überschattet

Eine horizontale und eine vertikale Bewegungen kreuzen sich. Es ist ein Aufeinandertreffen einer fließenden Landschaft und einer menschlichen Erscheinung. Nicht neben- oder hintereinander, sondern einander durchdringend, quasi durch das andere Element hindurchgehend ohne sich – wie bei der Durchdringung von Wasserwellen – gegenseitig im jeweiligen Fluss aufzuhalten oder zu behindern.

Die horizontale Bewegung ist durch ihre farbliche Intensität stärker als die lineare Erscheinung in der Mitte. Die leuchtenden Farben und die leichte Schwingung haben etwas Warmes, Energetisches und Beschützendes an sich. Das dunkelgrüne Band wird oben und unten von dunklem Blau begleitet, während darunter Magenta und Rot wie Magma unter einem Vulkan glühen.

Die vertikale Bewegung erhebt sich breit abgestützt aus diesem glühenden Bereich, wobei eine Diagonale von rechts unten nach links oben für zusätzliche Dynamik sorgt. Zunächst wirken die in einer bestimmten 2021_Bernd_Nestler_Licht_Art_FIN_1 geschaffenen Linien abstrakt bewegt, dann ergeben sich allerhand konkrete Assoziationen bis plötzlich der schräg geneigte, aufmerksam blickende Kopf sichtbar wird, der auf breiten Schultern ruht. Es scheint ein inneres Schauen zu sein. Wie bei einem Vexierbild erscheint rechts oben ein kleinerer Kopf, der nach rechts blickt. Somit wird auch hier ein weiteres Durchdringen angezeigt.

Der Bildtitel “Die Sehnsucht des Geistes”  verrät einen Bezug zur Verkündigung an Maria. Auf die Ankündigung des Engels, dass sie schwanger werden und einen Sohn gebären werde, fragt Maria zurück: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“ (Lk 1,34f) Was bedeutet „die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“? In diesem Glaskunstwerk kommt der Heilige Geist nicht im traditionellen Symbol einer Taube zu Maria, sondern senkt sich wie ein engergiegeladener Nebel vorübergehend über und auf Maria.

Obwohl der Schatten nichts Wesenhaftes ist, gehört er biblisch gesehen zu den großen Wundern Gottes. Er bietet Kühlung und Schutz (vgl. Ps 36,8; 63,8) und ist als Abbild eng mit dem Wesen des Schattenspenders verbunden. Im der hebräischen Sprache lautet das Wort für Schatten – tsêl ähnlich wie das Wort für Bild – tselem. Die Überschattung Mariens steht dadurch in direktem Bezug zur Erschaffung des ersten Menschen, den Gott „als sein Bild“ – tselem erschaffen hat (Gen 1,27). Jesus ist der neue Adam, Gottes Neubeginn mit den Menschen. In Jesus offenbart Gott bis zum Tod am Kreuz (vgl. Hebr. 5,19) seine glühende Liebe zu uns Menschen, sein wahres Wesen. Moses hatte das Verlangen, Gott zu schauen, doch Gott verhüllte sein Angesicht. Gott hat Maria seinen Sohn als seinen Schatten geschenkt und sich damit gleichzeitig uns allen in ganzer Herrlichkeit offenbart.

Im Bild von Bernd Nestler legen sich die einzelnen Schichten wie ein sanfter Schleier auf und um die Schultern Mariens. Sie erfährt nicht nur das Vorrecht, sich im Schatten Gottes aufhalten zu dürfen, sondern auch von ihm nach und nach so durchdrungen zu werden, bis Sein Bild in ihr Menschengestalt angenommen hat: Die Liebe und das Leben selbst.

Präsent

In der als Diptychon geteilten, kleinformatigen Arbeit begegnen sich und auch uns ganz unterschiedlich gestaltete Bildwelten, die scheinbar unvermittelt nebeneinanderstehen:

Das linke Bild zeigt Maria aus der von Matthias Grünewald zwischen 1512 bis 1516 gemalten Verkündigungstafel des „Isenheimer Altars“. Durch den knapp bemessenen Bildausschnitt ist die Gestalt Mariens aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und von allen umgebenden Bildsymbolen freigestellt. So bleibt der Fokus auf ihrem seitlich abgewendeten und nach hinten geneigten Kopf, der ihr überraschtes Zurückweichen vor dem Engel, aber auch ihr konzentriertes Hinhören zum Ausdruck bringt. Am rechten Bildrand – in Verlängerung der diagonal ins Bild führenden gelockten Haarsträhne – weisen die zum Gebet gefalteten Hände bereits auf die andere Seite des Diptychons.

Die zweite Bildfläche ist bis auf die Zeichnung rechts oben ganz in lichtem, changierendem Grau gehalten. Eine zart angedeutete Mauer füllt die unteren zwei Drittel des Hochformats. Die obere Abschlusskante setzt sich in das linke Bild fort und verbindet dadurch beide Bildtafeln miteinander. Wo in Grünewalds Originalbild mächtig der rot gewandete Engel vor Maria steht, ragen hier von rechts oben nur zwei im gleichen Rot gehaltene Hände ins Bild, die ein mit Geschenkband verschnürtes Päckchen halten. Die fein umrissenen Hände erinnern an Kinderhände oder an die eines Engels, die das Paket von jenseits der Mauer und aus dem Himmel in den Bildraum hineinreichen. Anstatt es freudig entgegenzunehmen, beäugt Maria die Gabe abschätzend aus den Augenwinkeln, denn die eingeschriebene Kreuzform wird ihr nicht entgangen sein. Noch bleiben die Hände geschlossen im Gebet, nur die gekreuzten kleinen Finger mögen andeuten, dass sie ihre stille Frage, wann der HERR den verheißenen Messias sendet, mit ins Gebet genommen hat. Die zeitenwendende Antwort des Engels lautet: Jetzt! – Und auf ganz andere Weise, als sie es erwartet hätte, weil sich seine Ankunft ganz persönlich mit ihrem Leben verbindet. Darum erschrickt Maria bei den Worten des Engels. – Und aus dem Lukasevangelium wissen wir, dass sie das Geschenk angenommen hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Das Diptychon thematisiert neben der Glaubenserfahrung Mariens auch unsere eigene. Manches Widerfahrnis stellt sich im Nachhinein als großes Geschenk, als großer Segen dar, obwohl wir es uns nicht ausgesucht hatten und es, wenn man uns gefragt hätte, rundheraus abgelehnt hätten. „Präsent“ bedeutet sowohl „Geschenk“ als auch „Gegenwart“. Der Andachtsbildcharakter der Arbeit lädt uns ein, beide Bildhälften mit unserem eigenen Leben in Beziehung zu setzen: Als Ereignis im Jetzt. So präsent wie Maria das Geschehen bei der überraschenden Verkündigung durch den Engel Gabriel erlebt hat. Und genauso wie Matthias Grünewald rund 1500 Jahre später seine Verkündigung an Maria als gegenwärtiges Geschehen in das Spital der Antoniter versetzt hat, damit die Kranken Jesus leibhaftig vor Augen sehen und in ihrem Herzen aufnehmen konnten.

Vielleicht hilft uns bei unseren Überlegungen, dass der Engel Maria zweimal als Frau der Gnade angesprochen hat: zuerst als „Begnadete“, dann als diejenige, die „bei Gott Gnade gefunden“ hat (Lk 1,28.30). Im „Ave Maria“ wiederholen wir den englischen Gruß, wenn wir beten: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“. Wie Maria bietet Gott auch uns seine Gnade als Geschenk an:  Seine heilsame, Heilung bewirkende Gegenwart in uns, Gottes innigste Zuneigung zu und Liebeserklärung an uns!

Botschafter gesucht

Groß und fast übermächtig steht das „haarige“ Gebilde an die Wand gelehnt. So, wie die unzähligen Kabelbinder von ihm abstehen, sperrt sich das Objekt einem schnellen Zugang. Aus der Ferne betrachtet sieht es wie ein überdimensionaler Zahn aus, doch in der Nähe sieht man, dass unzählig viele kleine Papierrollen mit Kabelbindern auf der Trägerkonstruktion befestigt wurden, so dass deren lange Enden wie Haare oder Federn abstehen und den beiden Hälften etwas Luftiges verleihen, das an Flügel erinnert.

Weiße Flügel?  – Wieso nicht! – Aber seltsam, so losgelöst von seinem himmlischen Träger, so an die Wand gelehnt, wie zufällig abgestellt.  Aber vielleicht war das der Auftrag des Engels, seine über und über vollgepackten Flügel mit den Spitzen auf den Boden der Erde zu stellen, seine unzähligen Botschaften einfach stehen zu lassen, bis die Menschen neugierig näher treten und nach und nach die eine oder andere Papierrolle von den Flügeln lösen und aufrollen.

Auf manchen Papierrollen können Vornamen gelesen werden, im Bild z.B. „Otto“ und „Doris“. Die meisten aber sind unbeschriftet. Es könnte also Zufall sein, wer welche Papierrolle erhält und mit welcher geheimnisvollen Botschaft. Es könnte aber auch engelsgleiche Fügung und göttliche Vorsehung sein, dass jede Papierrolle zum richtigen Empfänger gelangt.

Das Thema der Verkündigung liegt hier in der Luft, kann aber nicht allein auf die heilsgeschichtlich wichtige Verkündigung des Engels Gabriel an Maria beschränkt werden.  Vielmehr wird das Thema verallgemeinert und jede oder jeder kann zu einem „Engel“ oder zu einer „Maria“ werden. Stehen die Flügel nicht wie zum Auf-die-Schulter-Nehmen bereit da? Bepackt mit Botschaften, die zu den Mitmenschen gebracht werden wollen? Sollen nicht alle Menschen von Gottes Liebe hören und Jesus bei sich aufnehmen können als lieben Gast und guten Ratgeber, als Heiland, Retter, Erlöser, als Gottes Sohn? Ist es nicht unsere Berufung, Sein gutes Wort zu den Mitmenschen zu bringen, angefangen bei unseren Lieben und den Nächsten im Alltag?

Für eine Person allein ist die Last so vieler Botschaften und die Aufgabe, alle zu verteilen, immens. Kein Wunder, dass sich der Engel aus dem Staub gemacht hat. In unserer Zeit geht das doch auch automatisiert und digital. So wie bei den vielen Marketingbriefen, die Tag für Tag um die Aufmerksamkeit der Menschen werben. Aber vermögen diese anonymisierten Worte das Herz zu berühren und zu bewegen? Wir Menschen brauchen persönliche Worte und Antworten für unser Wohlergehen. Menschen, die uns ansprechen, die mit uns sprechen, die wir hören und verstehen können, die auf unsere ganz individuellen Fragen antworten.  Das kann nur durch viele Menschen, viele Botschafter Gottes erfolgen.

Der Evangelist Johannes sagt von Jesus: „Das Wort ist Fleisch geworden“ (1,14).  Aber sollte man das gleiche nicht auch von allen Gläubigen und zu jeder Zeit sagen können?  Dass Gottes Wort in den Menschen, die Jesus nachfolgen, Fleisch geworden ist, mitten unter uns wohnt und in uns lebendig geworden Gestalt annimmt? Wo wir Jesu Wort im wahrsten Sinne des Wortes beherzigen, brauchen wir keine auffälligen Flügel oder vorgegebenen Botschaften. Gottes Geist selbst wird uns beflügeln und uns Worte ins Herz und auf die Zunge legen, die berühren, verlebendigen und bewegen.

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit.“
(Joh 1,14)

Bund für‘s Leben

Die Botschaft des Engels an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde, ist per se raum- und zeitfüllend. Die gebogenen Flügel des herabsteigenden Engels füllen dynamisch die Bildfläche, den Körper des Engels verhüllend und gleichzeitig seine Herkunft offenbarend: Er ist ein Bote des Himmels und des Lichts. Und er ist ein Bote, der seinem Gegenüber auf Augenhöhe begegnet, ihm zugeneigt Gottes Gedanken und Entschlüsse auf eindringliche Weise übermittelt.

Maria ist in den Farben des Himmels gekleidet, weil sie „Magd des Herrn“ ist, Ihm gehörend und offen für sein Wort. Ihre Arme und Hände bilden einen geschützten Bereich, in deren Oval die Umrisse eines Kleinkindes zu erkennen sind. Die grüne Farbe hinter ihr und in ihrem Kleid weisen auf ihre irdische Herkunft und gleichzeitig auf ihre Fruchtbarkeit hin. Sie wird „ein Kind empfangen, einen Sohn gebären“ durch die „Kraft des Höchsten“ (vgl. LK 1,31.35).

Spiralförmig konzentriert sich der bewegte Lichteinbruch im Bauchbereich des Engels, um von dort zu Maria weiterzufließen und im Kind sein Ziel und seine Erfüllung zu finden.

„Der Herr ist mit dir“ offenbart kraftvoll die überwältigende Gnadenfülle. Der Engel überbringt des Himmels Fülle einer Frau, die bescheiden am Rande steht. Gott nimmt sie persönlich unter seine Flügel und seinen Schutz. So wie das Licht Maria umgibt und sie zärtlich berührt, verdeutlicht der Engel die respektvolle Gegenwart des Höchsten, welcher sie „überschattet“ und durch ihr Einverständnis fruchtbar werden lässt.

In den zwei sich hier begegnenden Welten wird deutlich, dass stellvertretend gerade ein grenzüberschreitender „Bund für‘s Leben“ geschlossen wird: Gottes bedingungsloses Ja zu uns Menschen und das ebenso freie Ja Mariens als Antwort auf das Wort Gottes bilden die Grundlage für die Entstehung einer neuen Lebensdimension. Zuerst in der Gestalt von Jesus. Gott hat sich erniedrigt und ist Mensch geworden (vgl. Phil 2,6-8). Jesus ist die Menschwerdung des göttlichen Lebens. In der Folge entstand durch sein Zeugnis und die Hingabe seines Lebens in den Menschen neue Hoffnung und neues Leben. Und schließlich verbinden die Christen durch den Glauben an Jesus und seinen Vater die Erde mit dem Himmel und erleben das Leben in einer Fülle, die durch die Hingabe Jesu sogar die zeitliche Begrenzung durchbricht und in ewiges Leben einmündet (vgl. Joh 10,10; 11,25f).

Heilsgeschichtlich gesehen findet das Ja Mariens sein Vorbild im Alten Bund, den Gott durch Moses mit seinem Volk geschlossen hat. Bevor Mose das Volk mit dem Blut des Bundes besprengte, antwortete es nach der Verlesung der Zehn Gebote und aller Vorschriften: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen.“ (Ex 24,7) Ähnlich hingebungsvoll sagte Maria: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38) Sie ebnet den Weg, damit Jesus den Neuen Bund mit der Hingabe seines Lebens vollenden und mit seinem Blut besiegeln kann (vgl. Lk 22,20).

Durch Maria erneuert Gott seine grenzenlose Liebe zu uns Menschen und zum Leben. Durch ihr Ja zu Gott und zu seinem Sohn Jesus, der nun in ihr Wohnung bezieht, verbinden sich ihre Lebensgeschichten untrennbar zur neuen Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch auf Augenhöhe.

mir geschehe

In einer blau-weißen Fläche sind zwei ausgebreitete Flügel oberhalb von zwei gekreuzten Händen zu sehen. Totale Offenheit und Fülle stehen so einer ebenso grenzenlosen Hingabe und Verfügbarkeit gegenüber. Als drittes Element führen von unten sich erhebende Falten wie Felsklippen aus der grünen Ebene aufsteigend zu den ebenfalls nach oben weisenden Händen. Alle Elemente sind Öffnungen oder Durchblicke auf das unter der Übermalung liegende Geschehen der Verkündigung des Engels Gabriel an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde.

Reinhild Gerum hat dazu eine Postkarte mit der Abbildung der Verkündung an Maria im Genter Altar von Jan van Eyck mit Wachsstiften so übermalt, dass diese Übermalung (mit Kratzstrukturen) wie ein Vorhang das meiste verdeckt und die auf wenige Elemente reduzierte Darstellung das Geschehen verdichten. Der „Vorhang“ mit dem schönen symbolischen Farbverlauf (von oben nach unten) rot (Liebe) – blau (Himmel) – weiß (Vergeistigung) – grün (fruchtbare Erde) bringt die Worte des Engels zum Ausdruck: „Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk1,35)

Im Zentrum des Geschehens bewegen die Hände den Betrachter. Die Haltung der beiden Hände bildet zugleich eine Herzform, um damit das darunter liegende unsichtbare Herz anzudeuten, aus dessen Regung und Hingabe heraus Maria geantwortet hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie Du gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Diese Antwort erscheint zudem in kaum lesbaren Schriftbild links über den Händen. Die gotische Schrift, die lateinische Sprache, eine auf dem Kopf stehende Schrift und die partielle Übermalung machen es dem Betrachter schwer, das „Ecce ancilla domini“ – „Siehe [ich bin] die Magd des Herrn“ lesen zu können. Aber gerade dadurch wird die Antwort Mariens stärker und aussagekräftiger: Was für den Menschen rätselhaft und unverständlich bleibt, soll für Gott, hier für den Heiligen Geist symbolisch in der Gestalt einer Taube dargestellt, gut lesbar und verständlich sein.

Ansichtskarten waren lange Zeit das Medium zum Versenden von Urlaubs- und Reisegrüßen von Orten mit Sehenswürdigkeiten. Reinhild Gerum greift diese Funktion in doppelter Hinsicht auf. Durch die Verwendung einer Postkarte als auch durch das Verkündigungsmotiv trägt sie die sensationelle Botschaft weiter. Durch die Übermalung des tradierten Bildmotivs hat sie es zudem personalisiert und aktualisiert. Sie hat die gegenständliche Darstellung von Jan van Eyck, die in manchen Bereichen noch leicht durchschimmert, durch die Übermalung in den Hintergrund rücken lassen und durch die Konzentration auf wenige Elemente spirituellen Freiraum für den Betrachter geschaffen, damit Gedanken und Visualisierung zur eigenen Berufungserfahrung aufsteigen können.

Diese und 999 weitere Postkarten von Reinhold Gerum waren bis zum 6. Januar 2020 im Kultum, dem Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz in der Ausstellung Fein bist du, Sicht! – 1000 Kunstkarten zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der im Kulturzentrum für 15 Euro bezogen werden kann.

Verkündigung … an Maria?

Eine junge Frau sitzt im Schlafanzug an ihrem Laptop und trinkt dabei eine Tasse Kaffee oder Tee. Das gemalte Geschehen könnte eine ganz normale Frühstückssituation darstellen, wenn nicht verschiedene Gegenstände im Raum auf etwas Außergewöhnliches hinweisen würden. Die braune Wand gibt einen seltsam dunklen Rahmen für den lichterfüllten Spiegel und seinen Kontrapunkt im Lilienstrauß. Auch das Apple-Logo korrespondiert seltsam gut mit der blauen Tasse, dem Bildschirm im Spiegel und dem Boden. Und dann ist da noch der Fotograf, der kniet, aber nicht die Sitzende, sondern genauso wie die Frau mich als Betrachter ins Visier nimmt. – Was will und kann uns der Künstler damit alles sagen?

Wer die Striche und damit die Zeichnung in der dunklen Rückwand zu entdecken vermag, wird direkt zum Thema des Bildes geführt. Mit wenigen Linien ist da die Verkündigung an Maria aus dem Verkündigungstriptychon von Simone Martini aus dem Jahre 1333 skizziert. Die Darstellung erinnert an Malereien in Grisaille-Technik, welche in Renaissance- und Barockbildern oft als Verweis auf „Vorbilder“ der im Bild dargestellten Protagonisten verwendet wurden. Die lässig mit angezogenem Bein am Tisch sitzende Frau wird durch die Mariendarstellung unmittelbar über ihr als moderne Maria definiert. Sie ist die neue Eva, wie es der angebissene Apfel auf dem Laptop weiter andeutet. Dieser steht wie ein aufgeschlagenes Buch offen vor ihr auf dem Tisch.

Sie scheint der Versuchung des neuen Mediums nicht zu erliegen, sondern seine Informationsmöglichkeiten (Wissen, vgl. Gen 3) für die gezielte Lektüre und den Austausch mit dem „Unsichtbaren“ zu nutzen. Auf dem Bildschirm im Spiegel ist erstaunlicher- und wunderbarerweise nicht spiegelverkehrt zu lesen:

und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt
und wir haben seine Herrlichkeit
gesehen

Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen
einen Sohn wird sie gebären,
und man wird ihm den Namen Emmanuel geben
was heißt Gott mit uns

Diese Worte aus dem Johannesevangelium 1,14 und dem Buch Jesaja 7,14 kündigen ihr die Inkarnation Gottes unter den Menschen an. Gott offenbart sich ihr in diesen Worten, auch wenn es nicht die gleichen Worte wie jene des Engels sind, lassen sie sehend werden für das Geheimnis der Menschwerdung. Nicht zufällig steht von der Frau aus gesehen hinter dem Computer ein Strauß Lilien. Der Künstler hat nicht nur eine Lilie dargestellt, sondern viele Lilien, die über die Symbolik der Reinheit und Jungfräulichkeit hinaus auf eine unfassbare Fülle hinweisen. Vor dem dunklen Hintergrund bildet er im Raum eine helle „Gestaltwerdung“ des unfassbaren Lichtes, das im Spiegel zu sehen ist. Hier werden die Lilien zum Symbol für Jesus, der aus dem unerschaffenen Licht in unsere Welt kam (vgl. Credo) und uns aus seiner Fülle Gnade über Gnade zukommen ließ (vgl. Joh 1,17).

Als Pendant zum Engel von Simone Martini, der dem Lilienstrauß zu entsteigen scheint, begegnet uns auf der anderen Seite des Bildes gegenüber der jungen Frau ein Fotograf. Er ist nur im Spiegel dargestellt und gehört damit zur „anderen“ Welt, die nicht begreifbar, aber dennoch gegenwärtig ist. Seine kniende Haltung gleicht einer Kniebeugung, sein erhobener linker Arm einem Flügel. Doch im Gegensatz zum Engel arbeitet der Fotograf nonverbal. Er öffnet seine Kamera für einen kleinen Augenblick, um das Trägermaterial zu belichten. Dadurch geschieht hier auf eine weitere Art „Gestaltwerdung“. Allerdings fotografiert er nicht die junge Frau, sondern mich als Betrachter, denn bei mir und jetzt soll die Botschaft „Fleisch“ werden. Das mag auch der Grund sein, wieso mich die junge Frau unentwegt anschaut, ja geradezu fixiert.

Es geht um mich. Gott will durch mich unter den Menschen wohnen. Nicht nur für einen flüchtigen Moment wie bei einem ehrenden „Schnappschuss“ oder einem vergänglichen Foto, sondern verdichtet und überzeitlich wirkend wie in diesem gemalten Bild. Die blaue Tasse, die sich als Blickfang fast mittig im Bild vor dem Oberkörper der Frau befindet, mag andeuten, dass wir Seine Worte so oft und wie ein Getränk zu uns nehmen und verinnerlichen sollen, damit sie uns Leben werden. Dann wird Immanuel, „Gott mit uns“ sein und der Himmel – wie es der blaue Boden verheißt – unsere Lebensgrundlage und unser Halt werden.

Anspruch und Zuspruch

Worte. Nur wenige, aber starke Worte finden sich auf diesem Triptychon. Es sind Wortbilder, Worte, die ins Bild gesetzt wurden, grafisch inszeniert ihre Wirkung entfalten. Es ist ein Dialog, der sich kurz und bündig auf Wesentliches beschränkt. Durch den Verzicht auf eine bildliche Darstellung wird der Betrachter unmittelbar zu einem Beteiligten dieses Dialogs. Das Sehen und Lesen verwickelt ihn in das Geschehen, macht ihn zum Adressaten der Botschaft.

DU!
Was für eine Ansprache: Du bist auserwählt und angesprochen, niemand anders. Das Du, das der Engel an Maria adressiert hatte, ist hier anonymisiert. Beinahe flüchtig steht es groß und einfach in die Bildmitte geschrieben. Es ist nicht zu erkennen, wer es spricht, noch wer der Empfänger ist. Das Du, das in diesen ansonsten leeren Bildraum hineingestellt wurde, kommt damit von einem Unbekannten, der sich nicht weiter zu erkennen gibt. Und es richtet sich an jeden, der das Triptychon betrachtet.

ICH?
Wieso ich? Vor dem mächtigen Du steht das Ich ganz klein auf dem nächsten Bild. Fragen tauchen auf. Muss das sein? Ausgerechnet ich? – Ich möchte mich drücken. Mache mich ganz klein. Vielleicht sieht er mich dann nicht oder vertraut mir nicht mehr – und wählt jemand anderen. Aber das große und mächtige Du bleibt bestehen, es bleibt unausweichlich an mich gerichtet, an den, der es sieht und liest. (Ob mich abwenden und weggehen etwas verändern würde?)

Ja!
Ja! steht auf der gegenüberliegenden Bildseite. In der gleichen blauen Farbe wie das ICH. Im Vergleich zum kleinen ICH groß und stark auf einer neuen Zeile stehend. – Wie wurde aus dem großen Fragezeichen diese klare Bejahung? Was bewirkte die Trendwende vom Sich-Wegducken- und Verschwinden-Wollen zur standhaften Zusage?

Zwischen dem ICH und dem Ja ist handschriftlich, im Vergleich zu den anderen vier Stichworten aber klein und schwach, jedoch wortreich geschrieben: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten;. Die graue Farbe lässt eine Verbindung zu dem zu, der auch das DU in meine Welt hineingebracht hat. Stärkung wird zugesprochen. Ganz leise, unscheinbar. Aufmerksamkeit wird verlangt, gutes Hinsehen, um die entscheidende Zusage nicht zu übersehen. Dabei wird „der Heilige Geist“ und „die Kraft des Höchsten“ farblich hervorgehoben, verstärkt, betont. Derjenige, der sich an mich wendet, mir etwas zutraut, wird mich mit nicht weniger als der „Kraft des Höchsten“, dem „Heiligen Geist“ stärken, damit ich Ja sagen kann.

Zu was ja gesagt wird, geht aus den wenigen Worten nicht hervor. Dafür muss man wissen, dass das Wort vom Heiligen Geist aus der Verkündigung des Engels an Maria stammt (Lukas 1,57) und dass dem anspruchsvollen „Du“ die Verheißung eines Kindes folgte, das niemand geringerer sein sollte als der „Sohn des Höchsten“! Hieraus erklärt sich das kleine fragende ICH genauso wie danach das große Ja! aus der Zusage der „Kraft des Höchsten“.

Halleluja!
Dieser Jubelruf steht quer über das dritte Bild. Das Wort steht erhöht, in gleicher Farbe wie das ICH? und das Ja!. Er stammt von der mit der Farbe Blau charakterisierten Person. Der hebräische Jubelruf sagt wörtlich übersetzt: „Lobt Jah(we) – Lobt und verherrlicht Gott!“ Jahwe ist der Gott, der sich Israel als sein Volk erwählt hat, der es über alles liebt und unter anderem aus der Gefangenschaft in Ägypten in die Freiheit geführt hat. Neben ihm gibt es keine anderen Götter – er ist der Höchste (Ex 20,2-3)! Nun ummantelt die braune Farbe – symbolisch die Kraft des Höchsten – die blauen Buchstaben. Seine Kraft ließ nicht nur ein starkes Ja! sagen, sondern bewegte darüber hinaus zum Lobpreis dessen, der diese übermenschliche Kraft geschenkt hat – damit das Unfassbare wahr wird: Gott wird Mensch. – In mir … denn mit dem Du! bin ja ich angesprochen! (vergl. dazu auch Angelus Silesius) Gott traut auch mir Großes zu!

Bis zum Grund

Ein Lichtstrahl durchdringt die Farbflächen. Zunächst hellblau klar, wechselt er mit dem Eindringen in den unteren dunkleren Farbraum seine Farbe in ein helles Gelb. Wie eine Pfeilspitze taucht er bis zur Unterkante des Bildes ein; scheint den blauen Hintergrund in eine linke und eine rechte Seite zu teilen. Und doch bleiben die beiden Farbflächen durch die Fortführung der nach rechts ansteigenden Trennlinie im Lichtstrahl verbunden.

Dieser Lichtstrahl schneidet nicht wie ein Messer durch, sondern dringt in die Materie ein, aus dem klareren Blau des Himmels in das grünliche Blau des Wassers und des Wachstums der Erde. Um den Lichtstrahl herum breitet sich kelchartig ein durch ihn erhellter Schein aus, der lediglich am Bildrand einen tiefblauen Rand hinterlässt. Eine zusätzliche Farbveränderung lässt sich links vom Lichtstrahl feststellen. Eine rote Lichtbrechung begleitet hier das Licht und erscheint im unteren Bereich am intensivsten.

Trotz des einschneidenden Ereignisses geht von dem Bild eine große Ruhe aus. Ein Grund mag im harmonischen Miteinander der scheinbaren Gegensätze liegen, bei denen sich Waagrechte und Senkrechte kreuzen, dunkle und helle Flächen durchdringen oder strenge geometrische Elemente mit weichen Farbübergängen die Waage halten. Auch das Trennende zwischen Oben und Unten ist durch den Lichtstrahl überwunden. Ein zweiter Grund mag der Umstand sein, dass der Lichtstrahl auch bleibenden Halt gibt, einen festen Anhaltspunkt bildet, wie ein Leuchtstab, ein immaterieller Anker, der tief in der diagonal aufsteigenden Fläche steckt.

Was mag das Bild für uns bedeuten? Dieser Lichtstrahl, der offensichtliche Grenzen durchdringt ohne zu verletzen und bis auf den Grund des eigenen Wesens vordringt und Tiefen ausleuchtet, die selbst uns oft unbekannt sind? Vom Psalmvers 139,23: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne mein Denken!“ ausgehend, könnte der Lichtstrahl als ein Zeichen für Gott gedeutet werden. Die Keilform des Lichtstrahls lässt auf einen unendlich großen Anfang schließen – Gott selbst – das punktgenaue Auftreffen auf der Unterkante des Bildes auf sein individuelles Eingehen auf den Menschen. So kann der Lichtstrahl für Gottes Ergründen des Menschen stehen, das Prüfen seiner Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.

Ob Maria auch so ein Lichtstrahl durchdrungen hat, als Gott ihr durch den Engel ankündigte, dass er sie zur Mutter seines Sohnes auserkoren hatte? Dann könnte das Licht auch als Symbol für Gottes Geist gesehen werden, durch den Maria Jesus empfangen hat. Und von Menschenseite her könnte er als strahlende Antwort Marias verstanden werden: JA, „mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38). Denn Licht streut, die Lichtquelle wäre demzufolge die Seele oder das Herz Mariens.

Das Bild lässt sich auch als Metapher für meine Gottesbeziehung sehen. Der Lichtstrahl gleichsam als Datenautobahn des Austausches zwischen Gott und mir. Es stellt visuell die Frage, ob ich es zulasse, dass Gott mich besucht, erforscht und mein Herz erkennt, wie es der Psalmist erbittet. Dass Gott meine Bedürftigkeit sieht, auf meine Sehnsucht (vgl. Jes. 26,9) nach ihm antwortet. – Gleichzeitig mag es Anstoß sein, das göttliche Licht zu verinnerlichen! Es zuzulassen, in mir aufzunehmen, mich von ihm durchdringen und verändern zu lassen zu einer Lichtgestalt, die Anhaltspunkt für andere sein kann.

Diese Arbeit war im Rahmen des Festes “Maria Himmelfahrt” 2014 zusammen mit einem Dutzend anderer moderner Arbeiten zu Maria in Warendorf ausgestellt. Alle Kunstwerke finden Sie in der PDF-Version des Begleitheftes zur Ausstellung: Maria ImPuls der Zeit

Verkündigung an Maria

In drei quadratischen Bildern entfaltet sich das Geschehen geradezu minimalistisch. Die einzelnen Begegnungsorte heben sich nur geringfügig durch die weiße Farbe vom unbearbeiteten Untergrund ab. In der Weite der Leinwand wurde so ein materieller und gleichzeitig spiritueller Raum mit hoher Reinheit geschaffen. Die Eiform identifiziert ihn als einen Ort des beginnenden Lebens.

Die Handlung ist klein dargestellt und beherrscht doch die weite, leere Fläche, so als wolle damit gesagt werden, dass sie für den ganzen Raum zentral und allein wichtig ist. Die Figuren sind auf Silhouetten reduziert. Es sind lehmfarbene Abdrucke bzw. Wiedergaben von „Protagonisten“ aus berühmten Werken des 15. Jahrhunderts (siehe unten). Auf zeitgenössische Weise aktualisiert und in ein neues Umfeld integriert vermögen sie eine moderne Sprache zu sprechen. Sie stehen im Spannungsfeld von dünnen, senkrechten wie waagrechten, dunklen Linien und vergoldeten Flächen, die leuchten.

Ankunft
Das linke Bild könnte den Untertitel „Ankunft“ haben. Eine engelhafte Gestalt „rauscht“ aus einer raum- und zeitlosen Sternenwelt heran, einer Welt ohne Koordinaten. Die goldene ovale Form könnte ein Ohr darstellen, ein „Geistesohr“ zum Lauschen über das Irdische hinaus. Maria steht in der diesseitigen Welt, am Kreuzungspunkt von Raum und Zeit. Sie ist als Sitzende, als Wartende, als Er-wartende dargestellt. In den Koordinaten kündigt sich schon das Kreuz an, im rechten Bild ist dieser Verweis dann ausformuliert. Die goldene ovale Form weist aber auch schon auf das ewige Antlitz Christi hin.

Berührung
Der mittlere Teil ist zärtlicher formuliert als die äußeren, hier findet eine „Berührung“ statt. Fast aus einem „Nichts“ erscheint der Engel, wie aus einer Wolke sich ins Irdische manifestierend. Zwei Hände berühren einander. Der materielle Raum (als Symbol für die Erde) biegt sich zur Schale, wird empfangend – wobei die konkave Linie auch ein angedeuteter Zeitstrom sein könnte, der den Tiefpunkt überwindet. In der Talsohle (Bildmitte) ist eine Verdichtung aus mehreren Lagen Japanpapier zu beobachten. Die materielle Konzentration bringt zum Ausdruck, dass eine Zeitenwende eingeleitet wurde, die Menschen wieder Boden unter den Füßen erhalten. Auf der „Erhebung“, die sich dadurch gebildet hat, wird Maria vom Himmelsboten zärtlich berührt und lässt sie – dargestellt mit der feinen goldenen Linie – Gottes Kraft spüren.

Gespräch
Im rechten Bild verdichtet sich die Handlung: Zwischen Gabriel und Maria entwickelt sich nun ein Gespräch. Der Engel schwebt nun über Maria und gibt ihr etwas hinunter, das wie ein Tierbein aussieht, aber die Kontur einer Textrolle ist. Maria, in einem Buch lesend, neigt sich nach hinten und wendet sich damit Gabriel zu. Dadurch bildet sie nun selbst eine Art Schale. Auch die strömenden Linien wirken verbindend, lebendige Linien, die über die gesamte Leinwand das Kreuz bilden, ein Leben bringender Tod wird vorverkündet. In die nach rechts führende, also zukunftsweisende Linie sind kleine Punkte Blattgold eingewoben: Gold, das aus einem Baldachin über dem Engel und Maria stammt und nun in die Zukunft hineinfließt. Die Szene spielt sich jetzt völlig in einem verdichteten Zentrum ab, geistig konzentriert und auch eingezogen in den irdischen Weltenkörper. Denn bald wird ein kleines Kind in Bethlehem geboren werden …

Die Protagonisten sind nach Barthélemy d’Eyck, Verkündigungsgruppe, Cathédrale St. Sauveur, 1443-44, Ste. Marie-Madeleine, Aix-en-Provence/Frankreich (Links); Leonardo da Vinci, Verkündigungsgruppe, ca. 1474, Galleria degli Uffizi, Florenz/Italien (Mitte); dem Meister der Sterzinger Altarflügel, Maria, Verkündigungsgruppe , 1456-1459, Deutschordenshaus, Sterzing/Südtirol/Italien (Rechts)

 

Die Betrachtung folgt den Gedanken des Künstlers und gibt diese in Auszügen wörtlich wieder, ohne dass sie als solches gekennzeichnet sind. Der Originaltext ist nachzulesen in: Heimo Ertl, Sabine Maria Hannesen, Norbert Jung: Perspektivenwechsel. Ave Maria – Die Verkündigung an Maria in modernen Kunstwerken, Bamberg 2013, S.118. ISBN 978-3-931432-32-4

Verkündigung / Empfängnis

Wie der Blick in der Nacht durch ein hell erleuchtetes Fenster angezogen wird, so zieht das helle, scharf umrissene Bildelement des Betrachters Aufmerksamkeit auf sich. Die Lichtöffnung gibt Einblick in ein an sich verhülltes Geschehen. Sie offenbart sich zudem als Erleuchtung von oben.

In ihrem Zentrum stehen zwei abstrahierte Menschengestalten, deren Köpfe von einem hellen Schein umgeben sind. Beide Körper sind als Kreisbogen gestaltet, der eine in goldgelber, der andere in violetter Farbe. Ihre Radien scheinen das gleiche Zentrum zu haben. So kommt die rechte Gestalt von der Mitte her und zudem als Lichtgestalt. Mit ihrem ganzen Gewicht scheint sie sich ihrem Gegenüber zuzuneigen, es dadurch fast zu bedrängen. Denn diese macht den Eindruck zurückzuweichen.

Die Erscheinung des Engels ist auch gewaltig. Große Farbschwünge künden von seinem Herabkommen vom Himmel, um dann wieder aufzusteigen und Flügel andeutend in des Engels Gestalt einzumünden. Es ist der Bote des Höchsten, der nicht nur schwungvoll an sein Gegenüber herantritt, sondern sich auch als Diener dieser Frau erweist. Denn trotz seiner imposanten Herkunft hat er sich vor ihr erniedrigt, schaut er zu ihr, Maria, auf.

Denn diese Frau hatte bei Gott Gnade gefunden. Ein gelbes Licht, das sie kreuzt, mag Ausdruck dieser Auserwählung sein und gleichzeitig das Herabkommen des Heiligen Geistes andeuten. Es endet über einer runden lichten Stelle, welche die Begegnung zu einer Berührung und das „Dazwischen“ zu einer „Übergabe“ werden lassen. Im Freiraum zwischen der noch nassen Farbe von Maria und dem Engel hat der Künstler einen Wassertropfen aufgetragen, der sich bis in die Farben der beiden Personen ausgebreitet hat und durch den deren Farben ein Stück weit ausgeblutet sind. Dadurch konnte sich in ihrer Mitte eine zarte sternförmige Erscheinung bilden. Ein wunderschönes Symbol für Jesus als „Licht der Welt“ (Joh 8,12) und „Wasser des Lebens“ (Joh 4,14), ein wunderbares stilistisches Symbol für ein gleichzeitiges Geschehen bei allen Betroffenen und insbesondere für das glaubende Empfangen oder Aufnehmen durch Maria.

Ihr Auftreten ist zurückhaltend, sie steht am Rand, halb von der blauen Farbschicht verdeckt. Aber sie steht, wenn auch irgendwie überwältigt, mit dem Gleichgewicht kämpfend, wie sich anlehnen müssend. Und sie steht im Licht. Im Licht dessen, der auf die Niedrigen schaut und die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt. Ein heiliges Geschehen – das sich auch darin kundtut, dass der doppelte Kreisbogen von Engel und Maria auf der rechten Seite eine stille Entsprechung in dem blauen Kreisbogen und dem innenliegenden Schatten haben und sie zusammen eine Mandorla andeuten. In der Verkündigung an Maria und ihrer gläubigen Zusage beginnt Gottes Herrlichkeit aufzustrahlen, die im auferstandenen Jesus und Weltenherrscher ihre volle Kraft offenbaren wird. Damit kommt mit grafischen Mitteln nichts anderes zum Ausdruck als der Engel bereits bei der Verkündigung gesagt hat: „Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,32f)

Diese Verheißung dürfen wir als Betrachter schauen. Und wenn wir uns wie Maria der Berührung Gottes öffnen und seine Gegenwart annehmen, dürfen wir glauben und hoffen, dass ER auch in uns und durch uns seine Gnade und Herrlichkeit entfalten wird.

Kalender, Kunstkarten und -drucke von Eberhard Münch sind in verschiedenen Formaten im Buchhandel oder direkt über www.adeo-verlag.de erhältlich.

Ein Kind entzweit …

Zwei dünne weiße Stoffrechtecke mit bedruckten Versen aus dem Koran stehen heute im Zentrum unserer Aufmerksamkeit (Gesamtansicht). Sie sind mit den Versen 16 bis 22 und 88 bis 93 der Sure 19 bedruckt, in denen es zentral um Maria und die Empfängnis des Gottessohnes geht. Nach der Verkündigung der Frohbotschaft an Maria (16 bis 22) folgt eine Reaktion zum diesbezüglichen Glaubensverständnis der Christen.

Sie, die Ungläubigen, die Christen sagen: „Der Barmherzige hat sich ein Kind zugelegt.” Mit dieser eurer Behauptung habt ihr etwas Schreckliches begangen. Schier brechen die Himmel aus Entsetzen darüber auseinander und spaltet sich die Erde und stürzen die Berge in sich zusammen, dass sie dem Barmherzigen ein Kind zuschreiben. Dem Barmherzigen steht es nicht an, sich ein Kind zuzulegen.

Die Bearbeitung und Darstellung dieser fünf Verse macht den Unterschied zwischen den beiden Stoffen aus. Oben ist der Text mit einem Goldfaden gestickt (Detailansicht), unten mit einem roten Garn in das Gewebe eingebracht, wobei hier die Garnenden als lange herunterhängende Fäden belassen wurden. Dadurch werden zwei ganz unterschiedliche Sichtweisen deutlich.

Mit dem Goldfaden wird hervorgehoben und gewürdigt, dass für die Muslime auch diese Worte zur Offenbarung Gottes gehören. Das Kostbare, Erhabene und Göttliche soll durch das Edelmetall zum Ausdruck kommen, als Zeichen dafür, dass Gott selbst gesprochen und damit seine ureigenen Gedanken kundgetan hat. Eine nahezu unermessliche Bestürzung und Distanzierung spricht aus ihnen. Was die Christen glauben, ist unannehmbar, unglaublich und letztlich Beweis, dass sie nach dem muslimischen Glaubensverständnis Ungläubige sind. Was sie glauben, ist für den Barmherzigen derart schrecklich, dass nicht nur er, sondern auch seine ganze Schöpfung (Himmel und Erde) und unausgesprochen auch alle Muslime unter der Spannung, die diese unerträgliche Behauptung auslöst, zu zerbersten drohen.

Der mit dem roten Faden wiedergegebene Text knüpft an diese gewaltigen und gewaltsam wirkenden Worte an. Was für die einen (die Muslime) Gottes heilige Offenbarung ist, die verehrt wird (Goldfaden-Variante), ist für die anderen (die Christen) ein Angriff auf ihr zentrales und ebenso unantastbares Glaubensverständnis der Gottessohnschaft Christi, dass in Jesus Christus der „eine” Gott Mensch geworden ist. Die rote Schrift lässt unwillkürlich an Blut denken (Detailansicht). Die herabhängenden Fäden suggerieren sogar herabfließendes Blut und lassen an die oft blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen zu diesen und anderen Glaubensansichten und -überzeugungen denken.

Mit den beiden künstlerisch gestalteten Varianten möchte die Künstlerin jeder Religion Respekt erweisen. Die Arbeit zeigt auf, wie unterschiedlich gerade Glaubenswahrheiten gesehen und empfunden werden. Die Arbeit kann damit als Bindeglied im interreligiösen Dialog, als kleines Plädoyer für mehr Offenheit und Verständnis untereinander angenommen werden. Vielleicht wird durch den Text auch bewusst, wie viel Provokation für Muslime darin liegt, Weihnachten, das Fest der Geburt Jesu, in der aufwändigen westlichen Art und Weise zu feiern. Das Entsetzen der Muslime darüber, dass Jesus Gottes Sohn sein soll, mag uns Christen vielleicht auch nachdenklich machen und zum dankbaren Staunen über unseren Glauben und das Wunder der Menschwerdung anregen. Weder das eine noch das andere ist selbstverständlich.

Heilsgeschichte

Die nackte Frau auf dem mit zwei weißen Laken bedeckten Tisch irritiert. Regungslos, wie aufgebahrt liegt sie in dieser Mauernische unter dem Segmentbogen. Hinter ihr verdeckt ein Wandbehang teilweise den schwarzen Hintergrund. Über ihren Füßen schwebt ein Engel, der uns durch sein Aussehen und seine Gestik an die Boten aus den Marienverkündigungen der Renaissance erinnert. Doch im Gegensatz zu diesen Vorbildern und auch zur liegenden Frau ist er sehr klein dargestellt. Sie stehen sich auch nicht gegenüber, sondern er schwebt über ihr. Und während er festlich gekleidet agiert, liegt sie nackt und regungslos vor ihm …

Kann das ein Verkündigungsbild sein? Ist es nicht respektlos, Maria so „bloß“ (dar-)zu stellen? Wieso liegt sie nackt auf diesem mit drei Klappböcken improvisierten Tisch? Wieso konzentriert sich die Inszenierung auf diese Mauernische, die vielmehr ein Durchgang zu sein scheint? Was ist wohl die Bedeutung des grünen Stoffbehangs hinter ihr? Und warum dieser Engel? … So und anders könnten die Fragen zu jedem einzelnen der verschiedenen Elemente in diesem Bild weitergehen. Doch würden wir bei den Fragen bleiben, bliebe die Darstellung ein Rätsel. Ihre sorgfältige Betrachtung jedoch vermag uns ihre tiefe Bedeutung zu erschließen und zu offenbaren.

Beginnen wir mit der Frau. Waagrecht teilt sie das Bild in eine untere und eine obere Hälfte. Obwohl sie regungslos daliegt, ist sie nicht tot. Ihre Augen sind offen. Ihre Arme hält sie seitlich ihres Oberkörpers auf der Höhe der Tischkante. Von ihrem Körper geht eine natürliche Spannung aus. Ihre Nacktheit scheint gewollt zu sein und signalisiert Bereitschaft und Hingabe. Dennoch ist kein sexuelles Verlangen zu entdecken. Auf der harten Tischplatte liegend, die mit zwei frisch gewaschenen und gebügelten Laken abgedeckt ist, sieht sie eher aus wie ein Patient auf einem Operationstisch oder ein Opferlamm auf einem Altar. Diese Frau scheint bereit, alles herzugeben für den, den sie liebt. Der drohende schwarze Hintergrund deutet an, dass es gegebenenfalls auch ihr Leben sein kann.

Unter dem Mauerbogen liegt sie im „Dazwischen“. Sie befindet sich im Licht des Diesseits der Mauer, während sich hinter ihr ein undurchdringliches Jenseits verbirgt. So liegt sie in einem Durch- oder Übergang, scheint eine Grenzerfahrung zu machen, bei der es mit den Synonymen Licht und Dunkelheit letztlich um Leben und Tod geht. An seiner Grenze hängt der grüne Stoffbehang und bildet gleichzeitig den zentralen Hintergrund für die liegende Frau. Mit seiner grünen Farbe und nahezu quadratischen Form lässt er an ein Symbol für die Erde denken und vermag mit seinen Blumen und Früchten an das biblische Paradies mit dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis in seiner Mitte zu erinnern. Der rote Saum seitlich und unten mag die Cherubim symbolisieren, die mit flammenden Schwertern das Paradies bewachen, das nur von oben her zugänglich ist … und von vorn, da, wo die nackte Frau auf dem Tisch liegt. Durch den Tisch von der Erde erhöht, liegt sie genau auf halber Höhe des Behanges, so dass ihre Gebärmutter exakt in der Mitte dieses symbolischen Paradiesgartens zu liegen kommt.

Vor diesem grünen Stoffbehang erscheint die Frau als neue Eva. Bereit, durch ihre Demut den Übermut ihrer Urahnen vor Gott wieder gut zu machen. Während Adam und Eva sich bei der Begegnung mit dem Heiligen fürchteten und sich ihre Nacktheit mit Blättern bedeckten, entblößt sich die neue Eva geradezu und zeigt sich furchtlos. Zeitlich versetzt soll am gleichen Ort, an dem die Sünde der Auflehnung und des Misstrauens gegen Gott geschah, nun durch die Hingabe und das Vertrauen Mariens wieder Heil in die Welt kommen. Das Granatapfelmotiv auf dem Stoff deutet auf Leben und Fruchtbarkeit hin. So zwischen dem Engel und Maria angeordnet, mag der Granatapfel einerseits für Jesus stehen, andererseits für die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, die Maria als erste Glaubende dieser Gemeinschaft in Jesus gleichsam zur Welt bringt. Als Mutter Gottes wird sie auch als Mutter der Kirche verehrt.

Dieser heilsgeschichtliche Bogen entfaltet sich zusätzlich in der Botschaft des im Flug vor der liegenden Frau niederknienden Engels. Als Bote aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt hat er seine Hände zum Gruß geöffnet, das unsichtbare Wort behutsam zur Erde und Maria nahe bringend: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. (…) Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk 1,28.31.35)

Die Antwort Mariens ist in den Augen des Malers diejenige einer reifen Frau: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1, 38). Diese bedingungslose Hingabe hat der Künstler mit dieser nackten Frau übersetzt, die sich ostentativ Gott aussetzt, um von ihm wie von einem Bräutigam genommen zu werden, schwanger zu werden, bereit sein Kind unter ihrem Herzen zu tragen. In ihrem Fleisch soll sein Wort Wohnstatt finden, Menschengestalt annehmen und dann den vergänglichen Weg allen irdischen Lebens gehen.

So wie Maria daliegt, erinnert sie stark an Abbildungen von Grabeskammern mit Jesus. Mit ihrem JA wird sie wie einige Jahrzehnte später ihr Sohn Jesus vom Heiligen Geist mit neuem Leben erfüllt. Mit ihrer Hingabe antizipiert sie die Hingabe ihres Sohnes am Kreuz, sie wird dabei nicht sterben, aber sie legt ihr Leben doch ganz in Gottes Hand. So, dass er durch sie den ersten Schritt zur Erlösung und Auferstehung des Menschengeschlechtes bewirken (operare) kann.

Die große Frage

Eine Frau stützt den Kopf in ihre Hände. Ein vertrautes Bild. Wer hat das nicht schon gemacht, wenn der Kopf beim Überlegen zu schwer geworden ist? Blasses Licht und unscharfe Konturen beherrschen das Motiv und scheinen Ausdruck der Gedanken zu sein, welche diese Frau bewegen.

Doch im Verhältnis zum Gesicht sind die Hände überdimensional, riesig. Auch die Anordnung der Finger macht keinen stimmigen Eindruck. Sie sind alle gleich lang. Der Künstlerin scheint es nicht auf eine realistische Wiedergabe anzukommen. Die „Hände“ sollen offenbar ein Gefäß sein, in dem das Gesicht wie in einem Kelch ruht. Ihre Größe lässt an jemand Größeren denken, so wie es etwa im Psalm 139,5-6 heißt: „Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich. Zu hoch ist für mich dieses Wissen, zu hoch, ich kann es nicht begreifen.“

Ein geheimnisvolles Geschehen scheint diese Frau in tiefe Nachdenklichkeit gestürzt zu haben. Ein Schatten hat sich über ihr Gesicht und den oberen Teil der Hände gelegt und erinnert an die „Kraft des Höchsten“, die Maria bei der Verkündigung überschatten wird (Lk 2,35). Ihre Stirn und ein Teil ihrer Augen werden allerdings von einem weißen Licht in Form eines Dreiecks erhellt. Erleuchtung von oben und von außen wird suggeriert, von einem, der selbst Licht ist und dieses Licht in das menschliche Dunkel bringen will durch diese Frau.

Doch das Gesicht bleibt fragend, die Augen gehen suchend in die Ferne. Schriftzeichen äußern gleichsam eine listenartige Folge von Gedanken, die Maria beim Anspruch Gottes durch den Kopf gegangen sein müssen. „Wie soll das geschehen?“ Mit durchdringendem Blick lotet sie im Dialog mit der dreieckigen Lichtquelle die Bedeutung der Worte des Engels aus.

Auch wenn die Fingerformen zwischendurch den Eindruck erwecken, dass sich diese Frau Kissen an den Kopf drückt, um diesen Anruf nicht hören zu müssen, ist sie doch eine Hörende. Alle Hindernisse durchdringend drückt sich eine transparente Farbform geradezu gewalttätig wie eine Schallkappe an ihren Kopf. Die einzige Farbe im Bild kann nicht bedeutungslos sein: die Farbe der Liebe und des Blutes und damit des Lebens. Könnte dieses schwere Rot, das auch in einer Dreiecksform erscheint, zeichenhaft für die Schwere der Entscheidung stehen, für den Verzicht auf ein eigenes Leben, auf eigene Pläne?

Blasses Licht erfüllt das Bild. Weder Freude noch Aufbruch sind zu spüren. Eher Fassungslosigkeit, was Gott mit ihr vorhat und wie das alles geschehen soll. Aus dem Bild geht nicht hervor, was sie Gott zur Antwort geben wird. Es signalisiert lediglich eine Bereitschaft und eine Offenheit wie sie Gefäßen eigen ist. Diese Frau zeigt sich bereit, das göttliche Licht in sich aufzunehmen, es in sich zu tragen und der Welt zu schenken.

Durch den Titel hat die Künstlerin das Thema ihres Bildes vorgegeben. Aber – sie hat eine moderne junge Frau fotografiert und in die biblische Szene gesetzt und damit hat sie die Frage an Maria an uns weitergereicht. Was werde ich Gott zur Antwort geben, wenn er mich in seinen Dienst ruft? – „Ja, es geschehe wie du gesagt hast“? oder „ich weiß nicht recht, ich kann mich nicht entscheiden“ oder „das kann ich mir nicht vorstellen – warum gerade ich – nein danke – ich habe andere Pläne“? Das Bild stellt uns und unsere Verfügbarkeit in Frage. Aber immer und immer wieder werden unerwartete Aufgaben, Anforderungen in unser Leben eintreten und unsere Pläne durchkreuzen. Unsere Offenheit für Anrufe und unsere Bereitschaft Ja zu sagen zu dem, was wir als Aufgabe für uns erkennen, werden uns bereichern und können heilbringend sein – wie bei Maria.

Verkündigung

Im Schnittpunkt von zwei Kreisformen begegnen sich zwei menschliche Gestalten. Die linke Gestalt muss ihren Flügeln nach ein Engel sein, die rechte der Haltung nach Maria, die sich kniend dem Willen Gottes beugt: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk 1,38).

Die Begegnung findet nicht mehr in einem Haus statt. Als Heimat Mariens wird hier die Erde bezeichnet. Als lichte Gestalt ragt sie aus der grau-schwarzen Oberfläche heraus. Durch ihre Unschuld und Reinheit von Sünden nimmt Maria eine herausragende Position ein. Sie, die Unbefleckte, wurde von Gott auserwählt, den „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32) zu empfangen, den „Retter der Welt“ (Joh 4,42; 1Joh 4,14).

Die Verkündigung an Maria findet so am Schnittpunkt von Himmel und Erde statt. Der Bote des Himmels überbringt der Vertreterin des Erdengeschlechts die frohe Botschaft, dass Gott seinen Sohn unter den Menschen groß werden lassen will. Dazu wird er Maria mit Seinem Heiligen Geist überschatten (Lk 1,35). Wunderbar hat der Künstler den Geist Gottes als bewegte, goldgelbe Kreisform dargestellt, wodurch nicht nur Gottes Herrlichkeit und Unendlichkeit angesprochen werden, sondern auch seine beschützende, rettende und Leben schaffende Kraft.

Von oben, von außerhalb des Bildes in die wahrnehmbare Bild-Welt einfließend, umgibt die immaterielle Energie Maria und den Engel wie ein Heiligenschein und vermittelt theologisch richtig, dass der Sohn durch die Menschwerdung die göttliche Dreifaltigkeit nicht verlässt, sondern in Ihrer Mitte bleibend in Maria die Natur und das Wesen von uns Menschen annimmt. Maria bildet so eine Art Brücke, auf der Jesus zu uns Menschen kam.

Den Weg von Jesus scheint eine feine gelb-weiße Linie anzudeuten. Sie entspringt dem leuchtenden „Wolkenbogen“ des Heiligen Geistes und kreist spiralförmig im Engel wie in Maria, um anschließend den Erdball zu umrunden. So sehr der Heilige Geist Maria überschattet und sie mit dem Engel zusammen umgibt, so sehr erfüllt er auch den Botschafter wie die Empfängerin. Wie der Heilige Geist den Engel zu Maria bewegt hat, bewegt Er Maria und lässt sie fruchtbar werden.

Was mit Maria geschah, ist und bleibt einmalig. Doch Gott möchte in jedem von uns Mensch werden, jeden von uns mit seinem Heiligen Geist erfüllen. Insofern richtet sich die Verkündigung nicht nur an Maria, sondern an jeden von uns! Die universelle Botschaft bringt der norwegische Dichter Svein Ørnulf Ellingsen in einem vom Magnifikat inspirierten Text in poetischen Worten zum Ausdruck:

Gottes Lob wandert und Erde darf hören.

Einst sang Maria , sie jubelte Antwort.
Wir stehn im Echo der Botschaft vom Leben:
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Der Hohe schaut die Niedrige an.
Halleluja, Halleluja.

Wunder der Wunder: Für uns wirst du Mensch, Herr!
Lass doch das Lied, das Maria uns lehrte,
Brücke der Freude sein, die uns zu dir führt.
Den Herrn preist meine Seele.
Ich freue mich, dass er mein Retter ist.
Er denkt an uns, hilft Israel auf.
Halleluja, Halleluja.

(Kath. Gesangbuch der Schweiz, Nr. 762, 1.+3. Strophe)

Gott im Menschen

Befände sich das Glasfenster nicht in einer katholischen Kirche, käme wahrscheinlich niemand auf den Gedanken, seine Thematik mit Maria in Verbindung zu bringen. Denn es zeigt sich uns in abstrakten Formen: in einander überlagernden blauen Flächen in den Seitenbereichen, in transparenten Glasstäben in der Mitte. Die Dreiteilung springt ins Auge, ebenso die Verjüngung des hellen mittleren Bereiches. Die blaue Farbe mag an Maria erinnern, kann aber auch für die Nacht stehen oder als Farbe des Himmels interpretiert werden, welche die vertikale Lichtgestalt umgibt.

Dieser ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte Bereich erscheint uns wie ein Lichtkorridor, der von oben nach unten das Glasfenster durchquert. Glasstäbe scheinen in dichter Fülle in ihm nach unten zu schweben. Die meisten sind transparent, einige gelb oder blau. Die Ansammlung von farbigen Stäben wie deren horizontale Anordnung erdet die „Niederkunft“ der Stäbe, gibt ihnen eine Basis. Der Lichtkorridor kann daher als Gefäß gesehen werden und – durch die Verengung in der Mitte – als vereinfachte Darstellung der weiblichen Taille.

Dadurch wird auch in der Mitte des Glasfensters die Sicht auf Maria frei, welche durch die Botschaft des Engels in ihrer Körpermitte das „Licht der Welt“ (Joh 8,12) empfangen und ihm eine temporäre Wohnstatt geschenkt hat. Durch das weiße Licht, die schwebende Anordnung der Glasstäbe sowie durch die drei Glasschichten wird wiederholt auf die Transzendenz Gottes hingewiesen, der sich durch die Menschwerdung seines Sohnes sinnlich erfahrbar gemacht hat. In der Stabform kommt einerseits die Botschaft des Herolds zur Sprache, andererseits transportiert der Glasstab selbst das Licht von einem Ende zum anderen.

Die Vielzahl der Stäbe mag auf die Gnadenfülle hinweisen, mit der Maria durch Gott gesegnet worden ist. Der einzelne Stab hingegen auf Jesus, der in seinem öffentlichen Leben immer wieder auf seinen Vater hinwies und sich bezüglich seiner Mission transparent zeigte: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat. Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.“ (Joh 12,44-46)

Das Glasfenster von Hella Santarossa lädt zur Meditation über das Werden Gottes im Menschen Maria wie in uns ein. Die schwebenden Stäbe suggerieren ein aktuelles Geschehen. Die über das ganze Fenster verstreuten kleinen Glasstücke in kristallinen Formen lassen an die Stille des Schneefalls denken und dass sich die Menschwerdung Gottes leise und kaum wahrnehmbar nur dem aufmerksamen, wachen Geist offenbart.

In der gleichen Kirche befindet sich von Hella Santarossa ein beachtenswertes Auferstehungsfenster von 120 qm (Detailansicht der Glaslichtstäbe).

Die Kraft des Höchsten

Wie durch einen Schleier hindurch ist die sitzende Gestalt der Maria zu erkennen (Vorlage: Maria aus der Verkündigungsgruppe vom Alter der Sieben Freuden Mariens im Chor der Abteikirche von Brou, Franchcomté, um 1520). In ein weites Gewand gehüllt scheint sie beim Lesen der Heiligen Schrift gerade innezuhalten und den Kopf nachdenklich nach hinten zu neigen.

Ob das, was im Vordergrund geschieht, Ausdruck ihrer inneren Erfahrung ist? Zwei Dutzend pastos aufgetragene, fast weiße Kreisformen scheinen mit großer Leichtigkeit auf sie herunterzufallen. Sie können als Zeichen der Gnade, als „die Kraft des Höchsten“ (Lk 1,35) gelesen werden, die auf Maria herabkommt.

Das verhüllende Weiß des Bildes scheint dabei die Unschuld und die Reinheit des Immateriellen zu verkörpern. Insofern mag dieser nebulöse Schleier auch ein Ausdruck der göttlichen Gegenwart sein. Im Buch Exodus (40,34) wird überliefert, dass eine Wolke das Offenbarungszelt in der Wüste verhüllt und die temporäre Wohnstätte des Herrn mit seiner Herrlichkeit erfüllt habe. Ebenso erscheint uns Maria im Bild von einer Wolke verhüllt und lässt an den wunderbaren Moment denken, an dem sie durch die Kraft des Höchsten und von seiner Herrlichkeit erfüllt schwanger wurde. Maria wird so zum neuen Offenbarungszelt, aus dem heraus Gott sein ewiges Wort spricht. Hier klingen die Texte der Kirchenväter an, welche in Maria die neue Bundeslade sahen, die der Welt das neue Gesetz geboren hat: Jesus Christus.

Der Evangelist Johannes (1,14) bringt es mit prägnanten Worten auf den Nenner: „Das Wort ist Fleisch geworden!“ Auf dem lasierend gemalten Motiv der Maria erinnern die pastosen und damit sehr materiellen Kreisformen an die Verwandlung des Wortes zu Fleisch. Räumlich gesehen scheinen diese „materialisierten Worte“ perspektivisch auf Maria zuzufliegen oder von ihr empfangen zu werden.

Wie durch einen Schleier hindurch lässt uns der Künstler ehrfurchtsvoll an diesem einzigartigen Geschehen teilhaben. Die Verwendung einer alten Mariendarstellung sowie die „blasse“ Zeichnung Mariens mögen in die Vergangenheit weisen. Doch die Gnadenfülle, die Maria durch ihr gläubiges Ja-Wort bei Gott ausgelöst hat und die vom Künstler „schwebend“ zwischen Maria und den Betrachter gemalt wurde, fließt weiter und macht auf wunderbare Weise für Menschen Unmögliches möglich (Lk 1,37; 18,27). Damit bezeugt uns der Künstler, dass für ihn der Empfängnis „nichts Vergangenes, sondern im Gegenteil ein ganz gegenwärtiges Geschehen von hoher Präsenz“ innewohnt.

Auserwählt

Eine dunkle und eine helle Fläche prägen das diagonal unterteilte Bild. In der Bildmitte ist an der Schnittstelle zur hellen Bildfläche der Kopf einer jungen Frau zu sehen. Ihre Augen sind weit, ihr Mund ist leicht geöffnet.

An ihrer Seite, leicht erhöht und ganz in blaues Licht getaucht, ist der Kopf einer weiteren Frau zu sehen. Sie berühren sich auf Stirnhöhe, sind einander zugewandt, scheinen miteinander zu sprechen und in einem Gedankenaustausch zu stehen. Das blaue Licht hat sich pfeilförmig auf der Stirn der aus dem Dunkel auftauchenden Frau ausgebreitet. Gleichzeitig weist in der Diagonale ein schmaler Lichtstrahl auf die Stirn dieser Frau und scheint sie zu berühren.

Käthe Haase Kornstein hat die Verkündigung an Maria mit den heutigen Gestaltungs- und Ausdrucksmitteln dargestellt. Die Bildmontage zeigt die mystisch „berührende“ Begegnung zweier Frauen und konzentriert sich auf die beiden Köpfe. Feinfühlig und doch bestimmt übermittelt der im Licht stehende Himmelsbote seine ungewöhnliche Botschaft an Maria. Dennoch erschrickt Maria und fragt sich, was der Gruß wohl zu bedeuten habe und wie sie als Jungfrau einen Sohn empfangen und gebären könne (Lk 1,29.34). Diese Fragen stehen der durch Gott aus dem „Dunkel der Geschichte“ hervorgerufenen Frau ins Gesicht geschrieben. Worauf der Engel zu ihr sagte: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (1,35)

Die Kraft des Höchsten, der Heilige Geist, der Maria überschatten wird, darf weniger in der halbseitig das Bild füllenden Dunkelheit als vielmehr im vom oberen Bildrand auf die Stirn Mariens zeigenden Lichtstrahl gesehen werden. Hier ist eine formale Ähnlichkeit mit der aus dem Himmel herabkommenden Hand Gottes in der christlichen Malerei festzustellen, die zum Ausdruck bringt, dass sich Gott einer Person zuwendet und zu ihr spricht. Die Kraft des Höchsten kommt noch in einem zweiten Element zur Geltung: Vom Engel ausgehend fließt etwas von dem luziden Himmelsblau auf das Gesicht Mariens über und „überlichtet“ bzw. bedeckt es wie um zu zeigen, dass ihre Gedanken nun vom göttlichen Auftrag erleuchtet und erfüllt sind.

Das Bild bringt die Ernsthaftigkeit des Gesprächs zwischen dem Engel und Maria zum Ausdruck. Es vermittelt auch die notwendige Auseinandersetzung in Maria, bis es in ihr „gedämmert“ hat, dass sie eben auserwählt und berufen worden ist, der Welt den Sohn Gottes zu gebären. Und es lässt in der Nacht-Tag-Symbolik auch die Zeit spürbar werden, die Maria wahrscheinlich gebraucht hat um sagen zu können: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (1,38)

Mit der vielschichtigen Bildkomposition und der Darstellung einer Frau unserer Zeit wird die „Frage an Maria“ auch zur Frage an uns: Wie würde ich auf die Botschaft des Engels antworten? Wie würde es mir mit dieser „Empfängnis“ durch den Heiligen Geist ergehen? Wie würde ich mit einem Kind umgehen, das meines ist und doch mehr als alle anderen der ganzen Welt gehört?

Friedensglocke

Von Glocken kennen wir meistens nur deren Klang, seltener ihre Gestaltung, Symbolik und deren Bedeutung. Bei der Friedensglocke von Straßburg, die fast 600 Jahre nach dem Bau der Kathedrale dem Glockengeläut beigefügt worden ist, haben wir die Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten.

Luftige Gestalten hat der Künstler Tobias Kammerer auf ihrer Außenseite angebracht. Sie umgeben  die Glocke, scheinen auf ihr zu tanzen. Sind es Engel? Oder sollen sie einfach wie die Glockentöne Botschafter des Friedens sein? Was in zwei Sprachen auf dem Glockenrand geschrieben steht …

Friedensglocke aus Karlsruhe
für Strasbourg im Jahre 2004
Freude dieser Stadt bedeute –
Friede sei ihr erst Geläute!
Que la première sonnette signifie –
joie et paix pour la cité !
Que les cloches sonnent pour la paix.

… wird in einer für alle Völker verständlichen Sprache und in eindringlichem Ton – mahnend, ermunternd – vom Turm herunter verkündet. Haben die engelsgleichen Wesen nicht eine entfernte Ähnlichkeit mit Notenschlüsseln? Entschlüsseln, offenbaren sie nicht eine himmlische, ja paradiesische Botschaft mit dem Frieden?

Die Engel tragen doch den Frieden Gottes als stimmigen Ton, als Grundton, der alles Leben ermöglicht und schön macht, in sich. Rund um die Glocke tragen sie diese Botschaft, wie rund um den Erdball, der den Frieden so nötig hat. Haben deshalb die flach ausgeführten Engel eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kontinenten und Inseln im weiten Meer?

Bei der Geburt Jesu brachten die Engel die frohe Botschaft zuerst zu den Hirten, die Schafe hüteten (Lk 2,10-14). Die Hirten könnten für alle Menschen stehen, die Verantwortung tragen für andere Lebewesen, Menschen, Tiere und Pflanzen! Gilt nicht ihnen allen – und nicht nur zur Weihnachtszeit – diese Frohbotschaft des Friedens? Weil letztlich nicht nur wir Menschen den Frieden brauchen, sondern die ganze Erde, auch der Boden, der uns trägt und ernährt!

„Zu einem Leben in Frieden hat Gott euch berufen,“ schreibt Paulus seiner Gemeinde in Korinth (1Kor 7,15). Mit dem Geschenk an die Stadt Strasbourg, wo das Europaparlament seinen Sitz hat, setzt die Stadt Karlsruhe ein Zeichen der Freundschaft und des Friedens über Sprach- und Landesgrenzen hinweg.

In dieser Glocke tönen eindringlich Jesu Grußworte an seine Jünger wieder: „Friede sei mit euch!“ (Lk 24,36) In jedem Gottesdienst werden wir mit diesem Wort begrüßt und bestärkt, die Sendung der zweiundsiebzig Jünger fortzusetzen, die in alle Städte und Ortschaften gehen sollten, in die Jesus selbst gehen wollte. „Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. … Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: FRIEDE DIESEM HAUS!“ (Lk 10,1-5)

Vom Himmel her …

Auf diesem Bild können ganz unterschiedliche Motive den Blick als erstes in ihren Bann ziehen. Da ist die weiße stehende Gestalt vor dem beigen Hintergrund. Links von ihr in Farbe etwas ähnliches wie ein kleines Kind mit zwei blauen Quadraten hinter dem Kopf. Dann die blaue vertikale Linie, die durch den goldenen Kreis gehend in einem braunen Feld eine lila Horizontale schneidet. Nicht zuletzt faszinieren die kleinen Figuren, oben Engeln ähnlich, unten als Reiter unschwer erkennbar.

Was für eine Geschichte will das Bild erzählen? Der Künstler gibt durch seinen Titel keine Hinweise. „Ohne Titel“ könnte jedoch auf eine verbale Sprachlosigkeit des Künstlers angesichts eines geheimnisvollen Ereignisses hinweisen – so etwas wie die unbefleckte Empfängnis.

Ja, die lichte Gestalt stellt für mich Maria dar. Wie an einer Hausecke steht sie wartend da. Sie ist ganz weiß gemalt, weil wir glauben, dass sie ohne Erbschuld und Sünde ist (Hochfest der Kath. Kirche am 8. Dezember). Makellos offen steht sie da und Gott schenkt sich ihr in der (Farben-)fülle seines Sohnes.

Die beiden Gestalten überlagern sich bereits, ihre Köpfe sind einander zugeneigt. Aus der Form des Kindes und dem linken Arm Mariens lässt sich – farblich leicht abgesetzt – ein Herz erahnen. Die beiden sind sich eins.

Engel aus dem Bild „Der große Morgen“ von Philipp Otto Runge umgeben das Kind. Sie bringen es gleichsam zur Erde und legen es schützend in Mariens Schoss.

Die blaue senkrechte Linie scheint das mystische Geschehen nochmals abstrakt darzustellen. Wo sie auf die „Erde“ trifft, wechselt die Linie die Farbe. In abstrakter Weise kann darin ein Teil des apostolischen Glaubensbekenntnisses gelesen werden: Jesus Christus ist der Sohn Gottes, empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, …

Ein goldener Kreis umgibt den Schnittpunkt der beiden Linien. Ist er ein Symbol für das Leben und Wirken Jesu, seine göttliche Ausstrahlung?

Da sind auch noch Reiter mit vorgestreckter Lanze. Jagen sie vielleicht Jesus und seinen unerschütterlichen Glauben an seinen Vater? Das Bild gibt meines Erachtens keine klare Antwort und bringt nur Verfolgung und Krieg zur Sprache. Es tönt auch an, dass Jesus nur auf der weltlichen Ebene gejagt und verfolgt werden kann. Das „woher er kommt“ und „wohin er geht“ bleibt unfassbar!

Verkündigung

„Freue dich Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,30-33)

Die Botschaft des Engels an Maria sprengt alles menschlich begreifbare. Kein Wunder fragt Maria zurück: Wie soll das geschehen? Dietrich Stalmann will mit seiner Malerei dieses unbegreifliche und damit geheimnisvolle Geschehen aufgreifen. Seine leuchtenden Farben und die ungegenständlichen Formen bringen die göttliche Gnade zum Ausdruck, das Wirken des Heiligen Geistes.

Als Grundlage seines Bildes verwendet der Künstler die SW- Fotografie einer Verkündigungs- Ikone aus dem 17. Jahrhundert. Davon sind nur noch die Köpfe von Maria (mit Heiligenschein) und dem Engel deutlich zu erkennen. Das Wesentliche des alten Gemäldes ist beibehalten worden, in der Tradition der Kirche respektiert. Alles andere ist unter der Neuinterpretation von Dietrich Stalmann verschwunden.

Auffallend ist die Anordnung der Farben. Blau, Weiß und Braun unten, Gelb und Grün oben. Dann größere lockere Elemente von links oben vor dem Engel durch, die vor Maria kleiner werden und festere Formen annehmen. Eine von der schwarzen Ecke ausgehende Bewegung ist somit feststellbar, die unsere Augen zu Maria führt und dort auf ihrem Schoss ruhen lässt. Wir erfahren die Botschaft des Engels.

Durch das Absenken der blauen, weißen und brauen Farbflächen in die untere Bildhälfte wird auch die Kraft Gottes spürbar, die über Maria kommend in ihre Welt einbricht. Wie in einer mystischen Schau werden wir Zeugen, wie Gottes Geist im gelben Licht zu Maria kommt (große gelbe Fläche) und sie durch ihr „Ja, mir geschehe nach deinem Wort“ zur „Lichtträgerin“ (kleine gelbe Fläche), Gottesgebärerin und -mutter wird. Zärtlichkeit spricht aus dieser Begegnung, in der Gott auf so einmalige und segensreiche Weise einen Menschen berührt hat.

Meine Augen bleiben unersättlich in dieser nicht enden wollenden Berührung – Gott will auch in mir Mensch werden –, bis sie vom gelben Feuerlicht wieder nach oben geführt werden, wo sie an zwei weiteren gelben Flächen hängen bleiben. Ihre schmalen länglichen Formen erinnern mich an das Kreuz, an das Ende des irdischen Lebens von Jesus. In seiner gelb leuchtenden Form spricht es allerdings auch von der Auferstehung, dem ewigen Leben bei Gott. Das tut gut.

Umgekehrt gesehen können die drei gelben Flächen auch als Symbol für die Dreifaltigkeit gedeutet werden. Vater und Sohn sich gegenüber im Dialog, von ihnen ausgehend der Heilige Geist. – Die „Verkündigung“ verkündet uns, dass Gott ununterbrochen sich in alle Menschenherzen eingießt, die für ihn offen sind.