Anbetender Engel

Linear heben sich über den blauen Farbflächen menschliche Körperteile ab: ein Gesicht, Hände, Füße, Knie. Auffallend die uns vollflächig zugewandten Hände. Gebieten sie Halt, wehren sie ab oder sind sie offen für eine andere Wirklichkeit?

Die menschenähnliche Gestalt ist schwer zu fassen. Vom Kopf ist nur das Gesicht sichtbar, die Beine sind nur angedeutet, der Oberkörper besteht hauptsächlich aus Flügeln. Bei diesem geistigen Wesen scheint die Botschaft wichtiger zu sein als seine Gestalt. Diese ist ganz in den Farben des Himmels gemalt, allerdings auch von einem zarten Rosa durchdrungen, das von oben her durch den Engel hindurchzufließen scheint. Widerspiegelt dieses Rosa zusammen mit dem Weiß und dem Gold die Herrlichkeit Gottes, die sich ihm vom oberen Bildrand, symbolisiert durch einen Halbkreis, zuneigt? Leuchtet nicht in des Engels Hand- flächen der gleiche Lichtglanz auf wie im Kreissegment, das für Gott steht?

Dieser Engel kommt von Gott. Er ist von Gott durchdrungen und beseelt, ganz auf Ihn ausgerichtet. Auf dem linken Bein kniend, erweist er Gott die Ehre. Seine in Orantenhaltung erhobenen Hände weisen darauf hin, dass er betet, das in seinen Händen spiegelnde Licht, dass er Gott anbetet. Er könnte dies in stiller Anbetung tun, im liebenden Zusammensein mit dem, der ihn liebt. Die Symbole von Sonne und Mond auf seinen Flügeln lassen aber auch an Psalm 8 denken:

 

Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde; über den Himmel breitest du deine Hoheit aus.
Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob, deinen Gegnern zum Trotz; deine Feinde und Widersacher müssen verstummen.
Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt:
Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst,
des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.
Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt:
All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht.
Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde!

Vor Gott knien und beten. Die offenen Hände des Engels gebieten uns beim ersten Anblick innezuhalten. „Halt an, wo rennst du hin? scheint er zu sagen. Dann laden die Hände mit den mit Augen vergleichbaren Lichtern zu neuem, bewusstem Sehen und Staunen der Schöpfung ein. Wie wunderbar doch Gott alles geschaffen hat. Und so führen uns des Engels erhobene Hände wie seine ganze Haltung in eine tiefe Dankbarkeit, die immer wieder Gottes unendliche Liebe lobpreist: Im stillen Gedenken, mit eigenen Worten oder den Worten eines anderen.

Lebendiger Kirchenraum

Mit seinem Chorbild lehnt sich Dietrich Stalmann an die gotischen Altarretabel an, deren Flügel unterschiedlich bemalt und entsprechend dem Kirchenjahr auf- oder zugeklappt waren. Mit seiner Kirchenjahresstele verfolgt der Künstler dasselbe Ziel. Die Bilder wollen in das Zeitgeschehen einbezogen werden, sie wollen Veränderung mitmachen, durch die Veränderung immer wieder neu ansprechen.

Die Kirchenjahresstele wird aus einem senkrechten Element gebildet, in das der liturgischen Zeit entsprechend drei verschiedenfarbige Tafeln eingesetzt werden können. Violett in der Advents- und Fastenzeit, Gelb in den Festzeiten, Grün im restlichen Jahreskreis. Ohne Bilder vermittelt sie gerade in der Fastenzeit eine befreiende Leere, die zum Denken anregt. Der Bildentzug signalisiert Buße, Einkehr, Umkehr. Zusammen mit der waagrechten Stahlschiene für die Aufnahme der Bilder erinnert die Stele entfernt an ein Kreuz.

Waagrecht können drei Bildtafeln der Stele vorgehängt werden: Georg, Maria, der Engel Gabriel. Wahlweise allein, zu zweit oder zu dritt. Der hl. Georg als Kirchenpatron übers Jahr auf der grünen Stele, Maria und der Engel in der Adventszeit auf der violetten oder an Marienfesten auf der gelben Stele. Mit allen drei Bildtafeln entfaltet die Kirchenjahresstele ihre Vollgestalt und kündet mit ihrer dynamischen Farb- und Formgebung von der Geistigkeit des Glaubens. Glauben ist etwas Unfassbares. Genauso wie Gott immer der ganz Andere sein wird. Doch durchweht nicht Gottes Geist die ganze Schöpfung und hilft ihr in der Erkenntnis Gottes? (vgl. „Der Geist des Herrn erfüllt das All …“ Kath. Gesangsbuch der Schweiz, 232) Brennt nicht seine Liebe in unseren Herzen? (Röm 5,5)

Mein Blick geht in das unendliche Feuer der Liebe Gottes, lässt mich die Weite Gottes erfahren (Ps  36,6) und etwas von der explosiven Kraft des christlichen Glaubens spüren.

Erst im Nähertreten sind die vom Heiligen Geist erfassten Gestalten von Maria, Georg und dem Engel zu erkennen. Georg als Kirchenpatron in der Mitte. Mit der Lanze den Drachen tötend ist er uns Vorbild im ehrenhaften und mutigen Kampf gegen das Böse. Wie er der Legende nach damals die Königstochter vor dem Tod bewahrt hat, mag er auch heute helfen, die Kirche Christi zu beschützen.

Maria wird gerade vom Engel besucht. Ganz ins Blau des Glaubens gehüllt, neigt sie sich von der göttlichen Botschaft überwältigt nach hinten. Was soll mit mir geschehen? Was hat Gott mit mir vor? Sinnfragen des Lebens klingen in ihrer Haltung an, die gerade in der Begegnung mit Gott noch spürbarer werden. Der Engel ist von grünen Farben umgeben – der Farbe des Lebens. Mit der Botschaft, dass sie den Sohn Gottes empfangen wird, bringt der Engel ihr keimendes Leben, Hoffnung für alle Menschen, die wie Maria glauben, dass sich Gottes Wort an ihr erfüllt. Jeden Tag und in jeder „Jahreszeit“ des Lebens wieder neu und anders – in der Kraft des Unfassbaren, alles durchdringenden und heiligenden Geistes Gottes.

Verkündigung

„Freue dich Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,30-33)

Die Botschaft des Engels an Maria sprengt alles menschlich begreifbare. Kein Wunder fragt Maria zurück: Wie soll das geschehen? Dietrich Stalmann will mit seiner Malerei dieses unbegreifliche und damit geheimnisvolle Geschehen aufgreifen. Seine leuchtenden Farben und die ungegenständlichen Formen bringen die göttliche Gnade zum Ausdruck, das Wirken des Heiligen Geistes.

Als Grundlage seines Bildes verwendet der Künstler die SW- Fotografie einer Verkündigungs- Ikone aus dem 17. Jahrhundert. Davon sind nur noch die Köpfe von Maria (mit Heiligenschein) und dem Engel deutlich zu erkennen. Das Wesentliche des alten Gemäldes ist beibehalten worden, in der Tradition der Kirche respektiert. Alles andere ist unter der Neuinterpretation von Dietrich Stalmann verschwunden.

Auffallend ist die Anordnung der Farben. Blau, Weiß und Braun unten, Gelb und Grün oben. Dann größere lockere Elemente von links oben vor dem Engel durch, die vor Maria kleiner werden und festere Formen annehmen. Eine von der schwarzen Ecke ausgehende Bewegung ist somit feststellbar, die unsere Augen zu Maria führt und dort auf ihrem Schoss ruhen lässt. Wir erfahren die Botschaft des Engels.

Durch das Absenken der blauen, weißen und brauen Farbflächen in die untere Bildhälfte wird auch die Kraft Gottes spürbar, die über Maria kommend in ihre Welt einbricht. Wie in einer mystischen Schau werden wir Zeugen, wie Gottes Geist im gelben Licht zu Maria kommt (große gelbe Fläche) und sie durch ihr „Ja, mir geschehe nach deinem Wort“ zur „Lichtträgerin“ (kleine gelbe Fläche), Gottesgebärerin und -mutter wird. Zärtlichkeit spricht aus dieser Begegnung, in der Gott auf so einmalige und segensreiche Weise einen Menschen berührt hat.

Meine Augen bleiben unersättlich in dieser nicht enden wollenden Berührung – Gott will auch in mir Mensch werden –, bis sie vom gelben Feuerlicht wieder nach oben geführt werden, wo sie an zwei weiteren gelben Flächen hängen bleiben. Ihre schmalen länglichen Formen erinnern mich an das Kreuz, an das Ende des irdischen Lebens von Jesus. In seiner gelb leuchtenden Form spricht es allerdings auch von der Auferstehung, dem ewigen Leben bei Gott. Das tut gut.

Umgekehrt gesehen können die drei gelben Flächen auch als Symbol für die Dreifaltigkeit gedeutet werden. Vater und Sohn sich gegenüber im Dialog, von ihnen ausgehend der Heilige Geist. – Die „Verkündigung“ verkündet uns, dass Gott ununterbrochen sich in alle Menschenherzen eingießt, die für ihn offen sind.

Erinnerungen …

Ein Engel mit Schwert. Ein Racheengel? Er schaut in die von gelbem Feuerschein erleuchtete Türöffnung. Was hat er vor? Der rot angemalte Türrahmen verweist uns auf die Pascha-Nacht, die Nacht vor dem Auszug der Hebräer aus der Sklavenschaft in Ägypten (Ex 12,7). Gott hatte angekündigt, durch Ägypten zu ziehen und jeden Erstgeborenen bei Mensch und Vieh zu erschlagen. „Über alle Götter halte ich Gericht, ich, der Herr. Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll ein Zeichen zu eurem Schutz sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorbeigehen und das vernichtende Unheil wird euch nicht treffen … (12,12f).

Das Bild ist ein Ausschnitt aus einen größeren Ganzen. Die Reproduktion eines Gemäldes von Gebhard Fugel von ca. 1930 wird wiederverwendet mit einer Fokussierung auf den gehenden Engel, der mit geballter Faust und gezogenem Schwert durch die Straßen Ägyptens geht. Hinter ihm liegt ein Toter auf der Straße, vor ihm die hell erleuchtete offene Türe, in die sein Blick hineinschweift. Er wird vorübergehen und die Hebräer am Leben lassen. Gott geht es um das Leben, Gott rettet!

Der Künstler hat das Bild durch drei „Anhängsel“ mit keulenartigen Formen ergänzt. Eigenartig! Was soll das? – Sie sehen aus wie getrocknete Fleischstücke, sind aber aus Wachs. Ein Bild wird aufgehängt. Aber etwas am Bild aufhängen? Doch ist eine Vergegenwärtigung nicht an Erinnerungen festgemacht – aufgehängt? Sind Erinnerungen nicht wie mit Wachs konservierte, haltbar gemachte Erlebnisse, die wir zur gegebenen Zeit „hervorholen“, aus der Vergangenheit „abhängen“, um von ihnen – ihrer in der Gegenwart gedenkend – von neuem zu leben?

Für den Künstler sind die in seinem Werk immer wieder auftauchenden Gefäßformen „Behältnisse der Erinnerung – der Energie“. So sind ihm die drei langgezogenen Objekte „verlorene Seelen“, die auf die Gewalttätigkeit des alttestamentlichen Motivs reagieren.

Mir kommt es vor, als möchte der Künstler uns durch seine ungewöhnliche Arbeit auf eindringliche Weise bewusst machen, dass Gottes Boten auch heute noch unterwegs sind – nach Menschen suchend, die bereit sind, sich von ihrem Gott auf einen spannenden Weg des Vertrauens und der Freiheit führen zu lassen. Das erinnernde Gedächtnis an das Pascha-Fest möchte uns auch heute ein Segen sein, Gottes Nähe erfahren lassen.

Gott erwarten

Drei blaue Senkrechten verbinden das Oben mit dem Unten. Vom Himmel erfüllt, vom Licht durchdrungen, sozusagen. Im Mittelfeld des Fensters werden sie von einem dunkleren, horizontal gegliederten Element überdeckt, das sich in der Mitte für eine dreifache Kreisform mit einer Hand und sieben Sternen darin öffnet. Davor sieben rote Flammen in gelbgoldenen Leuchtern.

Beeindruckend hat der Künstler Helmut Kästl den Anfang der Offenbarung des Johannes mit ganz wenigen symbolischen Elementen ins Bild gesetzt.

Für Gott steht der dreifache Kreis. Gott ist ohne Anfang und ohne Ende. „Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.“ (Offb1,8). Gott ist dreifaltig: Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Dieser Gott offenbart sich den Menschen. Seine rechte Hand, ein Zeichen der biblischen Symbolsprache, zeugt von seiner Zuneigung zu den Menschen. In der Offenbarung des Johannes neigt Gott sich den vom römischen Kaiser Domitian (81-96 n. Chr.) verfolgten Christen zu. Sie sieben roten Flammen stehen symbolisch für die sieben Gemeinden und ihren Glauben.

Zu ihnen werden sieben Engel gesandt, um sie auf die guten und mangelhaften Seiten ihres Glaubens hinzuweisen und in der Treue zu ihrem Gott zu stärken. Wie im Buch der Offenbarung werden auch in unserem Glasbild diese Engel der Gemeinden durch Sterne dargestellt. Bei Gott wohnende Lichtwesen sind sie, als Boten zu den Menschen gesandt. Zärtlich schön hat Helmut Kästl diese Bewegung dadurch dargestellt, dass ein Stern in der Hand Gottes ruht und ein weiterer bereits auf der unter der Hand waagrecht aus dem Kreis herauslaufenden Linie auf dem Weg zu seiner Gemeinde ist.

Diese stehen im Dunkelblau der prüfenden „Nacht“ des Lebens, aber gleichzeitig im sich wellenförmig ausbreitenden Bannkreis der göttlichen Liebe. Die Gemeinden stehen im Grenzbereich, werden umkämpft. Die Engel sollen ihnen zu Hilfe eilen in ihrem Kampf um die Wahrhaftigkeit, die Liebe, die Treue. Wer siegt, dem wird vom Baum des Lebens zu essen gegeben (2,7), sein Name wird nie aus dem Buch des Lebens gelöscht werden (3,5) und er darf mit Christus auf dem Thron Gottes sitzen, so wie auch Christus gesiegt hat und sich mit seinem Vater auf seinen Thron gesetzt hat (vgl. 3,11).

Wo Gott sich offenbarend in die Erde einsenkt, da geht es um viel: um die Lebendigkeit und das vom Geist durchglühte Leben jedes Menschen. Es gehört Gott, er ist sein Schöpfer. Er wehrt sich mit Liebe und Selbsthingabe, wo Menschen und Mächte versuchen, es Ihm wegzunehmen. Steht deshalb vielleicht schwarz und mahnend in der Mitte der göttlichen Offenbarung das über alles hinauslaufende Kreuz?

„Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen“, sagte Jesus in seiner Stunde der Entscheidung (Joh 12,32). Solange wir in dieser Welt sind, wird Gott durch seine Boten zu uns sprechen und uns für sein Heilswirken in Jesus Christus sensibilisieren. Wir sind in unseren Kämpfen und Entscheidungen nicht allein, Gott steht uns bei, alle Tage, offenbarend eingesenkt in unser Leben. Das will uns auch diese Advents- und Weihnachtszeit wieder neu bewusst machen.

Ein Engel – für mich?

Der Engel in der Bildmitte lässt auf eine Verkündigungsszene schließen. Er stammt tatsächlich aus einem alten Verkündigungsbild vom Meister der Münchner Bildtafel (15. Jh.). Aber wo ist Maria? In der Blickrichtung des Engels rankt eine goldgelbe Blättergirlande durch das Bild, den Engel von den rechts davon befindlichen Knochen trennend. Auch der Hand des Engels folgend erhalten wir eine verwirrende Antwort: „Die frisch abgezogene Haut muss rasch konserviert“ … Zudem sind unten und oben Doppelstangen von einem großen rechteckigen Rahmen zu sehen. Die Stangen führen uns hinter den Engel zu weiteren Knochen, die von einem menschlichen Arm zu stammen scheinen.

Neue Entdeckung: Linien von Kleiderschnittmustern, die ganz fein hier und dort auftauchen und die einzelnen Elemente miteinander verbinden. Aber wozu Stoffe zuschneiden, wenn der Engel schon so üppig gekleidet ist und auch die Knochen mit einem filigranen Gewebe wie von einem Kleid umgeben sind? Vielleicht will uns die Stofflichkeit – das Material, das uns wesentlich eigen ist – näher gebracht werden: Die Knochen – oder das Gestänge –, die uns tragen; die Haut – oder das Leder oder die Stoffe –, die uns bedecken und uns schön und ansehnlich machen. So sehr es um die Oberfläche geht, werden wir auch in die darunter liegenden Schichten geführt, damit wir uns mit ihnen auseinandersetzen.

Ganz links auf ziegelrotem Grund ein technischer Text über das Gerben, d.h. das Konservieren von Tierhäuten. Kontrastierend zum Johanneswort: „… und das Wort ist Fleisch geworden …“ (1,14) wird vom Haltbarmachen der Haut gesprochen, weil das Fleisch verweslich ist. Aber der Engel bringt als verlängerter Arm Gottes die Botschaft der Menschwerdung Gottes auf die Erde – zu den Menschen. Gleichsam auf seinem Rücken trägt er das ewige (aller Zeit und Vergänglichkeit entgegengesetzte) göttliche Wort, das in den Knochenfragmenten bereits Menschenähnlichkeit angenommen hat. Aus einer anderen Welt kommt der Engel in unsere Welt. Die zerschneidende Doppellinie mitten im Bild und der Übergang von Grautönen zu einer dezenten Farblichkeit betonen das Auftauchen aus einer geistigen Welt. Trotz ihrer Farblosigkeit – die eben die für unsere Augen verborgene Welt bezeichnet – wird sie durch das goldene Blumenmotiv als göttliche Welt deklariert. Aus den vielen „Stoffschichten“ taucht er in unserer Welt auf und bringt weiterhin die Botschaft des Lebens. Nicht nur Maria – seine Einsamkeit scheint zu sagen – uns allen.

„El ángel quedó a cargo de encausar mi palabra, mi oido, mi deseo“, steht in verwischter Handschrift neben dem Engel. Dieser Satz von der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit könnte folgendermaßen übersetzt werden: “Dem Engel ist aufgetragen, über mein Wort, das was ich höre (im Sinne von Wahrnehmung), und meine Sehnsucht zu richten.” Mit diesem Wort führt uns die Künstlerin noch weiter in die Tiefe der Gottesbegegnung. Steht der Text doch auf dem gleichen „göttlichen“ Goldgelb wie der Heiligenschein. Geschieht und vollendet sich unsere Menschwerdung nicht dort, wo all unser Sehnen und Tun sich von Gottes Licht durchleuchten und richten (gerade, rechtschaffen machen) lässt? – Wie bei Maria?