Geschenkte Größe

Inmitten des großen Kreisrunds begegnet uns golden hinterlegt die heilige Familie. Maria sitzt und hält das Jesuskind in ihrem Arm, Josef steht zugewandt und beschützend dahinter. Relativ zu der großen und schweren Masse des Steines, der einen beeindruckenden Durchmesser von einem Meter hat, wirkt das Kind klein und zerbrechlich wie ein soeben Neugeborenes.

Der runde Stein steht für die Vollkommenheit, aber es kann auch das Weltenrund darin gesehen werden oder ein Menschen-Leib, in dem Leben heranwächst, oder sogar ein Brot-Laib. Jesus ist als Erdenbürger geboren worden, er ist leib-haftig Mensch geworden. Er will in uns zur Welt kommen und sich als lebendiges Brot verschenken, damit wir in Ewigkeit leben (vgl. Joh 6,51).

Wie aus dem Auge oder dem Herzen der Welt heraus präsentieren Maria und Josef allen auf dem Weltenrund den Gottessohn. Vom unteren Weltenrand schauen die versammelten Völker zum Licht auf, das über ihnen aufstrahlt wie Jesaja vorhergesehen hat: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht.” (Jes 9,1) Endlich ist der Retter da! – und doch ist da noch eine Distanz dazwischen.

An die Menschenmenge und uns Betrachter richten sich drei Zeilen aus dem Gedicht „Das Marien-Leben” von Rainer Maria Rilke (1911/12), die über der Heiligen Familie in den Stein gemeißelt sind:

… SIEH, DER GOTT, DER ÜBER VÖLKERN GROLLTE,
MACHT SICH MILD UND KOMMT IN DIR ZUR WELT.
HAST DU IHN DIR GRÖSSER VORGESTELLT?

Rilke und auch der Künstler weisen damit auf die Barmherzigkeit Gottes hin, auf seine Liebe zu uns Menschen, die mit der Geburt seines Sohnes in die Welt gekommen ist. Das Zentrum ändert sich: Gott ist nicht mehr nur oben im Himmel, sondern auch und vor allem mitten auf der Erde. Gott ist nicht mehr fern, sondern nahe, er ist nicht mehr zornig, sondern gnädig, er trägt nicht mehr nach, sondern verzeiht. Deshalb ist das Erstaunen groß und die Frage berechtigt, welche der Künstler zwischen die Heilige Familie und die erwartungsvollen Völker gestellt hat: WAS IST GRÖSSE?

Was ist Größe? Rilke vergleicht in seinem Gedicht zur Geburt Jesu alle Schätze der Welt und das Ansehen der Könige mit der Geburt des Gottessohnes und kommt zu dem Schluss, dass das alles nichts wert ist gegenüber dem Geschenk, das Gott den Menschen macht: Er schenkt sich selbst. Jedem Menschen, bedingungslos und umsonst, obwohl wir das nicht verdient haben. Er möchte der Mittelpunkt unserer Seele, unseres Herzens, unseres ganzen Lebens sein, damit wir als erlöste und befreite Menschen mit ihm und mit allen Menschen in Frieden leben und die Fülle des Lebens erfahren. Gott macht sich klein und schenkt sich jedem von uns unverdienterweise. Das ist seine wahre Größe. Das größte Geschenk, das weitergeschenkt werden will.

 

Die Skulptur war vom 05.11.2022 bis 22.01.2023 Teil der 82. Telgter Krippenausstellung “Mittendrin” im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte.

anders schauen – Neues entdecken

Der Blick des Betrachters taucht in eine fast formlose Farbenwelt ein, deren Aura neu schauen und denken lässt. Es gibt ein Oben und ein Unten, es gibt auch so etwas wie eine darüber (vordere) und darunter liegende (hintere) Ebene, diagonale Linien, die ein X bilden.

Die obere, vordere Ebene wird von der wolkig-grünen Farbe mit Tiefenwirkung zum tiefsten Punkt hin bestimmt. Diese Ebene ist an der unteren Kante  so nach hinten gebogen, dass darin zwei Flügel gesehen werden können, deren Unterseiten die unterhalb der Bildmitte liegenden Farben reflektieren. So scheint der obere Teil aufzureißen oder abzuheben und das Darunterliegende freizugeben.

In der Mitte dominiert ein intensives Gelb mit einer Kreisstruktur, welche an eine Sonne denken lässt, die zum unteren Bildrand hin fast stufenlos über ein luzides Lila-violett in ein intensives Blau übergeht.

In einer anderen Sichtweise führt vom unteren Bildrand her eine breite lichte Straße ins Bildzentrum. Links und rechts wird sie von einem hohen Wall mit rot-blau-weißem Abschluss gesäumt, der nur nach oben den Blick auf einen grünen „Himmel“ freigibt. Als Betrachter steht man beschützt in dieser fast unendlich langen Vertiefung mit den fantastischen Farben, die auf den grün gewölbten Himmel hin offen ist und ins Licht führt.

Ein nochmals anderes Schauen ermöglicht der gerundete und sphärische Farbverlauf zwischen dem Blau und dem Gelb. Denn es ermöglicht eine Sicht aus dem Weltall auf einen Planeten, über dem eine fremde Macht belebend und schützend seine Flügel ausgebreitet hat. Dort, wo sie sich am nächsten kommen, ist es im Bild am hellsten und von dort strahlt das Licht ins Bild hinein.

Ist es ein neuer Tag? Eine neue Erkenntnis oder Einsicht? Eine Befähigung und Ermutigung, im Da-Seienden neue Dimensionen zu entdecken und zu betrachten …

… so wie in der Sicht Josef Roßmaiers:

Eine Decke geht auf, die Schale zieht sich zur Seite,
ein Oben wird frei und eine andere Art Himmel,
die Weite an All weicht zurück
ins Unendlich:
Bodenlos, seitenlos; randlose Tiefe,
die Ferne, das Anders,
die Fremde,
ich falle hinaus, hinüber, hinein, lichtschnell und
auf einmal kein Laut mehr zwischen den Sonnmilliarden,
jeder Lärm ist jäh ins Universum gewichen,
aber ich ahne die Schreie im Bild,
im Absturz der Räume.
Kein Ende an Weg,
in der Ausfahrt der Augen
und Träume,
der Zeit…
Plötzlich, im einen Moment, fällt die Tür weg
und ich ras an die Grenzen,
die Enge reißt auf,
ich fahre,
und alles wird groß, blitzheftig,
ein Wirrspiel der Farben,
Anbruch von Himmel,
Einstrahlung.
Jetzt geschieht doch die Musik, tönendes Leuchten,
Lieder und Bild.
Immer mehr Anwesenheit.

Kain

Dunkel füllt die große Gestalt mit dem erhobenen Arm die rechte Bildhälfte. Die schwarze, mit rot vermischte Farbe lässt Böses ahnen. Gewalt liegt in der Luft, Ungerechtigkeit. Da ist einer im Begriff dreinzuschlagen, einen Menschen niederzumachen. Auf dem Hintergrund der Weltkarte wiederholt sich hier die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1-17). Wie die schwarzen Wolken über die Erde ziehen und diese – vom Sonnenschein trennend – verdunkeln, so überschatten die Nachfolgetaten von Kain das Antlitz der Erde und seiner Bewohner.

Die „Physische Weltkarte“ steht nicht umsonst quer auf der Seite. Durch Neid, Ungerechtigkeit und Gewalt wird sie verdreht, ihre Gesetze pervertiert. Während sich „Kain“ hoch aufrichtet und mit einer klaren Silhouette profiliert, verschwindet sein Opfer zu einer unförmigen Masse, bei der gerade noch knapp ein Kopf und ein Arm auszumachen sind.

Ein violetter Trauerflor breitet sich zwischen den beiden aus. Bruderliebe ist durch Neid und Eifersucht in Hass und letztlich in Brudermord umgeschlagen. Alle Farbe ist durch die Tat aus dem Täter uns seinem Opfer gewichen. Das Blut tränkt nun ihre Kleider. Kain hat mit seinem Bruder auch einen großen Teil von sich selbst zerstört. Der Mann ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hat sein Gesicht verloren, letztlich könnte er jedermann sein!

Von den weiß geschriebenen Worten sind viele übermalt. Was soll hier verdeckt werden? Spiegelverkehrt ist „Waffenl“ zu entziffern. Waffenlager werden gerne versteckt. Mit der Beschaffung und Lagerung von Waffen sind meist Geldmissbrauch, Macht und Mord verbunden. Mit Hilfe von Waffen – symbolisch steht der Stein in Kains Hand dafür – wird das Leben vieler Unschuldiger vernichtet, und das Antlitz unserer Schwester Erde wird gedankenlos zerstört. Die Weltkarte hat ihre Berechtigung!

Nach dem Totschlag seines Bruders wurde Kain von Gott gefragt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Er könnte mich auch fragen: Wo ist Deine Schwester, Deine Mutter, Dein Vater, Deine Frau, Dein Mann, Dein Kind? Was hast Du mit dem Leben oder dem Stück Erde gemacht, das ich Dir anvertraut habe? – Kain antwortete: „Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?“ – Ich kann mich nicht hinter Kain verstecken. Was ich getan habe, habe ich selbst vor Gott – und auch den Mitmenschen – zu verantworten!  Was werde ich zur Antwort geben?