistig konzentriert und auch eingezogen in den irdischen Weltenkörper. Denn bald wird ein kleines Kind in Bethlehem geboren werden …

Die Protagonisten sind nach Barthélemy d’Eyck, Verkündigungsgruppe, Cathédrale St. Sauveur, 1443-44, Ste. Marie-Madeleine, Aix-en-Provence/Frankreich (Links); Leonardo da Vinci, Verkündigungsgruppe, ca. 1474, Galleria degli Uffizi, Florenz/Italien (Mitte); dem Meister der Sterzinger Altarflügel, Maria, Verkündigungsgruppe , 1456-1459, Deutschordenshaus, Sterzing/Südtirol/Italien (Rechts)

 

Die Betrachtung folgt den Gedanken des Künstlers und gibt diese in Auszügen wörtlich wieder, ohne dass sie als solches gekennzeichnet sind. Der Originaltext ist nachzulesen in: Heimo Ertl, Sabine Maria Hannesen, Norbert Jung: Perspektivenwechsel. Ave Maria – Die Verkündigung an Maria in modernen Kunstwerken, Bamberg 2013, S.118. ISBN 978-3-931432-32-4

Was dann? – Wohin?

Ein kleiner Mensch wird von einem von oben kommenden Händepaar gehalten. Das Bild gibt keine Auskunft, woher dieses Menschlein kommt, das klein wie ein Kind ist und das mit seinen großen Händen, dem festen Haar auf dem Hinterkopf, ja von den Proportionen selbst die Züge eines Erwachsenen trägt. Doch dem Künstler scheinen zwei Umstände bei der Wahl des Bildausschnittes wichtig gewesen zu sein. Zum einen der haltlose, schwebende Zustand des kleinen Menschen, zum anderen der Halt, den dieser in diesem Moment erhält. Die Hände von oben sind noch offen, sie haben noch nicht zugegriffen. Aufschluss über die Zusammenhänge gibt erst ein Blick auf den bekannten Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert, aus dem der Künstler die dem Mund eines Sterbenden in Form eines Menschleins entschwebende Seele zitiert, die von einem Engel erwartet wird, um sie dann zu Gott zu führen.

Diese Darstellung entspricht dem Glauben, dass der Mensch genauso nackt, klein und arm wie er bei der Geburt diese Erde betritt sie beim Tod auch wieder verlassen wird. Doch der Künstler hat dem mittelalterlichen Blatt durch die Auswahl und Freistellung des besagten Ausschnittes „den religiös-christlichen Kontext entzogen, verallgemeinert und die konkrete Vorstellung der Aufnahme der Seele in eine jenseitige Sphäre z.B. des Paradieses aufgelöst. Dadurch wird die ins Allgemeine gerückte existentielle Frage des Wohin – hinauf oder hinab? – aufgeworfen, ebenso taucht der im sozialen Sinn gültige Gedanke des Geborgen- und Aufgehobenseins, der Assistenz und des Beistands“ (Nolte) auf.

Zu hinterfragen ist demzufolge, wieso der Künstler diesen „ergreifenden“ Moment nun auf einen sandfarbenen Hintergrund gemalt hat. Denn dieser bildet jetzt den neuen Kontext. In 56 kleinen Bildtafeln sind schattenhafte Farbvariationen sichtbar, die in manchen auch Gesichtspartien einer jungen Frau erkennen lassen, die nach rechts schauen – auf die Seele. Ob die Hervorhebung ihrer Augen daran erinnern möchte, dass auch die Augen Spiegel der Seele sind? In anderen Bildtafeln verliert der Betrachter durch Übermalungen den Blickkontakt, muss er die Augen unter den Farbschichten zurück- und loslassen, so dass nur noch verschwommene Silhouetten auszumachen, vage Schatten von einer verborgenen Gegenwart erkennbar sind. In diesen Farbschichten wird die Vergänglichkeit des Lebens durch die sandfarbenen „Verwehungen“ oder den wie bei einer Sanduhr herabrieselnden Sand immer wieder neu thematisiert.

Einen formalen und inhaltlichen Gegensatz dazu bildet ein gutes Dutzend Kreisformen, welche die aufsteigende Seele wie Luftblasen zu begleiten scheinen. Die großen Kreise sind wie die Seele in reinen Umrisslinien gemalt, allerdings in einer kontrastierenden Perfektion. Die kleinen Kreisformen sind flächig dargestellt, gleichen eher Fixpunkten. Insgesamt muten sie wie moderne Sternzeichen an, die in Dreierkonstellationen und runder Geschlossenheit den Übergang in die Ewigkeit andeuten.

Leichtigkeit wohnt ihnen inne. Ist nicht auch eine helle Freude zu spüren? So vermittelt das Bild in neuer Gestaltung die ursprüngliche Hoffnung und Zuversicht weiter, dass es ein Danach gibt, einen Ort und eine Gemeinschaft, in der das Wesentliche von uns – unsere Seele –, aus der Vergänglichkeit gerettet, eine unvergängliche Heimat finden wird.

wartende Engel

Es ist selten, dass ein Kunstwerk eine solche Tiefenwirkung entfaltet. In der Radierung von Markus Lüpertz wird der Betrachter geradezu in das zentrale Licht hineingezogen: nach vorn – oder auch in die Höhe, wenn man sich das Bild über sich vorstellt. In der Barockzeit haben viele Kirchenbaumeister ihre Kuppeln oben mit einer Laterne voller Fenster versehen, um einen ähnlichen Lichteffekt zu erzielen.

Der stufenlose Übergang vom Dunkel zum Licht ist ein Blick vom noch Greifbaren in das Unfassbare, ein Blick in die Unendlichkeit. In kreisenden Bewegungen wird das Auge zum Licht geführt. Vermag es in den Bildecken die Tunnelwand noch zu sehen, verliert es durch die Stärke der Lichterscheinung schon bald alle Anhaltspunkte und muss sich blind dem Licht hingeben, wenn es weitergehen möchte. So sehr das Auge also verführt wird zu schauen, wird ihm letztlich kein irdischer Ein- oder Ausblick geboten. Vielmehr hat sich der Himmel „geöffnet“ und lässt in weiter Ferne seinen Glanz ahnen.

Begleitet werden unsere Blicke von neun Engeln. Mit wenigen Strichen hat der Künstler menschenähnliche Gestalten in langen Gewändern und mit Flügeln skizziert, die auf dem Rund des Ovals zu tanzen scheinen. In ihrer Einfachheit haben sie etwas Kindliches an sich. Doch ihre lineare Ausführung macht sie zu transparenten Wesen, die uneingeschränkt das hinter ihnen Seiende sehen und wahrnehmen lassen – Botschafter Gottes, Übermittler von Gottes Wort.

In der Adventszeit liegt es nahe, die Verkündigung der Frohbotschaft von der Geburt des Heilands an Hirten in dem Bild zu sehen, bei der sich zu dem Engel eine große himmlische Heerschar gesellt, die Gott lobte und sang: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,13f). Aber der Künstler legt sich nicht fest. Er könnte genauso eine Erzählung aus dem Johannesevangelium im Kopf gehabt haben, in der Jesus zum Erweis seiner Sendung zitiert: „Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn“ (Joh 1,51) oder Jakobs Traum im Buch Genesis (28,12ff): „Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.“

Aber das Kunstwerk will zu keiner der drei Erzählungen so richtig passen. Auch die zentralen Linien lassen sich damit nicht erklären. Das Kunstwerk ist kein historischer Tatsachen-Bericht, ebenso wenig wie es die Evangelien sind. Aber es ist eine starke Einladung, zum Licht aufzubrechen und sich dabei von den Engeln begleiten und führen zu lassen. Sei es zum Licht des Neugeborenen in der Krippe, sei es das ewige Licht, auf das wir hoffen und ein ganzes Leben lang zugehen.

Die Radierung wurde für die Kunstausstellung „Sieben Engel für Württemberg“ in Stuttgart geschaffen. Als künstlerischer Beitrag zum 475-Jahr-Jubiläum der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und zugleich zugunsten der Stiftung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg wurden sieben Künstlerinnen und Künstler von internationalem Renommee gebeten, ihre Engelsvorstellungen in einer graphischen Gestaltung auszuführen. Die Kunstwerke können über diesen Link angeschaut und auch erworben werden!

In der Mitte gegenwärtig

Fasziniert mag das Auge auf der hellen Gestalt in der vertikalen Mitte des Bildes verweilen. Wie eine Erscheinung tritt sie aus dem lichten Gelb hervor, ganz Geist und doch sich materialisierend unseren Blicken zu erkennen gebend. Die Arme kaum erahnbar am Körper angelegt, Oberkörper und Kopf leicht nach vorne geneigt, spricht äußerste Zurückhaltung genauso wie ein Auf-uns-Zukommen aus dieser Menschengestalt.

Ein Heiligenschein bezeichnet die Gestalt als eine mit Gott in enger Verbindung stehende Person. Kommt sie direkt von ihm? Wie aus einer Türöffnung scheint sie aus der rechteckigen Öffnung, die unsere Welt andeuten könnte, auf uns als Betrachter zuzukommen. Auch die beiden Flügel bezeichnen sie als Bote Gottes und als Lichtbringer in die dunklen Momente unserer Welt.

Doch kommt die engelsgleiche Erscheinung wirklich durch die rechteckige Öffnung auf unsere Seite? Die Öffnung könnte auch nur ein Fenster sein, ein Durchblick und Ausblick auf etwas Wunderbares. Der Engel wartet auf uns, will uns ermutigen, zeigt Zukünftiges, zu Erwartendes, weckt damit Sehnsucht nach Wärme, Heil und Geborgenheit. – Alles also nur Illusion, Vertröstung, bestenfalls Vision?

Nein! Die Flügel des Engels sprechen eine andere Sprache. Sie bilden in Form und Farbe ein großes Herz. So groß und warm könnte es Gottes Herz darstellen, denn aus seiner unendlichen Liebe zu uns schickt er uns Boten und Zeichen seiner liebenden Nähe. So wie das Herz für die glühende Liebe des Senders stehen mag, kann es auch als unser Herz gesehen werden, in das der Bote tritt. Es erhält durch die Lichtgestalt eine starke Mitte. Es wird zusammengehalten und zeigt zugleich Offenheit für die geheimnisvolle Präsenz eines Anderen.

Denn die Erscheinung muss kein Engel sein. Wir können auch am oberen Bildrand den Querbalken eines Kreuzes wahrnehmen und die Lichtgestalt als Jesus deuten, eingehüllt in glühende Liebe. Oder als den Auferstandenen, der durch die Liebe seines Vaters zum Leben erweckt worden ist und nun – nicht fern und undefinierbar im Irgendwo, sondern klar und deutlich – in unseren Herzen lebt und ihm göttliche Impulse gibt. Lässt das ihn umgebende wunderbare Rot nicht die kraftvolle Präsenz seines Heiligen Geistes spüren?

 

Weitere Bildmotive von Christel Holl finden Sie und können Sie bestellen auf der Website des Beuroner Kunstverlages.

Warten auf den Aufbruch

Ausnahmsweise finden wir keine mächtige Leuchtgestalt oder einen beschützenden Engel vor. Klein und beinahe verloren kauert er auf der Kante eines Bootes, das im Vergleich zu den anderen kleineren Booten wie ein Luftschiff in großer Höhe anmutet. So wie das Boot perspektivisch von oben gezeigt wird, müsste der Engel eigentlich seitlich herunterfallen. Doch er sitzt mit seinen angezogenen Beinen seelenruhig da und schaut von seinem „Adlerhorst“ auf das Wasser unter ihm.

Wartend, die ungewöhnlichen Zeichen beobachtend: den das Bild horizontal durchquerenden Fischzug, der in das weite Meer aufgebrochen ist, rechtwinklig dazu den mit Wassertropfen angedeuteten Regen, der aus einer prall gefüllten Wolke senkrecht durch das Bild ins Boot am unteren Bildrand fällt. „Tauet Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab, rief das Volk in bangen Nächten“, kommt einem unwillkürlich in den Sinn. Gottes Verheißung, einen Retter zu senden, scheint nicht mehr weit von seiner Erfüllung entfernt zu sein. Es lohnt, sich vorzubereiten und sich Zeit zu nehmen, um das Kommen des Herrn nicht zu verpassen. Auch in der Nacht, denn man weiß nicht, zu welcher Uhrzeit er kommen wird.

Dem Engel gegenüber taucht das Segment eines großen Kreises auf mit labyrinthähnlichem Muster, das an eine Stadt erinnert, gleichzeitig den Verlötungen auf elektronischen Schalttafeln gleicht. Ob es als Symbol für den unermesslich großen Gott gedeutet werden darf, dessen Gedanken unserem Verständnis und unserer Einsicht verborgen sind? Der Ausschnitt dieses unerhört Anderen und Größeren strahlt ein Geheimnis aus, aber auch kommunikative Nähe. Dadurch geschieht etwas, scheint ein fruchtbarer Aufbruch stattzufinden, der das Eis teilt und schmelzen lässt. Der von diesem Aufbruch ausgehende Strom wird mit den vielen Fischen voller Leben gezeigt. Bereits erscheinen die Silhouetten von Häusern und Bäumen beidseits dieses Flusses, als wollten sie auf das paradiesische Bild anspielen, das dem Propheten Ezechiel (47,1-12) gezeigt wurde: auf den vom Tempel ausgehenden Strom, der immer mächtiger wurde. Und Gott erklärte ihm: „Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Weil dieses Wasser dort hinkommt, werden (die Fluten) gesund; wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben.“ (V 8) Das Wasser macht auch das salzige Wasser gesund, ebenso werden an seinen Ufern Bäume wachsen, die nie ohne Früchte sein werden und deren Blätter nicht verwelken, sondern als Heilmittel dienen.

Hier wird endzeitliches, göttliches Heil im Aufbruch gezeigt. Gott ist dabei, einzugreifen, sich den Menschen sehr nahe zu zeigen. Und überall Boote, auch auf den Flügeln des Engels. Ein augenzwinkerndes Wortspiel mit Bote und Booten? Die Boote sind leer, als wollten sie bestiegen werden. Sie verheißen keinen sicheren Untergrund, verlangen Geschicklichkeit und Vertrauen. Wer die Bootsfahrt wagt, wird sich auf die Strömung einlassen müssen, setzt sich dem Wind und dem Wetter aus. Die Boote sind nicht größer als Nussschalen. – Ob solch ein Wagnis nicht zu gefährlich ist? Kann ER genug Sicherheit geben? Noch ankern die Bootspaare allein auf dem Wasser. Die Flügel des Engels könnten aber andeuten, wie schnell die Wasseroberfläche mit Booten bedeckt sein könnte, wenn alle sich aufmachen würden auf das Wasser des Lebens.

Eine doppelte Erfahrung würde sie begleiten. Erstens, dass sie im Wagnis, Gott zu glauben, getragen werden. Getragen von Gott selbst, der sich als Quelle, ja als Strom des Lebens offenbart. Zweitens, dass solch ein Aufbruch nicht in die Einsamkeit, sondern in eine Gemeinschaft führt, in der sich die Menschen nahe stehen und auf dem unsicheren Untergrund des Lebens eine sichernde Solidargemeinschaft bilden.

umsichtige Präsenz

Hart und scheinbar zusammenhanglos begegnen uns die drei hochformatigen Teile dieses Triptychons. Mit einer expressiven Farbgestaltung zieht vor allem die mittlere Paneele den Blick auf sich. Warme Braun- und Rottöne deuten den Leib einer menschlichen Gestalt an, von der nur der Kopf deutlich erkennbar ist. Strahlenförmig scheinen sie von einer dunkleren Mitte nach oben und nach unten zu gehen. Dabei bilden sie so etwas wie einen Schild und erwecken den Eindruck, als schaue der Kopf aus dem einzigen freien Winkel über diese „Farbwand“ hinaus in eine undefinierte Weite.

Die beiden Seitenteile sind als gegenstandslose, graublau-weißsilbrig schimmernde Flächen gestaltet. In der pastos aufgetragenen Farbe sind Kerbspuren feststellbar, oben mehr diagonal auslaufend, in der unteren Hälfte in Form von Augen.

Eine Verbindung zwischen Mittel- und Seitentafel ist auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar. Doch über das Ganze gesehen lässt sich durch die Schattierungen eine leichte, diagonal nach rechts aufstrebende Struktur erkennen. Dadurch werden der nach links schauenden Gestalt gewissermaßen Flügel verliehen. Ob sie einen Engel darstellt? Einen Cherub wie in Ezechiel 1,4-21 oder aufgrund der roten Gestalt gar einen Seraphen, jenes himmlische Wesen, das von seiner brennenden oder entzündenden Eigenschaft geprägt ist und oft mit vielen Augen am Leib dargestellt wird?

Wie dem auch sei, geht etwas Behütendes und Beschützendes von dieser Gestalt aus. Zwischen kühlen Farben der beiden Seitentafeln vermittelt sie erdige Wärme und angenehme Gegenwart. Als farbiger Lichtblick taucht sie wie eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung aus einer anderen Welt vor unseren Augen auf, unnahbar entrückt und doch Zuversicht ausstrahlend. Aus der Mitte lebend, verändert und integriert sie die Umwelt, lässt sie zu Flügeln werden, die ihr die Schönheit eines Pfaus verleihen, der gerade sein Rad schlägt.

Von diesen Augen hat man nichts zu befürchten. Sie verweisen nicht auf die allgegenwärtigen Kameralinsen von „Big Brother“, sondern lassen viel mehr umsichtige Wachsamkeit des Dargestellten spüren, seine „gemittete“ Präsenz. Ob Bote des Himmels oder Sinnbild für uns – wer er auch sein mag – er ist ganz da, erfüllt von einer warmen, guten Kraft, die wohl tut und von der man sich gerne anstecken lässt. Mit seinen inneren und äußeren, sichtbaren und unsichtbaren Augen nimmt er seine Umgebung wahr und kann so umsichtig handeln, Gefahren ausweichen, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tun.

Engel

Mächtig steht er mit seinen offenen Flügeln da, der Engel, standfest wie ein Berg uns gegenüber, auch wenn keine Füße zu sehen sind. Erhöht blickt er von einem Podest oder einem Sockel und scheint uns laut eine Botschaft zu verkünden. Denn sein kleiner weißer Mund im verhältnismäßig kleinen runden Kopf ist weit geöffnet. Irritierend, dass kein Ton zu uns herüber kommt. Aber ob wir dort, wo die Töne wirklich übertragen werden, seine Stimme im Lärm des Alltags, im Stress unserer vielen Aktivitäten überhaupt hören würden?

Vielleicht muss er sich gerade deswegen so mächtig vor uns aufbauen, damit wir ihn nicht übersehen können und gewissermaßen gegen ihn anrennen. So transparent die Farbe seiner Flügel leuchtet und ihn als geistiges Wesen auszeichnet, die Farbe seines Mantels ist dick wie ein Panzer aufgetragen: Dieser Engel kann nicht umgerannt werden! Wie von den Spuren der Auseinandersetzung hat die getrocknete Farbe in der Brustgegend Risse hinterlassen, doch der Engel bleibt.

Deutlich hebt sich seine Gestalt vom tiefblauen Hintergrund ab. Er kommt in der Nacht, ist Sprecher des Verborgenen, Verkünder des Unvorstellbaren: Gott wird als Mensch mit uns sein!

Was ihn dazu berechtigt? Der Hauch eines Heiligenscheins weist auf seine himmlische Herkunft hin, der Heroldsstab in Form einer feurig leuchtenden Blume zeichnet ihn als Boten einer anderen Wirklichkeit aus. Außerdem leuchtet an verschiedenen Stellen helles weißes Licht durch, das den Eindruck erweckt, dass der Engel selbst eine Lichtgestalt ist, der seine wahre Identität unter einem Gewand verhüllt, um uns nicht zu blenden.

Seine geheimnisvolle Erscheinung will uns behutsam auf die Begegnung mit Gott einstimmen, auf die Begegnung mit seinem Sohn. Und es ist, als würde er uns leise, aber eindringlich bestimmt sagen: Lauf nicht weiter, halte an. Werde still … und höre zu! Das Feuer dieser in der Blume symbolisierten Botschaft will auch in Dir brennen. Lass Dich entzünden … damit auch Du Licht wirst für die Ankunft des wahren Lichtes.

Verkündigung

Im Schnittpunkt von zwei Kreisformen begegnen sich zwei menschliche Gestalten. Die linke Gestalt muss ihren Flügeln nach ein Engel sein, die rechte der Haltung nach Maria, die sich kniend dem Willen Gottes beugt: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38).

Die Begegnung findet nicht mehr in einem Haus statt. Als Heimat Mariens wird hier die Erde bezeichnet. Als lichte Gestalt ragt sie aus der grau-schwarzen Oberfläche heraus. Durch ihre Unschuld und Reinheit von Sünden nimmt Maria eine herausragende Position ein. Sie, die Unbefleckte, wurde von Gott auserwählt, den „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32) zu empfangen, den „Retter der Welt“ (Joh 4,42; 1Joh 4,14).

Die Verkündigung an Maria findet so am Schnittpunkt von Himmel und Erde statt. Der Bote des Himmels überbringt der Vertreterin des Erdengeschlechts die frohe Botschaft, dass Gott seinen Sohn unter den Menschen groß werden lassen will. Dazu wird er Maria mit Seinem Heiligen Geist überschatten (Lk 1,35). Wunderbar hat der Künstler den Geist Gottes als bewegte, goldgelbe Kreisform dargestellt, wodurch nicht nur Gottes Herrlichkeit und Unendlichkeit angesprochen werden, sondern auch seine beschützende, rettende und Leben schaffende Kraft.

Von oben, von außerhalb des Bildes in die wahrnehmbare Bild-Welt einfließend, umgibt die immaterielle Energie Maria und den Engel wie ein Heiligenschein und vermittelt theologisch richtig, dass der Sohn durch die Menschwerdung die göttliche Dreifaltigkeit nicht verlässt, sondern in Ihrer Mitte bleibend in Maria die Natur und das Wesen von uns Menschen annimmt. Maria bildet so eine Art Brücke, auf der Jesus zu uns Menschen kam.

Den Weg von Jesus scheint eine feine gelb-weiße Linie anzudeuten. Sie entspringt dem leuchtenden „Wolkenbogen“ des Heiligen Geistes und kreist spiralförmig im Engel wie in Maria, um anschließend den Erdball zu umrunden. So sehr der Heilige Geist Maria überschattet und sie mit dem Engel zusammen umgibt, so sehr erfüllt er auch den Botschafter wie die Empfängerin. Wie der Heilige Geist den Engel zu Maria bewegt hat, bewegt Er Maria und lässt sie fruchtbar werden.

Was mit Maria geschah, ist und bleibt einmalig. Doch Gott möchte in jedem von uns Mensch werden, jeden von uns mit seinem Heiligen Geist erfüllen. Insofern richtet sich die Verkündigung nicht nur an Maria, sondern an jeden von uns! Die universelle Botschaft bringt der norwegische Dichter Svein Ørnulf Ellingsen in einem vom Magnifikat inspirierten Text in poetischen Worten zum Ausdruck:

Gottes Lob wandert und Erde darf hören.

Einst sang Maria , sie jubelte Antwort.
Wir stehn im Echo der Botschaft vom Leben:
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Der Hohe schaut die Niedrige an.
Halleluja, Halleluja.

Wunder der Wunder: Für uns wirst du Mensch, Herr!
Lass doch das Lied, das Maria uns lehrte,
Brücke der Freude sein, die uns zu dir führt.
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Er denkt an uns, hilft Israel auf.
Halleluja, Halleluja.

(Kath. Gesangbuch der Schweiz, Nr. 762, 1.+3. Strophe)

Friedensglocke

Von Glocken kennen wir meistens nur deren Klang, seltener ihre Gestaltung, Symbolik und deren Bedeutung. Bei der Friedensglocke von Straßburg, die fast 600 Jahre nach dem Bau der Kathedrale dem Glockengeläut beigefügt worden ist, haben wir die Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten.

Luftige Gestalten hat der Künstler Tobias Kammerer auf ihrer Außenseite angebracht. Sie umgeben  die Glocke, scheinen auf ihr zu tanzen. Sind es Engel? Oder sollen sie einfach wie die Glockentöne Botschafter des Friedens sein? Was in zwei Sprachen auf dem Glockenrand geschrieben steht …

Friedensglocke aus Karlsruhe
für Strasbourg im Jahre 2004
Freude dieser Stadt bedeute –
Friede sei ihr erst Geläute!
Que la première sonnette signifie –
joie et paix pour la cité !
Que les cloches sonnent pour la paix.

… wird in einer für alle Völker verständlichen Sprache und in eindringlichem Ton – mahnend, ermunternd – vom Turm herunter verkündet. Haben die engelsgleichen Wesen nicht eine entfernte Ähnlichkeit mit Notenschlüsseln? Entschlüsseln, offenbaren sie nicht eine himmlische, ja paradiesische Botschaft mit dem Frieden?

Die Engel tragen doch den Frieden Gottes als stimmigen Ton, als Grundton, der alles Leben ermöglicht und schön macht, in sich. Rund um die Glocke tragen sie diese Botschaft, wie rund um den Erdball, der den Frieden so nötig hat. Haben deshalb die flach ausgeführten Engel eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kontinenten und Inseln im weiten Meer?

Bei der Geburt Jesu brachten die Engel die frohe Botschaft zuerst zu den Hirten, die Schafe hüteten (Lk 2,10-14). Die Hirten könnten für alle Menschen stehen, die Verantwortung tragen für andere Lebewesen, Menschen, Tiere und Pflanzen! Gilt nicht ihnen allen – und nicht nur zur Weihnachtszeit – diese Frohbotschaft des Friedens? Weil letztlich nicht nur wir Menschen den Frieden brauchen, sondern die ganze Erde, auch der Boden, der uns trägt und ernährt!

„Zu einem Leben in Frieden hat Gott euch berufen,“ schreibt Paulus seiner Gemeinde in Korinth (1Kor 7,15). Mit dem Geschenk an die Stadt Strasbourg, wo das Europaparlament seinen Sitz hat, setzt die Stadt Karlsruhe ein Zeichen der Freundschaft und des Friedens über Sprach- und Landesgrenzen hinweg.

In dieser Glocke tönen eindringlich Jesu Grußworte an seine Jünger wieder: „Friede sei mit euch!“ (Lk 24,36) In jedem Gottesdienst werden wir mit diesem Wort begrüßt und bestärkt, die Sendung der zweiundsiebzig Jünger fortzusetzen, die in alle Städte und Ortschaften gehen sollten, in die Jesus selbst gehen wollte. „Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. … Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: FRIEDE DIESEM HAUS!“ (Lk 10,1-5)

Lebensnerv

Ein blauer Engel und ein grünes Band präsentieren sich unseren Augen. Der Engel hat die Hände gefaltet, die Augen in sich gekehrt geschlossen. Die lebendige Pinselführung und die verschiedenen Blautöne weisen aber darauf hin, dass in ihm einiges in Bewegung ist. Der Engel schwebt in dieser anbetenden Haltung vor dem gelben Hintergrund – Symbol der Herrlichkeit Gottes – , dem grünen Band zugewendet. Dieses durchquert das Bild in seiner ganzen Höhe und scheint ein Ausschnitt eines viel längeren Bandes zu sein, welches das Oben mit dem Unten miteinander verbindet.

Was es wohl zu bedeuten hat?

In seinem Innern sind waagrechte Elemente zu erkennen, welche an die Himmelsleiter erinnern, die Jakob im Traum gesehen hat, und auf der unaufhörlich Engel auf- und absteigen (Gen 28,12), um Botschaften von einer Welt in die andere zu tragen: Von Gott zu den Menschen – von den Menschen zu Gott. Nach dem Wörterbuch der Symbolik (Lurker, 267) ist die Farbe Grün als Farbe der Erwartung und der Hoffnung auch die Farbe des „Auf-dem-Wege-Seins!“

Für den Künstler Tobias Kammer erinnert jedoch „das Grün des Bandes an die Grünkraft der Hildegard von Bingen. Für sie war Grün Ausdruck reiner Lebensenergie, die aus Gottes Schöpferkraft und der Erneuerungskraft des Heiligen Geistes selber kommt.“

So gesehen wird die grüne Himmelsleiter zum Lebensnerv schlechthin für den Menschen, zur lebensnotwendigen Nabelschnur, welche das „Kind“ mit allem versorgt, was es zum Leben braucht. Das Grünband wird auch zur „Wirbelsäule“ des Glaubens, durch die der Körper aufrecht gehalten wird und durch die alle „Lebensenergien“ laufen, um diesen Körper mit  dem Kopf verbunden zu leiten.

Ein überraschendes Bild für die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Doch schon der Apostel Paulus verwendet es in seinen Briefen, wenn er schreibt: „Er, Christus, ist das Haupt, von dem aus der ganze Leib durch Gelenke und Bänder versorgt und zusammengehalten wird und durch Gottes Wirken wächst.“ (Eph 4,15c; Kol 2,19b)

Über dieses Werk Gottes kann der Engel nur staunen und es durch sein Gebet bewachen. Dass nichts diese einmalig schöne und wertvolle Beziehung zerstöre – ja vielmehr durch eine vertrauensvolle Offenheit für Gottes Wirken durch die Menschen gefördert wird.

Thron Gottes

Außergewöhnlich, seine Form und sein Material. Gegenüber den meisten anderen Altären aus Stein ist dieser Altar achteckig und aus Bronze. So hat er mehr die Gestalt vieler Taufbecken, die in Erinnerung an den „neuen Tag“ der Auferstehung des Herrn acht Seiten haben (7 + 1).

Doch wieso soll ein Altar nicht an die Taufe erinnern? An ihm wird doch das Geheimnis des Glaubens gefeiert: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir; und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit!“ Im Sakrament der Taufe sind doch die Menschen mit Christus “gestorben” und mit ihm als durch die Gnade neu geschaffene Gläubige auferstanden. Von nun an versammeln sie sich um den Tisch des Herrn, den Altar, um seine Gegenwart unter ihnen zu feiern.

Dem Volk zugewandt präsentiert der Altar in der ganzen Höhe sein glänzendes „Innenleben“, das auch im Sockel erkennbar ist. In seiner Mitte steigt vom Boden wie ein Baumstamm das Tau-Kreuz empor, um unter der Tischkante den ganzen Altar zu umfangen. Kreuz und Altar verschmelzen hier zu einer Einheit, weil derjenige, der für uns am Kreuz gestorben ist,  sich uns auf dem Altar in Gestalt von Brot und Wein schenkt.

Wie ein Tischtuch werden die anderen Seiten des Altars von einem Relief in dunkleren Brauntönen umgeben. Die darauf zu erkennenden helleren Linien signalisieren Bewegung, tönen Freude an. Beim nahen Hinsehen sind Engelsgestalten erkennbar, die den Altar umgeben.

Der Künstler scheint hier in freier Form die Vision des Propheten Jesaia aufzugreifen, in der er den Thron des Herrn von Seraphim umgeben sah, von denen jeder sechs Flügel hatte. Sie rufen einander bei Tag und Nacht ohne Unterlaß zu: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere, von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt. (Jes 6,1-3 sowie Offb 4,1-11).

Der Altar als irdischer Thron Gottes! Der Altar als Thron seines Sohnes Jesus Christus, auf dem dieser im Sakrament der Eucharistie „erhöht“ in der Mitte seines Volkes gegenwärtig wird, um es zu sammeln und zu stärken.  Hier wird Jesu Wort zeichenhaft und sichtbar in einen liturgischen Vollzug gestellt: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“ (Joh 3,14-15)