Aufstieg in Frage gestellt

Eine Leiter ragt von der Chorstufe aus in den leeren Kirchenraum. Sie ist mit einem roten Seil am Altar befestigt, von ihm quasi gehalten. Auf ihren Sprossen sind mit Kabelbindern Küchenmesser festgebunden, die auf jeder Sprosse die Richtung wechseln. Ganz oben sind fünf farbige Ballone angebracht.

… es geht aufwärts … hat Hans Thomann seine Arbeit zur Fastenzeit 2020 betitelt. Er spielt damit auf einen Leitgedanken in unserer Gesellschaft an, der tief in unserer Leistungsgesellschaft verankert ist: Wachstum, grenzenloses Wachstum, es soll immer nur aufwärts gehen, alles nur besser werden. Wer nicht immer mehr, wer nicht immer höher hinaus will und mehr aus dem Leben herausholt, gilt schon mal als Spielverderber. Es ist doch erstrebenswert und so gewinnbringend, auf der Karriereleiter Sprosse um Sprosse hochzusteigen, um am Ende Spaß ohne Ende und schier grenzenlose Freiheit zu haben.

Doch die Messer auf den Sprossen erzählen etwas anderes und stellen ein solches Denken in Frage. Wer diese Leiter hochsteigen will, begibt sich auf einen gefährlichen Weg. Jeder Schritt wird einschneidende Konsequenzen haben, wenn er nicht mit Bedacht gemacht wird. Wer diese Leiter hochsteigen will, wird der Selbstverständlichkeit des Könnens beraubt. Er wird vor die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist und wenn ja, ob es sich überhaupt lohnt. Was ist der Preis des Aufstiegs, mit welchen Mühen oder Gefahren ist er verbunden? Geht meine Karriere zu Lasten meiner Mitmenschen, der Natur oder gar meiner Gesundheit? Wer muss den Preis für meinen Aufstieg bezahlen?

Die Leiter führt zudem ins Leere. Sie lehnt oben nirgends an, sie endet im Nichts. Wo soll denn der stetige Aufstieg hinführen? Was ist das Ziel meines Tuns? Und nicht zuletzt ist die Leiter nur mit einem roten Seil gesichert, das wie ein seidener Faden am Altar befestigt ist. Wenn die Leiter zu stark belastet wird, kann das Seil reißen oder sich lösen.

Hier wird bildhaft die Gottverbundenheit zur Sprache gebracht und in Frage gestellt: Von was werde ich gehalten, was gibt mir die Kraft, wer gibt mir das Leben? Auf einmal ist die Leiter nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern ein Symbol meiner selbst und die Messer werden zu Symbolen von einschneidenden Ereignissen in meinem Leben, von Hindernissen, die zu überwinden waren, von Verletzungen und Wunden. Sie sind mir auf meinem Lebensweg, in meinem Wachstum und in meiner Entwicklung zugefügt worden. Sie gehören zu mir, sind ein Teil von mir geworden.

Das vom Altar ausgehende rote Seil mutet wie eine verbindende Nabelschnur zu unserem Schöpfer an. Es kann für die haltgebende Liebe Gottes, für die alle Wunden heilende und Sünden vergebende Hingabe seines Sohnes und ebenso für die Führung und Kraft des Heiligen Geistes stehen.

Eindrücklich wird unser Denken, Verhalten und Glauben in Frage gestellt. Im Kontext der globalen Corona-Pandemie hat diese Arbeit geradezu prophetischen Charakter: Wir erfahren, wie klein und verletzlich wir sind. Wir erleben die Kehrseite und Grenzen unserer Fortschritte und Errungenschaften und stellen uns neu die Fragen: Wer leitet mich? Woran halte ich mich fest? Oder vielmehr: wer gibt mir den Halt und die Kraft dazu?

Flyer zur Ausstellung

Text und Bilder zur Installation in der Peterskapelle in Luzern

Narben

Markante schwarze Linien lassen uns auf diesem Bild einen menschlichen Körper wahrnehmen. Sie „zeichnen“ einen Torso, einen Oberkörper ohne Kopf, Beine und Arme. Am unteren Ende des Brustkorbes sind Klammern zu erkennen, mit denen die Arme an den Leib gebunden sein könnten. In der Brustgegend verdichten sich die an einen mäandrierenden Fluss erinnernden Linien zu einer Kreuzform, jedenfalls kann diese Stelle als ein Mensch mit ausgebreiteten Armen gesehen werden.

Der Torso ist zudem transparent, lässt die Sicht frei – oder offenbart – sein Innenleben: eine diagonale Gestalt, halb stehend, halb liegend, von einer starken weißen Linie umgeben. Durch die farbliche Dichte rundherum scheint sie in einer sargähnlichen Vertiefung zu liegen, gleichermaßen wie die schwarze Figur leicht von der Seite dargestellt und auf die einfachste Körperform reduziert. Alle drei Figuren überlagern sich – sie kreuzen sich am gleichen Ort in der Mitte der Brust!

Überall am Torso sind Narben und Nähte zu entdecken – verheilte Verwundungen! Dieser Mensch muss viel Leid erfahren haben, das unter die Haut gegangen ist und unvergessliche Spuren hinterlassen hat. Michael Morgner hat mit der Radierung dafür eine sehr bildhafte Technik verwendet, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit Foltermethoden sehr überzeugend und berührend wirkt. Denn beim Bearbeiten der Metallplatte durch Ritzen, Ätzen, Aufsprengen und Zerfurchen wird sie wie ein Körper „verletzt“ und hinterlässt „Wunden“.

In all den schweren Verletzungen hat sich der Mensch in sich zurückgezogen, die verbleibenden Kräfte sammelnd, alles Zerschlagene zusammenhaltend. Die innere Gestalt in Mumienform lässt daran denken, dass er sich bereits zu den Toten zählt. Dennoch strahlt die „gebündelte“ Gestalt Lebenskraft aus – bewahrt im Innersten und Wesentlichen ihr Selbst – umgeben von einer Linie des Lichts. Wie ein Samenkorn liegt sie still in der „Erde“ des irdischen Leibes (vgl. Joh 12,24f) und harrt auf die Auferweckung nach der Not.

Der Gekreuzigte auf seiner Brust lässt an eine Identifikation mit Jesus denken. Auf ihn schaut er in der Not. Von einem Beter im alten Israel sind diese treffenden Worte überliefert (Ps 38,9.18.22): „Kraftlos bin ich und ganz zerschlagen, ich schreie in der Qual meines Herzens. … Ich bin dem Fallen nahe, mein Leid steht mir immer vor Augen. … Herr, verlaß mich nicht, bleib mir nicht fern, mein Gott! Eile mir zu Hilfe, Herr, du mein Heil.“

Ausgehend vom Rücken des Breuer Christus in der Rast, hat Michael Morgner in vierzehn Bildern versucht, durch die Narben hindurch das vielgestaltige menschliche Leid neu zu thematisieren. Ein Kreuzweg in ganz neuen Bildern ist entstanden. Er erzählt vom Kampf um das Leben und gegen den Schmerz. Er erzählt vom Glauben an Gott und das ewige Leben. Er erzählt gerade durch die Narben von erfahrener Heilung und neuem, geschenkten Leben.