“Reichenauer Künstlertage” diskutieren über Kirchenräume, Lebensgefühle und Glauben
Bericht von Jürgen Springer in der Zeitschrift: Christ in der Gegenwart 47/2006
Die Enquete-Kommission des Bundestags „Kultur in Deutschland” hat festgestellt, daß die Kirchen zu den zentralen kulturpolitischen Trägern des Landes gehören. Etwa ein Fünftel des Kirchensteuer-Aufkommens wird in kulturelle Belange investiert. Das ist im Verhältnis mehr, als der Staat derzeit dafür aufbringt. Das Christentum hat die Künste viele Jahrhunderte lang geprägt und gefördert. Kirchen waren und sind Auftraggeber für Maler, Architekten, Komponisten … Zugleich brachte die neuzeitliche Emanzipationsgeschichte auch etliche Spannungen zwischen Kunst und Kirche, mit vielfältigen Abbruchen, mit Verlusten. Ein schwieriges Verhältnis.
Um so mehr überrascht es, was Markus Lüpertz, einer der bedeutendsten Maler und Bildhauer der Gegenwart, neulich in der Zeitschrift „Politik und Kultur” (5/2006) über die Verantwortung der Kirchen für die Kunst gesagt hat. Das Christentum stehe für ein unvergleichliches Zeugnis bildender Kunst. Daraus erwachse ihm „ein großer Auftrag”: Qualitäten zu schulen und selber mit dem Anspruch „höchster Qualität” an das künstlerische Schaffen der Gegenwart heranzutreten. Beispiele solch gelungener Dialoge gibt es: die Kunststation St. Peter in Köln, das „Kulturzentrum Minoriten” in Graz oder das Diözesanmuseum in Freising.
Lüpertz, Rektor der Kunstakademie Düsseldorf, fordert die Christen auf, diesem ureigenen Anspruch mit höchster Anstrengung treu zu bleiben. Hier gehe es um Kontinuität, um Glaubwürdigkeit, um die Sichtbarmachung des Frommen „oder die Sichtbarmachung Gottes”. Dazu dürfe man nicht im Kleingeistigen, Kleinbürgerlichen steckenbleiben. Kirche solle vielmehr zeigen, daß sie in Sachen Kunst im Intellektuellen, im Gebildeten, im Wissen zu Hause sei.
Am Glauben hängt das Denken und das Lieben
Der 65jährige sieht die Christen in der Pflicht, vor allem Bildung über Kunst zu vermitteln. „Wir haben eine ganz massive Verblödung.” Wenn seine Kunst-Studenten das erste Mal die Akademie beträten, wüßten sie alles über Computer oder Autos. „Aber sie wissen kein Gedicht, sie wissen kein Buch, kein Geheimnis, keine Mysterien, keine Metamorphosen. Sie schreiben mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahren keine Theaterstücke, keine Liebesgedichte. Sie sind erstaunlich arm.” Sie kennen kaum die Bibel. Der Kunstunterricht an der Schule sei leider oftmals reine Bewußtseinsbewältigung und pure Pflichtübung. Bildung über Kunst verlange deshalb ein Anfangen beim Punkt Null. Nichts sei bei den jungen Leuten mehr vorauszusetzen. Doch der Künstler ist trotzdem positiv gestimmt: „Die Sache ist nicht hoffnungslos, sie ist nur mühseliger geworden.”
Künstler helfen Gott bei der Erschaffung der Welt. So sieht es der Katholik Markus Lüpertz. Deshalb seien sie „den Engeln sehr nahe”. Sie verheutigen Bild und Evangelium und erklären außerdem das Aufregende an der Welt. Hierbei spiele das religiöse Empfinden und Denken eine bedeutende Rolle. „Die christliche Religion steht für die großen menschlichen Themen, die dann zeitig und heutig interpretiert werden.” Was aber ist für Lüpertz Religion?
Zuerst ist sie eine Empfindung, die „Fähigkeit, empfinden und glauben zu können”. Wer sich auf diese Weltwahrnehmung einlasse, werde zu einem „sensibleren, angenehmeren Zeitgenossen”. Mehr noch: Die Fähigkeit zu glauben ist „existentiell wichtig”. Denn daran hänge das Denken, das Lieben, das Vertrauen. Und die Kunst, die dies vermittelt, knüpft an eine große Tradition an: „Die Welt wird gesehen, sie wird erinnert über die Kunst.” Insofern ist der Künstler immer auch Prophet und Prediger.
Wie aber zeigt sich der Umgang der Kunst mit dem Religiösen? Und was tun Christen für eine qualitätvolle Vermittlung zeitgenössischer Kunst? Welche Hoffnungen und Schwierigkeiten begleiten sie in diesem Prozeß? Seit Jahrzehnten befassen sich die „Reichenauer Künstlertage” mit diesen und ähnlichen Fragen. An den idyllisch gelegenen Tagungsort auf der Bodenseeinsel kamen auch in diesem Jahr 120 Mitglieder und Freunde der „Gemeinschaft christlicher Künstler” aus den Bistümern Freiburg und Rottenburg-Stuttgart zusammen, um drei Tage lang Vorträge auf hohem Niveau zu hören und zu diskutieren: „Harmonie Verlust – Ungleichzeitigkeit in Gestaltung und Andacht” lautete das Thema, das insbesondere viele jüngere Künstler auf die Reichenau gelockt hatte.
Die Gruppe der Jüngeren, das konnte man gut beobachten, hat eine andere Beziehung zum Glauben als die Generation der Über-Sechzigjährigen, die stark in den Impulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils verwurzelt ist. Für jene, die nach 1970 geboren sind, ist dieses Ereignis oft nur noch eine entrückte historische Größe. Die religiösen Anregungen für ihr künstlerisches Arbeiten in (Glas-)Malerei, Bildhauerei, Installationen… wird zumeist aus persönlichen Quellen gespeist: aus elterlicher Erziehung, Schule und Hochschule, aus Erfahrungen mit Exerzitien und Besinnungstagen, aus Gesprächen mit Geistlichen, aus eigener Anschauung. Die Glaubenserfahrung dieser Jüngeren ist geprägt durch das Zersplitterte, Getrennte, Zerfaserte in Gesellschaft, Politik, Kirche und Privatleben. Was aber heißt dann Harmonie?
Ein eigener Kirchenraum für jedes Milieu?
Das griechische Wort harmonia steht seit der Antike für „Fügung”, für „Bund” und eine gewisse Art von Ordnung. Es bezeichnet das Zusammenfügen von Entgegengesetztem und Verschiedenem zu einer Einheit. Bei Platon etwa war Harmonie Ausdruck des Wohlgeordneten zwischen Psyche und Kosmos, zwischen Innerstem und Äußerstem. Für Goethe galt „sinnliche Harmonie” als wesentliches Prinzip der schönen Künste. Für den Philosophen Schelling wiederum wurde die vollkommene, nur intuitiv erfaßbare Harmonie, die „Ineinsbildung” von Wirklichem und Idealem, allein in der Kunst sichtbar.
Mit Blick auf die Alltagserfahrung klingt das Wort „Harmonie” eher fremd. Viel eher ist von wachsender „Differenzierung” die Rede, auch unter Christen. Aber was bedeutet das zum Beispiel für Kirchenräume und für den Adressatenkreis der Liturgie, der Gottesdienste? Müßte man entsprechend der jeweiligen Lebensräume verschiedenster Milieus auch neue Glaubensräume schaffen, also zum Beispiel Seniorenkirchen für Senioren, Exerzitienkirchen für geistlich Bewegte, Intellektuellenkirchen für Wissenschaftler und Künstler? Wäre gemäß der früheren „ständischen” Trennung und Ordnung des Kirchenvolks heute ähnlich auf die verschiedenen Milieus zu achten, in denen sich die Gläubigen bewegen? ledern Milieu sein eigener Kirchenraum, seine eigene Liturgie, seine besondere Sakramentenspendung? Und sind damit alte Kirchen sinnlos geworden? Oder sollte man besser barocke, gotische, romanische Sakralbauten mittels moderner Kunst für alle gesellschafts-übergreifend gleichermaßen „verheutigen”? Wie aber geht das? Es gibt durchaus Überlegungen, verschiedenen Milieus verschiedene Liturgien, Sakralräume, Projekte anzubieten. Zugleich klagen manche – vor allem in den Städten – über das Wegbrechen von Traditionen und Bräuchen, über eine völlige Individualisierung, die eine übergreifende Gemeinschaftserfahrung des Kircheseins verhindert. Jeder Glaubensgruppe ihr „Geschmäckle”? Jede Gemeinschaft ein wenig „Sekte”?
Günter Hang, evangelischer Pfarrer in Lübeck, der von 1988 bis im letzten Jahr das dortige „Stadtkirchenprojekt” leitete, will sich solchen Befürchtungen nicht anschließen. Er nannte die Individualisierung „eine der schönsten Perspektiven” unserer Zeit. Ihr wichtigstes Moment sei die „Zerschneidung der einen Welt in verschiedene Leben” zugunsten der Lebenswirklichkeiten. Harig betrachtet es als größte Herausforderung, die Bereiche von Kunst, Wissenschaft, Staat, Kirche und Privatem so zusammenzuführen, daß in der Begegnung der Menschen das Leben reicher wird, gerade auch im Glauben. Freilich sind dies „Grenzgängereien”, wie er sich ausdrückt.
Harig, der im „Phänomen Stadt” und in ihrer auch religiösen Vielfalt der Anschauungen den wichtigsten Impuls für das Christentum wie für das neuzeitliche-säkulare Bürgertum sieht, berichtete von seiner Arbeit in Lübeck-Sankt Petri, einer gotischen Hallenkirche in der Altstadt, in der Gottesdienste, aufsehenerregende Ausstellungen, Konzerte und Vorträge den Kirchenraum zu einem vielbesuchten Ort der Bevölkerung gemacht haben. Diese Stadtkirche ist nicht mehr die exklusive Heimat einer Ortsgemeinde. Sie soll vielmehr ein „Kult-Ur-ort” der gesamten Stadt sein. Harig: „Unser Erleben ist doch, daß die Altstadtkirchen oft von Touristen voll und belebt sind. Aber wenn wir als Kirche (liturgisch) zu handeln beginnen, werden sie plötzlich leer.”
Solche Empfehlungen zu einer übergreifenden „kulturellen Diakonie” blieben auf der Tagung natürlich nicht unwidersprochen. Auch der Verdacht, daß Christen zu wenig die Gottesfrage als Wahrheitsfrage stellen, gab viel Diskussionsstoff. Wieviel religiöse Abkapselung ist sinnvoll, wieviel Annäherung notwendig?
Mit dem Skateboard das Gloria tanzen
Ein anderes Beispiel stellte der Theologe Hans Hobelsberger vor. Er hat in Oberhausen das Projekt „Jugendkirche Tabgha” mitentwickelt. Deren Selbstverständnis lautet: Wenn wir junge Leute in der Kirche haben wollen, müssen wir dort auch deren Ästhetik ernst nehmen. Zum Beispiel das „Skaten”, also die sportliche Art, sich auf einem Brett mit vier kleinen Rädern kunstvoll-akrobatisch zu bewegen. In einer Eucharistie-feier wurde von einigen Skatern das Gloria auf dem Skateboard „getanzt”. Oder: Mitten in die Kirche hinein wurde ein meterhohes Klettergerüst, ein Hochseilgarten, eingebaut. Es diente dazu, Wagnis, Risiko-, und Hilfsbereitschaft, Kameradschaft und Gemeinsamkeiten bei der Überwindung von „schmalen Wegen”, von Engstellen und Sackgassen einzuüben: der Höhen-„Kick” als Outdoor-Erfahrung indoor im Kirchenraum. „Zwischen Himmel und Erde” – so der Titel der Aktion – versuchte, die leiblich-existentielle Erfahrung des Kletterns mit der religiösen Vorstellung von Erlösung auf dem „Hochseil”, auf dem schmalen Grat des Lebens zusammenzubringen, ganz konkret, ganz wirklich. Aber waren die klassischen „Osterspaziergänge” und „Emmausgänge” nicht auch ein Versuch, die Erfahrung der Auferstehung leiblich greifbar werden zu lassen?
Hans Hobelsberger machte Mut, jugendkulturelle Events an besonderen Jugendorten der Kirche auszuprobieren. Freilich gilt auch hier der Anspruch der Qualität:-„“Wer sich auf den Markt der Jugendkultur begibt, darf nicht niveaulos dilettieren.”
Wieviel Einfluß ein qualitativ hochwertiges Kunstwerk auf die Wahrnehmung der Menschen hat, davon berichtete die Architektin Francine M. J. Hauben aus Delft. Sie leitet ein anerkanntes Architekten-Büro, dessen Bauwerke mittlerweile weltweite Beachtung finden. „Die Menschen wollen Gebäude, in denen die Sehnsucht nach dem Anderen, Höheren zum Ausdruck kommt.” Nicht eine Kultur der Ruinen sei das Ziel, sondern das Gefühl des Erhabenen. Das zeigte sie am profanen Neubau der Universitätsbibliothek von Delft auf, dessen Lichtführung der einer Kirche gleichkommt. Die katholische Friedhofskapelle St. Laurentius in Rotterdam wiederum wurde als eindrucksvoller „Durchgang” entworfen in Form einer Ellipse. Der Friedhofsbesucher oder der Tote wird symbolisch hingeführt zu einem anderen, neuen, ewigen Leben.
Meine Hände sind sein Hände
Wie zeitgenössische Künstler sich einen Zugang schaffen zum „Überirdischen” – dies war der Anstoß zur vielbeachteten Ausstellung „Gott sehen” in den Räumen der ehemaligen Kartause Ittingen im Schweizer Kanton Thurgau im Frühjahr. Dreizehn Künstler hatten mit zum Teil sehr eigenwilligen Arbeiten auf die ihnen gestellte Frage geantwortet: „Was verbindest Du mit Gott?” Die Kuratorin Dorothee Messmerberichtete von einem Kunstwerk, das besonderes Aufsehen erregte: San Keller baute Knetmasse auf und bat die Besucher, ihn selbst anhand einer Fotografie leiblich abzubilden. Es ging ums Mitschaffen wie um Grenzerfahrung: Wie läßt sich die Schöpfung„bilden”? Die New Yorker Künstlerin Louise Bourgeois hatte ein Metallkreuz („The Cross”) aufgestellt, an dessen Horizontalen am Ende zwei Hände angefügt waren, die wie echte Gliedmaßen aussahen. Meine Hände sind seine Hände. Seine Hände sind unsere Hände. Das Projekt sei so angelegt gewesen, daß im spirituell aufgeladenen Raum der ehemaligen Kartause Kunst nach dem „letzten Bild” sucht, erläuterte Dorothee Messmer. Sie habe viele Gruppen durch die Ausstellung geführt. Jedesmal habe es eine intensive Diskussion gegeben darüber, wie und ob Gott „darstellbar” ist. Aber, so Messmer, unser Denken geschieht in Bildern! Folgt daraus nicht ganz richtig, dass man sich immer ein Bild machen sollte – auch von Gott?´Mit einem Kreuz, das die Münchner Künstlergruppe „Empfangshalle”- der Name stammt vom ersten gemein samen Atelier der Bildhauer Michael Gruber und Corbinian Böhm – im naheliegenden Kloster Hegne ausstellte, wurde ein Kunstwerk präsentiert, dessen Ausstrahlung für die Gegenwart in hervorragender Weise Gültigkeit hat. Aus vielen einzeln aufgehängten Marmor-Stücken in Weiß entstand ein „Kreuz für das 21. Jahrhundert”, das im gleichnamigen Wettbewerb des Diözesanmuseums Freising. Anfang dieses Jahres ausgezeichnet wurde (vgl. CiG Nr. l, Titelbild). Das erdverbundene Steinmaterial scheint wie kleine Himmelskörper zu schweben, die von unsichtbaren Kräften angezogen sind. Leichtigkeit und Schwere, Immanenz und Transzendenz kommen anschaulich zueinander im Zeichen des christlichen Kreuzes. Eine Harmonie, die in der Gebrochenheit, in der Torheit, die das Kreuz ja auch symbolisiert, beispielgebend sein kann.