Raumhoch erhebt sich hinter dem überlebensgroßen barocken Kruzifixus eine goldfarbene Gitterskulptur. Transparent steigt das moderne Retabel im Chorraum der katholischen Pfarrkirche St. Laurentius im oberbayerischen Mühldorf am Inn vom halbrunden Altar auf und verbindet so das in der Eucharistie gefeierte Sakrament mit dem darüber hängenden Kreuz. Dabei nimmt die Skulptur die halbrunden Formen ihrer Umgebung auf und verbindet so den sich im Halbkreis vom Boden erhebenden Altar mit dem sich vom Himmel senkenden Chorbogen und den dahinterliegenden Wiederholungen im Deckengemälde und im Stuckbogen.
Die Gitterskulptur besteht aus einem unregelmäßigen Netz von Verbindungen, so dass das Licht des barocken Chorfensters es dennoch durchdringen und einen lichten Heiligenschein für den Gekreuzigten bilden kann. Das goldfarbene Netz bildet einen anders leuchtenden Bereich der Ausstrahlung Jesu, der viele Möglichkeiten der Betrachtung und der Deutung offen lässt.
Spontan mag die großflächige Netzskulptur in Verbindung mit Jesus an ein Fischernetz erinnern und an die Berufung der ersten Jünger, die Fischer waren und ihre Netze auswarfen: “Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. ” (Mk 1,17). Oder es erinnert an die Erzählungen von den wunderbaren Fischfängen, in denen die Jünger der Auffordung Jesu geglaubt hatten, ihre Netze trotz vieler vergeblicher Versuche nochmals auszuwerfen und dann einen übergroßen Fang ins Boot ziehen konnten (Lk 5,1-11; Joh 21,1-14). Das Retabel stellt damit eine andauernde Einladung zur Nachfolge Jesu dar. Es visualisiert den Auftrag an alle Gläubigen, Menschenfischer zu sein, uns für das Wohl der Menschen einzusetzen und sie dadurch für Gott zu begeistern.
Formal knüpft das Netzgebilde an die Faltenstruktur des Lendentuchs Jesu an. Darüber hinaus bildet es einen von Jesus ausgehenden heiligen Bereich, der sich aus dem ihn umflutenden Licht heraus in den Verknüpfungen konkretisiert und materialisiert. Es bildet eine Art “Heiligen Schein”, der uns den Weg von der Erleuchtung oder Begeisterung zur aktiven Handlung aufweist. Es ist ein transparenter Prozess, bei dem Begegnungen und Verknüpfungen eine wesentliche Rolle spielen. Das Netzgebilde verdeutlicht Jesu Auftrag (wie er damals) in unserer Zeit “Networker” zu sein, soziale Netzknüpfer. Netzwerker der Liebe zu sein, die an einer haltgebenden und stabilen Struktur für alle Menschen arbeiten.
In dem Sinne bietet die große Netzskulptur unendlich viele Anknüpfungspunkte für alle Sinn- und Haltsuchenden. Gerade die Verbindungen zwischen den einzelnen “Knoten” bieten von unten bis oben perfekte Griffe, um sich in der Not festzuhalten und im Verlaufe des geistlichen Lebens vielleicht auch hochzuziehen. So kann sie als Rettungsinsel für alle Verlorenen und Hilfesuchenden gesehen werden wie auch als geistliche Kletterwand, bei der die Gnade wie die Liebe gleichermaßen wichtig sind.
In der Mitte ist das Retabel dünn ausgebildet. Zu beiden Seiten hin vervielfachen und verdichten sich die Verknüpfungen und verstärken so den konkaven Effekt. So kann die Netzskulptur auch als große geöffnete Schriftrolle gesehen werden, die den Gekreuzigten als das Licht der Welt offenbart, als das Lamm Gottes, das die Schuld der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29). Beide Metaphern reihen sich nahtlos in das bereits Erarbeitete ein. Denn an das Lichtwort “Ich bin das Licht der Welt.” in Joh 8,12 fügt Jesus hinzu: “Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.” Und wer wie Jesus in Liebe gerade den Menschen in Not und Elend begegnet, ihnen hilft, die Not zu wenden und sie für ein Leben danach aufbaut, der handelt barmherzig wie Gott (vgl. Lk 6,36) und beteiligt sich auf seine Weise, die Schuld der Welt zu reduzieren.
Zusammenfassend kann der das Kreuz hinterfangende Netzkörper als Symbol für das Wirken Jesu gesehen werden, als eine Visualisierung der von ihm ausgehenden Liebe für alle Menschen. Die einzelnen Netzstäbe sind wie Arme, die einander halten und so ein Netzwerk bilden, das andere aufzufangen und einzubinden vermag. Es bildet ein Netzwerk der Liebe, dessen Mittelpunkt und Ausgangspunkt Jesus ist. Es bildet ein Netzwerk der Liebe, das uns stets Vorbild, Ermutigung und Erinnerung ist.
Da ist es gut, dass die verbindende Netzstruktur der Liebe sich in der Kirche und über das Gebäude hinaus fortsetzt: Geometrischer geprägt auf den Türen des Tabernakels im rechten Seitenschiff, amorpher zu finden in der unregelmäßigen Putzstruktur der Säulen und in dem durch das Südfenster (das sich über dem im rechten Seitenschiff freistehenden Tabernakel befindet) gerade in der Nacht nach außen leuchtenden ewigen Licht, das nonverbal die Botschaft Jesu und der Kirche verkündet: Du bist nicht allein. Ich bin auch wach. Du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich bin gerne für Dich da!