Einsame Spitze

Eine junge Frau mit Rock, Bluse und soliden Stiefeln an den Füßen läuft mit einem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht zielstrebig auf den linken Bildrand zu. Ihre Hände halten die Träger eines Rucksacks fest, doch überraschenderweise gehören sie zu den Engelsflügeln auf ihrem Rücken. Es wirkt, als müsse sie die Flügel festhalten, damit diese ihr nicht vom Zurückbleibenden, dem sie zu entspringen versucht, abgerissen werden. Durch ihre energische Laufbewegung konnte sie sich im oberen Teil bereits davon lösen, aber an ihrem linken Flügel und ihrer linken Schuhsohle klebt es hartnäckig fest.

Der Titel mag sich auf die Frau beziehen, die im Kampf gegen die ihr anhaftenden Strukturen „einsame Spitze“ ist. Er kann sich aber auch auf das Spitzendeckchen beziehen, das ohne die Frau eine einsame Spitze sein wird.

Die sich in die Länge ziehenden Fäden des Garngeflechts suggerieren, dass sie bisher fest mit dem Spitzendeckchen verbunden gewesen war. Die Verstrickungen der Vergangenheit – dem Deckchen nach waren sie mal kleiner gewesen – sind übergroß zu einer Bedrohung und einem Gefängnis geworden. Die ursprünglich perfekten, aber starren Strukturen haben sie offenbar wie eine Fliege in einem Spinnennetz festgehalten. Damit sie gemäß ihrer Engelsnatur leben und handeln kann, ist es not-wendig, panikartig zu fliehen, alles Altbekannte entschieden abzustreifen und den Sprung ins Haltlose und unbekannte Dunkle zu wagen.

Die Kreisstrukturen der Spitzendecke lassen vermuten, dass ihr Leben immer wieder im Kreis verlaufen ist. Hat sie vielleicht den Ausbruch gebraucht, um sich weiterentwickeln zu können? Spitzenmäßig gebunden konnte sie ihre Flügel nicht gebrauchen. Doch nun scheint sie fliehen und sich losreißen zu können, wodurch auch der Abflug in neue Sphären möglich scheint. Die Dunkelheit vermag allerdings keine Antwort zu geben, wohin sie die Flucht bringen und wie die neue Freiheit aussehen wird.

Doch woher hat sie die Kraft für diesen Befreiungsschlag, was beflügelt sie derart, dass sie nichts mehr halten kann? Ist es das Ziel vor Augen, welches sie das schier Unmögliche vollbringen lässt? Der Glaube an das Mögliche, die feste Überzeugung, dass es ein anderes Leben geben muss? Ein Leben, das von der Freiheit geprägt ist, dieses selbst zu gestalten? Vielleicht hat sie ähnlich wie der blinde Bartimäus ihre Bitte nach Freiheit an Jesus herangetragen und von ihm auch die Antwort erhalten: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 10,52)

In dem Fall könnte die Flucht vom Althergebrachten – denn die Spitzenarbeit steht nicht nur für das Kunsthandwerk und die Lebensgestaltung unserer Ahnen, sondern auch für deren Strukturen und Traditionen – nicht aus eigener Kraft, sondern wie es die Flügel andeuten, aus der engen Verbundenheit mit Gott gelingen. Die verbleibenden, anhaftenden Fäden lassen allerdings auch durchblicken, dass wir unsere Vergangenheit nie ganz abstreifen können, dass sie wie auch immer ein Teil unseres Lebens bleibt und dieses weiterhin prägt. Der Blick darauf und der Umgang damit werden durch den Glauben an Jesus gewandelt und relativiert. Jesus selbst antwortet auf die Frage des Petrus, wer denn noch gerettet werden könne: „Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben. Viele Erste werden Letzte sein und die Letzten Erste.“ (Mk 10,29-31)

Das ist einsame Spitze.

Spieglein, Spieglein in der Hand …

Es ist nicht der ausgestreckte Arm und auch nicht die kunstvoll gezeichnete Hand, welche die Hauptrolle in diesem Bild spielen, sondern die beiden Rechtecke, die sich spielerisch verdreht einander gegenüberstehen. Die rechteckige Formatierung des Gesichts lässt erahnen, dass es ein Spiegelbild seines Gegenübers geworden ist, eine flache Ausgabe des so ausdrucksstarken menschlichen Gesichts, grafisch reduziert auf zwei Punkte und Striche.

Wo es früher Künstler brauchte, um sich mit einem tollen Bild in Szene zu setzen, greift heute jede und jeder zum Handy und bildet sich vor allen möglichen Sehenswürdigkeiten ab. Die Sehenswürdigkeiten selbst bleiben dabei im Hintergrund, weil es nur darum geht, sich selbst mit dem besonderen Ort abzubilden. Und um zeigen zu können, hier war ich gewesen, das alles habe ich gesehen, mit all dem kann ich mich schmücken. Mit leiser Ironie und wenigen Strichen hat der Künstler den Selfie-Gestus auf den Punkt gebracht.

Die mit sicherer Hand erfasste Momentaufnahme zeigt einen stark vereinfachten Oberkörper mit weit ausgestrecktem Arm. Die feingliedrige Hand hält ein gerahmtes Etwas, das sein Pendant in einem viereckigen menschlichen Kopf findet. Dieser schaut selbstverliebt in das Stück Technik, das so vieles in sich vereint und gleichsam einen verlängerten Arm bildet, der die ganze Welt in greifbare und erreichbare Nähe holt, und ihn gleichzeitig mit allen verbindet.

Dass damit aber auch eine wesentliche Veränderung mit uns geschieht, bringt Dr. Barbara Renftle in ihren charakterisierenden Worten zu dieser Arbeit von Hermann Schenkel als zeichnendem Philosophen zum Ausdruck: „Das, was wir in Händen haben, formt unsere Persönlichkeit. Je öfter wir unser Smartphone in der Hand halten und hineinsehen, umso mehr gleicht sich unser Antlitz dem vorgegebenen Format an – es wird eckig, verliert die menschlich organische Form. Auf ironisch-humorvolle Weise und mit wenigen, entlarvenden Strichen spiegelt Schenkel die Selfie-Selbstverliebtheit der digital generation und die Gefahr der Selbstentfremdung durch die Handymanie in seiner comicartigen Zeichnung von 2017.“ (BeHände – Die Hand als künstlerisches Symbol, Hrsg. Stiftung S BS – pro arte, Biberach, 2019, S. 31)

In dem Sinne regt die Arbeit zum Nachdenken an, wie das, was wir in die Hand nehmen oder schauen, uns prägt. Die Hände befinden sich seit jeher in der Hauptrolle unserer Tätigkeiten. Wir sind handlungsfähig oder handlungsunfähig, es ist etwas handlich, mit der Hand greifbar und gut zu gebrauchen (So ist das Mobiltelefon zu seinem deutschen Namen „Handy“ gekommen) oder eben unhandlich. Auch der Handel oder die Behandlung sind Ausdrücke in unserem Sprachgebrauch, die von der Bedeutung der Hand – gerade in unserem zwischenmenschlichen Leben – erzählen. Die verkrampfte Hand lässt auch ahnen, dass unsere so geschickten Hände beim Gebrauch der Technik zu „Angestellten“ reduziert werden, zu Zuarbeitern und sie durch die eingeschränkten Bewegungen immer mehr verkümmern.

Der zweite Aspekt, über den es nachzudenken lohnt, ist die Prägung unserer Persönlichkeit durch das, was wir mit unseren Händen machen und unseren Augen zu schauen geben. In seinem Aphorismus 146 in Jenseits von Gut und Böse schreibt Friedrich Nietzsche: “Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.” Das bewahrheitete sich durchaus bei der eitlen Königin im Märchen von Schneewittchen. Das Handy und den Umgang damit muss man nicht gleich negativ sehen, aber eine kritische Betrachtung schadet nicht. Denn etwas Wahres ist dran und das bringt der Künstler durch die rechteckige Gleichformung des Gesichtes zum Ausdruck.

Wie sehr Vorbilder oder eine intensive Beschäftigung oder Begegnungen uns prägen, wird z. B. von Mose berichtet. Sein Gesicht strahlte immer, wenn er mit Gott gesprochen hatte (vgl. Ex 34,29-35). Er hat die Freude, die Kraft und die Zuversicht, die Gott ihm gab, ausgestrahlt und an seine Landsleute vermittelt. Diese Ausstrahlung hat Nietzsche zu seiner Zeit vermisst, wenn er schreibt: Die Christen müssten mir erlöster aussehen, […] wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“

Unsere Zeitgenossen werden unseren Glauben nicht an unseren Handys erkennen und wahrscheinlich auch nicht an unseren Selfies, sondern an unseren Gesichtern und wie wir handeln. Ganz so wie Vinzenz Pallotti einmal schrieb: „Durch ein heiteres und frohes Gesicht können wir beweisen, dass die Nachfolge Christi unser Leben mit Freude erfüllt. Heilige Heiterkeit und geistliche Freude sind kostbare Früchte des Heiligen Geistes. An ihnen erkennt man die wahren Diener Gottes.“ Diese Erleuchtung von innen wird wesentlich stärker sein als die fahle Beleuchtung durch ein künstlich leuchtendes Handydisplay, und auch ohne Selfie wird Derjenige, der hinter uns steht, durch uns sichtbar und vermittelt werden.

Dieses und gut 50 weitere Werke, welche die Hand in der Kunst thematisieren, waren 2019 in der Ausstellung “BeHÄNDE” in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in Biberach zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der für etwa 10 Euro dort erworben werden kann.

Lebenslinien

Ordnung und Chaos begegnen sich in dieser Zeichnung gleichermaßen. Der helle Grund weist gewebte oder zumindest gleichmäßig verdichtete Strukturen auf, während einzelne Fäden sich nach vorne und nach oben in freier Bewegung davon ablösen.

Die durchaus konkreten Linien wirken andeutend, raumschaffend, durchlässig. Der faserige Strich deutet einen Faden an und lässt ein textiles Gewebe erkennen. Soll damit eine textile Verwicklung oder vielmehr eine sich in Freiheit entwickelnde Bewegung gezeigt werden? Eine sich in die Freiheit hinausbewegende Entwicklung? Aus dem festen Grundgewebe hinaus in haltlosen Freiraum? Eigene Wege suchend, eigene Bewegungen, eigene Farben und Strukturen? – Die Möglichkeit besteht.

Der Ausreißer hinterlässt im Grundgewebe eine Lücke, eine Ausdünnung oder Schwachstelle. Darüber erhebt sich der sich lösende und immer dunkler werdende Strich in freier Bewegung … und hinterlässt eine chaotische, ungeordnete, nicht einzuordnende Spur. So wird der Ausreißer zum Außenseiter, zu einem schwarzen Schaf. Der Ausbruch hat einen Schaden angerichtet, beim einen wie dem anderen.

Aber der Faden scheint nicht getrennt zu sein. Da besteht noch eine Verbundenheit mit dem Ursprung oder der Herkunft. Eine Nabelschnur zur „Mutter“ oder dem „Vater“. Es ist eine aus dem festen Gefüge ausgebrochene Lebenslinie, die eigene Wege sucht, eigene Bereiche erkundet, Welten entdeckt und sich da einbringt.

Entwicklungen und Veränderungen im familiären Sozialgefüge können hier gesehen werden. Eltern geben eine Lebensgrundlage. Doch Kinder brauchen eine fast grenzenlose Ungebundenheit und Freiheit von ihren Eltern, um ihren eigenen Lebensentwurf gestalten zu können. Im Bild kann das so gedeutet werden, dass zum Betrachter hin und am oberen Bildrand Freiräume sind, also „Luft nach oben“ besteht. Ist das Loslassen der Eltern nicht ein Vertrauensbeweis in ihre Kinder und deren Fähigkeiten, der diesen über Raum und Zeit hinweg wieder Verbundenheit und Halt gibt?

Die Arbeit von Karl Schleinkofer mutet wie eine grafische Darstellung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn an, der mit dem Einverständnis seines Vaters und seinem ganzen Erbe in die Ferne gezogen ist und später, als dieses verbraucht war, als Armer wieder zum Vater zurückkehrte, weil doch eine Verbundenheit geblieben ist.

Ebenso kann durch die Hervorhebung einzelner Fäden in der Zeichnung sehr schön ein Grundprinzip unseres Glaubens meditiert werden: Der Glaube bildet im Leben des Gläubigen eine haltgebende Grundlage, die ihm ermöglicht, individuell seiner Berufung nachzugehen und diese in das Gesamtgefüge der Gesellschaft einzubringen. Die Linienführung macht deutlich, dass es ein Suchprozess und damit kein einfacher Weg ist, der auch dunkle und schmerzvolle Zeiten kennt. Die Interaktion der verschiedenen Linien machen aber auch deutlich, dass gerade dadurch eine Tiefe und Spannung ins Bild kamen, die dem „Lebens-Bild“ wie einem guten Essen eine besondere Würze geben.

Diese und viele unveröffentlichte Arbeiten von Karl Schleinkofer waren im Februar 2020 im Museum Moderner Kunst Wörlen in Passau in der Ausstellung “Arnulf Rainer und Karl Schleinkofer” zu sehen.

AUS-radiert?

Die Abfolge von fünf Bildern lässt uns einen existenziellen Veränderungsprozess nachverfolgen. Es geht um Sein oder Nicht-Sein, um Leben und Tod, einen Kampf um’s Überleben. Der oberflächlich auf dem weißen Blatt erscheinende Tod ist vom AUS bedroht, von der Ausradierung durch eine stärkere Erscheinung seiner Selbst. Erstaunlicherweise vermag er ganz schwach zu überleben. Ob er sich regenerieren und zu alter Stärke zurückfinden wird?

Ausgangspunkt und Grundlage ist die Bleistiftzeichnung eines Totenkopfes. In der linken oberen Ecke des Blattes platziert schaut er aus einer erhöhten Position und wie „von oben herab“ den Betrachter an. Seine „Augen“ sind nicht zu sehen. Sie sind entweder in den schwarzen Augenhöhlen oder hinter schwarzen Brillengläsern verborgen. Noch scheint er zu lächeln: „Seht, da bin ich und warte auf euch!“

Im zweiten Bild  erhält der gezeichnete Totenkopf Konkurrenz durch sich selbst. In einem Radiergummi in Form eines Totenkopfs begegnet ihm selbst der Tod und bedroht ihn mit dem Aus. Klein wie ein David vor dem Goliath liegt der Radiergummi neben ihm und lacht wie er mit seinen offen liegenden Zähnen: „Du kannst mir nicht entwischen. Du gehörst mir. Gleich werde ich deine Existenz angreifen. Denn ich habe die Macht dich auszutilgen, auszuradieren.“

Die nächsten Momentaufnahmen (Blatt 3 und Blatt 4) zeigen, wie mit dem Totenkopf-Radiergummi die Zeichnung so lange bearbeitet wurde, bis der Gummi aufgebraucht war. Gewissermaßen war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wer der Stärkere ist. Auf jeden Fall war der Kampf für beide aufreibend. Der Radiergummi hat seine Gestalt gänzlich verloren und existiert nur noch als Krümel. Die Zeichnung ist noch schwach sichtbar – ein Schatten ihrer selbst).

Beide haben ihre Macht verloren. Von beiden sind nur noch Spuren zu sehen. Vom Radiergummi die Krümel, welche das Graphit des gezeichneten Totenkopfs weggerubbelt haben und ihnen nun anhaftet. Von der Zeichnung ist mehr zu erahnen als auf dem Papier zu sehen. Die künstlerische Aktion mag belustigend wirken. Mit dem Tod wird versucht, den Tod auszuradieren. Aber kann die Aktion nicht auch ein ermutigendes Gleichnis für unser Leben sein?

Der Tod kann nicht vernichtet werden. Er wird weiterhin zur Wirklichkeit des Lebens dazugehören. Aber er kann uns nicht ausradieren! Die Aktion macht deutlich, dass immer etwas übrig bleibt. Spuren einer Existenz, Spuren von etwas Existenziellem, das sich nicht ausradieren lässt, das selbst der Tod nicht löschen kann. Das Wesentliche überlebt den Tod und wird in eine neue Daseinsebene überführt (vgl. 1 Kor 15,51). In Bezug auf die Zeichnung sind es die tiefer liegenden Schichten oder das Darunterliegende, welche der Tod nicht erreichen und damit vernichten konnte.

In Bezug auf uns Menschen sind es alle Erfahrungen der Liebe, die sich tief in unsere Herzen und unsere Seele eingebrannt haben. Alle Liebe, die wir in welcher Form auch immer – von der uneingeschränkten Hingabe bis zur Verweigerung – zu geben oder zu empfangen imstande waren. So kann uns der „Todeskampf“ ermutigen, uns um das Wesentliche zu bemühen, um das, was unter die Haut geht, Herz und Seele berührt, erfreut und in Ewigkeit leben lässt.

Hilferuf in der Verstrickung

Eine menschliche Figur liegt im Vordergrund, den Blick und den linken Arm nach oben richtend (Totalansicht). Sie ist in seilartige Fäden eingewickelt, verstrickt in einer langen Schnur, die gewunden von einem übergroßen Garnknäuel zu ihr führt. Dieses Seil scheint ihre Freiheit nach und nach eingeschränkt, dann gefesselt und schließlich zu Fall gebracht zu haben. Nun wirkt es, als sei es der Person gerade noch gelungen, den linken Arm zu befreien, um Hilfe vom Himmel zu erflehen.

Bei der Frage nach der Person geben einerseits die Wundmale an Händen und Füßen als auch die Körperhaltung den Hinweis, dass es sich um Jesus handelt, dessen Körper aus einer Kreuzigungsdarstellung (Detailbild) ausgeschnitten und um 90° nach links gedreht aufgeklebt wurde. In liegender Position und umwickelt von dem seilartigen Garn, wirkt sein Körper gefangen und gestrauchelt, aber lebend.

Hinter ihm stehen sich zwei runde Formen gegenüber. Links von seinem Arm befindet sich eine rote Schüssel mit einem Tuch. Es hängt so über den Schüsselrand, dass sein rechter Zipfel nach rechts weist und dort in leicht aufsteigender Linie über die Schnur zum Fadenknäuel führt. Jesu Arm geht mittendurch, gleichsam Freiraum ringend.

In der Grauzeichnung mutet Jesus wie ein Sterbender aus einem antiken Theater an. Dramatisch liegt er darnieder, Kopf und Arm zu einem letzten Hilfeschrei erhoben. Seine Verfolger haben ihn zu Fall gebracht mit all den Fäden, die sie gegen ihn gesponnen haben (vgl. Mt 26,4). Endlich haben sie den unbequemen Störenfried in ihre Gewalt gebracht, bald wird er nicht mehr gegen sie und ihre Verhaltensvorstellungen reden können.

Offensichtlich ein Sieg. Aber die Verbindung zu der durch den Wollknäuel symbolisierten Personengruppe ist nicht gekappt. Auch wenn sie es nicht wollen, werden sie mit ihm verbunden bleiben, ob sie nun aktiv seinen Tod gefordert oder sich wie Pilatus der Verantwortung entziehend die Hände in Unschuld gewaschen haben (Mt 27,14). Die rote Schüssel mit dem Tuch kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie verweist aber genauso auf die Fußwaschung vor dem letzten Abendmahl (Joh 13,1-20; vgl. Lk 24,26f), mit der Jesus seinen Jüngern nochmals den Unterschied zwischen Dienen und Herrschen eindrücklich vorgelebt und ersteres als richtungsweisendes Beispiel gegeben hat.

Schließlich soll noch die auffallende rote Farbe der Waschschüssel auf ihre Bedeutung befragt werden. Unwillkürlich lässt sie an das Blut denken, das bei Jesu Folterung und Kreuzigung geflossen ist. Doch in der Chronologie des Geschehens kann sie bei der Fußwaschung zuerst als Zeichen der Liebe, der ganzheitlichen Zuwendung und Hingabe gedeutet werden (Joh, 13,1). Erst mit dem Gebet in Getsemane, bei dem sein Schweiß aus Angst wie Blut zur Erde tropfte (Lk 22,44), erhält die rote Farbe die Bedeutung des Blutes. Und was in Getsemane tropfenförmig seinen Anfang nahm, wird am Kreuz durch den Lanzenstich des Soldaten als Blut und Wasser aus seiner Brust herausfließen (Joh 19,34).

Viele Aspekt der Arbeit verweist so auf die Zeit des Leidens und Sterbens Jesus. Aber ob man das Kunstwerkt ohne die Titelangabe mit Getsemane in Verbindung bringen würde? Jesus ist allein dargestellt, ohne die Jünger. Aber fühlte er sich neben den schlafenden Jüngern nicht auch allein? Auch ist Jesus weder in einem Garten noch in einer traditionellen Gebetshaltung dargestellt. Aber könnte das handgeschöpfte Papier mit seiner faserigen Struktur und dem natürlichen Büttenrand symbolisch nicht für den Garten stehen, der erhobene Kopf, die ausgestreckte Hand für sein Gebet? In dieser freien Leseweise von Jesu Gebet auf dem Ölberg könnten denn die folgenden Psalmverse auch Teil des Gebetes Jesu gewesen sein:

Mich umfingen die Fesseln des Todes
mich erschreckten die Fluten des Verderbens.
In meiner Not rief ich zum Herrn
und schrie zu meinem Gott.
Er griff aus der Höhe herab und fasste mich,
zog mich heraus aus gewaltigen Wassern.
Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich,
denn er hatte an mir Gefallen.
(Ps 18,5.7.17.20)

Offen für das Leben

Die wenigen Linien vermögen beim ersten Anblick geradezu ein Gedankenfeuerwerk auszulösen: Wir sehen ein Bett, das an seinem Kopfende gleichsam Fühler oder Antennen hat, die sich wiederum mit Raumkanten verbinden. So steht die Liegestätte nicht ganz haltlos im Raum – sie ist gleichsam von oben her wie mit Flügeln in der Schwebe gehalten.

Gleichzeitig vermag man einen stilisierten Käfer mit langen Fühlern zu sehen. Sucht er im unendlichen Raum des weißen Blattes nach einem Anhaltspunkt? Steht das Bild vielleicht für unseren Glauben, für unser suchendes Vorwärtsschreiten? Ist das Viereck zwischen den diagonalen Linien nicht auch so etwas wie ein Fenster, ein Durchgang zu einem Dahinterliegenden? Die wenigen Linien bilden für unser glaubendes Vorwärtstasten bereits Anhaltspunkte, führen uns an Orte und Situationen im Leben, in denen wir vielleicht Grenzerfahrungen gemacht haben und Gott unerwartet nahe waren.

Dies mögen Zeiten des Ausruhens oder Erholens sein, in denen wir bewusst oder unbewusst dem Leben und seinem Sinn nachgespürt haben. Vielleicht erinnern sie uns aber auch an Zeiten der Krankheit, der Prüfung oder des Ausharrens, des Abschiednehmens. Denn das Bett – oder ist es nicht doch ein Stuhl – ist leer. Viele könnten sich hier niedergelassen haben. Und jeder ist eingeladen, sich hier niederzulassen und sich von der von oben kommenden unsichtbaren Kraft erfüllen zu lassen, die über dem Bett wie von einem Sammelbecken aufgefangen und trichterförmig auf den im Bett Liegenden gelenkt wird. – Ein schönes Bild für die Gnade Gottes: Gerade in den Zeiten der Entspannung oder Erholung fließt Seine Kraft besonders intensiv dem Bedürftigen zu.

Sicher sind noch weitere Zugänge zu dieser Zeichnung von Monika Bartholomé möglich. 19 Bleistift- und Pinselzeichnungen hat die Künstlerin für das neue Gotteslob der Katholischen Kirche in Deutschland und Österreich geschaffen, die in ihrer grafischen Schlichtheit hervorragend mit den Schriftzeichen und Notensystemen kommunizieren.

Gerade in den wenigen, ganz einfach und damit existenziell und wesentlich gehaltenen Linien liegt ihre große Kraft, assoziativ auf die einzelnen Lebenslagen und –situationen des Betrachters eingehen zu können und ihn darin zu begleiten. Verletzlich fein präsentieren sie sich im Buch (Link zu den weiteren Zeichnungen mit kurzen Impulsen). Es sind lineare Anknüpfungspunkte, die zum Dialog einladen, offene Zeichen, die Freiraum ermöglichen, kraftvolle Impulse, die über den Gottesdienst hinaus bewegen.

Anlässlich der Ausstellung “Alles auf Papier – Monika Bartholomé” in der Akademie Franz Hitze Haus, Münster ist 2013 der Katalog “Monika Bartholomé: Die Fülle des Lebens” mit den Zeichnungen zum Gotteslob und einer hervorragenden Einführung von Stefan Kraus erschienen. Der Katalog kann zum Preis von 7,50 Euro + 4 Euro Versandkosten im Shop des Liturgischen Institutes in Trier bezogen werden.

Vision des Himmels

Im Deckenspiegel der in der Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten evangelischen Pfarrkirche in Seibelsdorf (Bayern) begegnen sich seit der umfangreichen Sanierung von 2008-2010 Rokoko und zeitgenössische Kunst (Ansicht 1, Ansicht 2). Die schwarzen 6 mm breiten Linien der Tuschzeichnung fügen sich harmonisch in das Licht- und Schattenspiel der sie umgebenden Stuckaturen ein. Nach den Regeln des Künstlers haben alle Linien eine ellipsoide Grundform. Sie berühren sich gegenseitig nicht und bilden auch keine Punkte. Mit ihren dynamischen Rundungen nehmen sie die Formensprache des Rokoko auf und führen sie thematisch in neue Dimensionen.

Während die Rundungen am Bilderrahmen dichter sind und dunkle Bereiche bilden, öffnen sie sich zur Mitte hin und geben Raum frei. Durch diese Strichführung erzeugt der Künstler die Wirkung einer Kuppel. So zieht es den Blick des Betrachters wie durch ein großes Auge hindurch in einen jenseitigen Raum mit unendlicher Höhe. Es öffnet sich ihm eine Vision des Überirischen und Transzendenten, die durch und über alles Dinghafte hinweg eine immaterielle Gegenwart in der Welt erahnen lässt (Großansicht).

Vier Säulen unterstreichen diese Bewegung nach oben und zur Mitte. Auf leichten Einwölbungen des Rahmens stehend, von Stuckelementen unterfangen, stemmen sie sich in eine Höhe, um eine mit Staubpartikeln versetzte Weite zu tragen. Durch die geschickte Linienführung entsteht nicht der Eindruck, dass diese zentrale Gegenwart leicht wäre oder die Säulen ins Nichts hinausgehen würden. Sie tragen vielmehr etwas unendlich Gewichtiges und Erhabenes.

Die vier Säulen werden von einem Linienmeer umwogt, das gleichzeitig Assoziationen an Flammen, Wasserwogen, Windwirbel und links auch an Pflanzen zulässt. Hier wird die Fülle des Lebens mit all seinen Bewegungen und Begegnungen angedeutet, so wie sie vom unsichtbaren Gott (vgl. Kol 1,15; 1 Tim 1,17) geschaffen wurde. Er thront über allem und ist gleichzeitig in allem (Eph 4,6) gegenwärtig. Ganz besonders in der Gemeinde, die sich unter diesem symbolträchtigen Bild versammelt.

Für sie ist diese große Deckenmalerei ein Blick in den Himmel. Sie soll erfahren, dass hier ein begnadeter Ort ist, ein Ort, an dem, wie bei der Taufe Jesu, der Himmel offen steht (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,21) und intensivste Gottesbegegnung und -gemeinschaft möglich ist. Gottesbegegnung wie sie der Prophet Elija am Berg Horeb machen durfte, in der er Gott nicht in machtvollen Kundgebungen erfuhr, sondern im kaum wahrnehmbaren Säuseln des Windes: „Der Herr antwortete: Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.“ (1 Könige 19,11-13)

Gerhard Mayer wurde am 5. Oktober 2011 für diese Arbeit der Kunstpreis der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 2011 verliehen.

Link zum Pressartikel von BR-online

Wir sind da

Bescheiden stehen die drei Worte auf einer großen weißen Wand. Wer nicht achtgibt, läuft an ihnen schlichtweg vorbei. Bei diesen von Hand mit Fineliner auf die Wand geschriebenen Worten könnte es sich ja auch um eine Wandschmiererei handeln, um eine in jugendlicher Unbekümmertheit oder Frechheit angebrachte Botschaft. Dieses „Wir sind da“ steht im Zeitgeist von „Wir sind Deutschland“, „Wir sind Papst“ (Bildzeitung 20. April 2005) und einem „Yes, we can“ des amerikanischen Volkes. Doch wer ist „wir“? Geht es dabei um ein Volk? Und wo „sind“ diejenigen, die „da“ sein sollen? Auch derjenige, der geschrieben und diese geheimnisvolle Spur hinterlassen hat, ist nicht mehr da.

Mit diesen drei Worten werden gleichzeitig Anwesenheit und Abwesenheit angesprochen. Die Worte zeugen von einer Gegenwart, von einer spürbaren Präsenz. Aber sie verbirgt sich namenlos hinter den drei Worten „Wir sind da“. Dennoch geschieht hier Offenbarung. Offenbarung, die einerseits an die Selbstkundgebung Gottes in der Wüste erinnert, als sich Gott dem Mose aus dem brennenden Dornbusch heraus als „Ich bin der ICH BIN DA“ mitgeteilt hat (Ex 3,14).

Andererseits mag der Schriftzug in seiner mysteriösen Erscheinung an die Warnung Gottes an den König Belschazzar (mene mene tekel uparsin) erinnern, die der Prophet Daniel übersetzen muss, damit der König sie versteht (Dan 5). Allerdings wird in unserem Fall kein drohendes Unheil verkündet. Vielmehr kann das „Wir sind da“ als ein Statement gelesen werden, als eine Einladung. Wir sind da. Du kannst nun kommen. Du bist herzlich willkommen.

„Ganz offensichtlich ist dieser Schriftzug nicht die Präsenzfanfare aus dem Munde eines Pluralis Majestatis, sondern die Bekundung auf einer Art Notizzettel in einem sehr vertrauten Kontext.“ (J. Rauchenberger) Diese Präsenz ist für alle da, gerade auch für die kleinen Leute (vgl. Mt 5,3-12).

Es bleibt die Frage nach dem „Wir“ in dieser Kundgebung. Geschah die Ich-Aussage Gottes zur Zeit Mose in einem polytheistischen Umfeld, in dem es darum ging, den einen wahren Gott zu manifestieren? Entstand die Wir-Aussage zu Gott im Rahmen eines Kunstwettbewerbs, in dem neue künstlerische Positionen zum Thema Trinität gesucht wurden? Im „Wir“ fasst der Künstler Markus Wilfling die vor gut 2000 Jahren sich herauskristallisierende christliche Glaubenserkenntnis zusammen, dass der eine Gott sich uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart und für uns da ist. So steht das „Wir sind da“ voll und ganz in der christlichen Tradition und verkündet doch hochaktuell den mit keinem unserer Sinne fassbaren Gott, obwohl er in seinem Wesen durch und durch dem Menschen zugewandt ist.

In seiner radikalen Einfachheit hört sich das „Wir sind da“ auch wie ein Werbeslogan an. Ganz schlicht tönt er, ohne bildliche Darstellung und ohne in die Augen springende Farbe. Die drei Worte werben nicht für etwas Materielles, das man kaufen kann, sie kommen auf einer tieferen Ebene an. Sie scheinen einen Widerhaken zu haben, der sich im Gedankengut des Lesers einnistet zu einer selbstverständlichen, stärkenden Gegenwart. – Doch brauche ich eigentlich diese verborgene Präsenz dessen, der da ist und keine leeren Worte macht, sondern hält, was er verspricht? Brauche ich diesen: „Wir sind da“?

Friedensstifter

Geradezu „wortkarg“ präsentiert sich das Triptychon aus drei gleich großen, weißen Tafeln. Das mittlere Bild zeigt aus der Vogelperspektive ein nestartiges Gebilde aus kreisförmig ineinander verflochtenen Zweigen. Auf der linken Tafel ist in der unteren Hälfte eine weiße Taube zu sehen. Das rechte Bild ist leer. Was die wenigen Zeichen wohl aussagen wollen? Wie kommt die Künstlerin dazu, sie mit Weihnachten zu verbinden?

Das kreisförmige Geflecht mit seiner weißen Mitte dominiert die Bildfläche. Seine Zweige sind nicht, wie zu erwarten wäre, dunkel, sondern weiß, weil sie mit Schnee bedeckt gezeichnet wurden. Da das Zentrum darunter verdeckt ist, erscheint die Mitte leer.

Durch den Vogel unten links wird der Kranz assoziativ mit einem Vogelnest verbunden. Doch da, wo er seine Eier ablegen könnte, liegt dicker Schnee. Ein unwirtlicher Ort, genau wie die Krippe. Sie verweisen auf die Stelle 1,11 im Johannes-Evangelium: “Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Gleichzeitig verweist das unbrauchbar gewordene Nest als Dornenkorne auf die Passion Jesu. Der Vogel, der keinen Platz findet, dem Schnee und Kälte den Gebrauch des Nestes verwehren, das ist die Fortsetzung der Weihnachtsgeschichte.

Die zur Mitte hin gerichtete Taube möchte primär an den Heiligen Geist erinnern, der bei der Verkündigung über Maria kam und sie überschattete (Lk 1,35). Während er in den mittelalterlichen Darstellungen jedoch dynamisch von Gott Vater zu Maria flog, steht die Taube hier seltsam statisch da, eher abwartend und beobachtend, was nun geschehen wird. Doch über den drei Bildtafeln herrscht ein bewegungsloses Schweigen, das durch die absolut leere rechte Tafel noch verstärkt wird.

Denn neben den Andeutungen auf das Weihnachtsgeschehen stehen die drei gleichformatigen Tafeln auch für die Dreieinigkeit Gottes: Links der Heilige Geist, (Taube), in der Mitte des Weihnachtsgeschehens Jesus, (Dornenkrone), rechts Gott Vater, der Verborgene, nicht Darstellbare (leere Fläche).

Im Zusammenhang mit dem zentralen Dornenkranz als Sinnbild für Unrecht, Folter, Leid und Mord kann die Taube im weiteren auch als Friedensmahnerin gesehen werden. Durch Jesaja ist das göttliche Kind als Fürst des Friedens angekündigt worden, dessen Herrschaft groß sei und dessen Friede kein Ende habe (9,5-6). Doch die Hoffnung der auf Jesus schauenden Taube wurde enttäuscht. Jesus konnte in seinem kurzen Wirken gerade den Anfang für ein Reich des Friedens setzen. Nun liegt das Bewahren und Bewirken des Friedens an uns.

Die Festlegung des Weltfriedenstages auf den 1. Januar und die damit verbundene jährliche Botschaft des Papstes möchten daran erinnern, dass Frieden nicht einfach geschieht, sondern durch innere Haltung und aktives Handeln entsteht. Eine innere Haltung, die wie das Innere des Dornenkranzes von Ruhe und Zufriedenheit gekennzeichnet ist, ein aktives Handeln, das wie jenes von Jesus aus dieser inneren Kraft gegen die kleinen und großen Missstände in der Welt angeht, die einem oft wie ein unentwirrbares Geflecht umgeben. Den Mut für die stets kommende und viele Chancen beinhaltende neue Zeit wünsche ich uns allen. Spricht nicht aus der Haltung und dem Blick der Taube auch diese Hoffung, dieser Wunsch?

Lebenszeichen

Nur Striche auf einer weißen Leinwand!
Nur?

Vor allem vertikal durchziehen sie die leere Fläche, eine bewegte Lebensspur hinterlassend durch den von Künstlerhand geführten Kohlestift.

Suchende Bewegung spricht aus den Linien, die sich manchmal kreuzen, überlagern, verdichten. Vorwärts-, Rückwärts-, ausgreifende Seitwärtsbewegungen und jähe Abbrüche sind zu erkennen. Zeiten des Fortschritts wechseln mit Kehrtwendungen, die Scheitern und Neuorientierung signalisieren.

Gestaltgebend dringt die vertikale Bewegung durch, die Verbindung zwischen dem Oben und Unten. Gottsuche? – Menschensuche?

Ein gegenseitiges Wagnis, eine Beziehung, die oft nur an einem seidenen Faden zu hängen scheint, der jederzeit reißen kann. Wie der Künstler Mut braucht, die große weiße Fläche mit dem schwarzen Stift intuitiv zu durchqueren, verfolgt auch der Suchende, auf eine innere Stimme hörend, horchend und tastend seinen Weg zum Mitmenschen, zu Gott.

Scheinbar haltlos, verbunden mit vielen Irrungen, vielem Scheitern, aber auch geführt, gehalten wirkend geben diese Linien ein Lebens-Diagramm.

Und die weiße Fläche suggeriert, dass all dieses Suchen von Licht umgeben ist. Gott bildet gleichsam den kontrastgebenden Hintergrund, auf dem sich der Mensch nach und nach erkennt und sich sein wahres Wesen in ganz eigener Gestalt abbildet.

Wandlung

Ein Weiser erzählte seinen Schülern von einem alten Mann, der mit einem geflochtenen Weidenkorb zur Quelle ging, um Wasser zu holen, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Die Leute lachten über ihn und sagten: „Du Tor! Merkst Du denn nicht, dass Du so niemals Wasser nach Hause bringen kannst?“ „Das weiß ich. Aber schaut, mein Korb wird rein und die Erde bekommt dadurch Wasser.“

Wir sehen hier einen Kelch, nein, die Form eines modernen Kelches, dicht geflochten aus dickem und dünnerem Dornenreisig, stabil ineinandergefügt – aber welchen Sinn hat ein Gefäß aus Dornen, das doch keine Flüssigkeit halten kann?

Bei weiterem Betrachten könnte man an einen Menschenkopf mit dem Halsansatz denken, einen aus Dornenzweigen geformten Kopf ohne Gesicht, ohne Ausdruck. Doch, je länger man bei dem Bild verweilt, desto ausdrucksstärker wird es. Eine Dornenhecke wehrt ab, grenzt aus und bei Berührung fließt Blut. All das trifft auf die Dornenskulptur nur sehr bedingt zu. Die klar abgegrenzte Form wirkt trotz der spitzen Dornen harmonisch schön, trotz der kleinen oder größeren Zwischenräume bereit, aufzunehmen und zu bergen. Von diesem Gefäß, in den weißen Hintergrund hineingezeichnet, ohne Schattenwurf, geht etwas Besonderes, etwas Sakrales aus.

„Christus“ nennt die Künstlerin ihr Werk. Christus als Kelch symbolisiert, aber als Kelch, der alle gewohnten Vorstellungen sprengt. Nicht nur, weil er wie der Korb des alten Mannes, keine Flüssigkeit halten kann, sondern weil er sich auch wegen des Materials, aus dem er gefertigt ist, dem Gebrauch, dem Anfassen und Festhalten entzieht.

Die Assoziation zum „Kelch der Leiden“ kann weiterführen: Christus, ein Gefäß, dazu bestimmt, alles Leid der Welt aufzunehmen, alle Verletzungen und Ängste, alle Not und Verzweiflung, alles Versagen und Scheitern, alle Schuld und Tränen, alles Blut. Seine durchlässige Form ist von allen Seiten aufnahmebereit, nicht für materiellen Inhalt, sondern für alles, was Menschen geistig bedrängt und bedrückt. In der Bildsprache des Dornenkopfes oder -kelches identifiziert sich Christus in anschaulichster Weise mit all diesem Leid.

Eine zweite Assoziation: In der Liturgie steht der Kelch für Wandlung, für Erlösung. In der Kraft des Heiligen Geistes wandelt Gott Leid und Schuld in überströmende, heilmachende Liebe, die überallhin ihren Weg findet, die durch die kleinsten und unscheinbarsten Ritzen zu allen Menschen dringt, die sich berühren lassen. Liebe kann verwandeln und nichts geht verloren, was aus Liebe geschah. Was wissen wir, ob aus unseren Fehlgriffen nicht letztendlich Gutes entstehen kann, wie durch das „sinnlos“ verschüttete Wasser des alten Mannes Reinigung geschah und aus der verhärteten Erde Leben sprießen konnte? Oder wie aus dem „Ärgernis“ und der „Torheit“ des Kreuzes Wandlung im eigentlichsten Sinn entstand: Der Einbruch der Liebe Gottes in unsere Welt, wo und wann immer wir sie annehmen?

Gemeinsames Gebet

Schwarze, breite, gerade Pinselstriche prägen diese Zeichnung. Zwischen ihnen sind – wie am Boden liegend – zwei Kreise angeordnet, gefüllt mit grauer Farbe und drei rötlich anmutenden Parallelen. Sie sind wie die zwei durch feinere Striche gebildeten Kreuzformen über ihnen strahlenförmig von grauen und roten Strichen umgeben.

Inmitten der statisch anmutenden „Balken”-Konstruktion kann deshalb an diesen beiden Orten eine Aktion herausgelesen werden. Hier geschieht etwas, geht etwas von innen nach außen. Ob wir ohne die Angaben des Künstlers darauf gekommen wären, dass es sich hier um zwei Betende handelt? Die dicken geraden Pinselstriche lassen Kreuze sehen, vielleicht auch ein Haus – aber menschliche Gestalten?

Auf der Suche nach den Menschen können die beiden Kreisformen noch am ehesten mit Köpfen in Zusammenhang gebracht werden. Deuten die drei Striche Augen und Nase an? Allerdings sind sie nicht oben am Körper angeordnet, sondern unten. Gewohnte Perspektiven werden hier durcheinandergebracht – neue Ansichten werden eingefordert! Die beiden Gestalten könnten am Boden liegen, in den Staub der Erde gebeugt sein, wie der Psalmist beschreibt: „Meine Seele klebt am Boden. Durch dein Wort belebe mich!“ (Ps 119,25). Die durch Kreuze geformten und gleichzeitig deformierten Körper lassen das Leid spüren, das sie niederdrückt, fesselt und bis zur Unkenntlichkeit entfremdet.

Hoffnungslos wäre diese Situation ohne die gekreuzten Hände. Ganz oben hat sie der Künstler platziert, dem Himmel zugewandt: Als Ausdruck der inneren Sammlung, der Sehnsucht des Herzens und der Bewegung des Geistes. In der Mitte bzw. aus der Mitte heraus brechen die Hände die belastende Situation auf, schaffen sie Freiraum. Dem Gebet wohnt Sprengkraft inne, wie die „Strahlen“ um die „Hände“ herum gedeutet werden könnten. Der Psalmist muss die Kraft des Gebetes erfahren haben, wenn er nach der ersten Bitte fortfährt: „Ich habe dir mein Geschick erzählt, und du erhörtest mich.“ (Ps 119,26).

Die Verdoppelung der Betenden scheint das Gebet zu verstärken. Die Zeichnung lässt offen, ob sich beide Personen in der gleichen Notlage befinden oder ob sich einer barmherzig einem Notleidenden zugewendet hat. Der Kopf der rechten Gestalt deutet jedoch auf das letztere hin. Er ist frei von umgebenden Balken und hat eine starke Zeichnung und Strahlkraft, denn sein Kopf ist von sonnenähnlichen Strahlen umgeben, während der Kopf der linken Gestalt schwächer gezeichnet ist und von Balken umgeben eingesperrter und leidender erscheint.

Doch durch die Solidarität des einen ist eine Leidens- und Gebetsgemeinschaft entstanden, in der der Bedürftige einen zweifachen Beistand erhält: einerseits im Mitmenschen und andererseits durch das Gebet auch in Gott. Insofern spiegelt sich das Wort von Jesus in diesem Bild wieder: „Alles, was sich zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,19-20) Das tröstet und schenkt Zuversicht.

Bitte um Gebet

Ein ungewöhnliches Kunstwerk: Ein handgeschriebener Brief auf gelbem Papier! Eine unbekannte Person wendet sich dankbar an eine Christine, die bereit ist, für sie und ihre Anliegen zu beten. Es folgt eine Aufzählung der Wünsche, die zuerst die Person der Bittenden betreffen, dann ihre Eltern, ihren Bruder, ihren Onkel, letztlich alle Menschen. Den Anfang aufnehmend, endet der Brief mit einem großgeschriebenen und vermutlich auch erleichterten DANKE.

Es ist selten, dass ein solches Dokument in der Öffentlichkeit präsentiert wird. Sie sind vielmehr in den Gebetsanliegen-Büchern im geschützten Raum der Kirchen gut verborgen. Denn die Wünsche und Anliegen verlangen vertraulichen Umgang. Wer sein Herz öffnet, wird verletzlich. Um sich davor zu schützen, hat die Schreiberin wahrscheinlich Datum und Unterschrift weggelassen. Dadurch ist der Brief nicht zeitlos und unpersönlich, sondern überzeitlich und ein mögliches Anliegen von vielen geworden.

Wie kam es zu diesem Brief? Die Künstlerin bat ihre Klassenkameradinnen und Freundinnen, ihre persönlichen Anliegen bezüglich des Studiums, des künstlerisches Arbeitens, der Familie, usw. aufzuschreiben und die Briefe jeweils an eine Schwester des Säkularinstituts Cruzadas de Santa Maria zu richten, die sich bereit erklärt hatte, für die Wünsche der Studentinnen zu beten. Die Schreibenden wussten, dass die Briefe zu einem Kunstprojekt gehören und ausgestellt werden.

Für viele Studentinnen war es etwas besonderes, dass jemand für ihre Anliegen betet. Dass sich jemand Unbekanntes für sie Zeit nimmt und vor Gott für sie betet. Aus dem Brief geht hervor, dass es ihnen gut tat, alle Wünsche, die sie innerlich bewegen, in einem Brief an eine Vertrauensperson äußern zu können. Durch die Bitte der Künstlerin wurde in ihnen der Glaube geweckt, dass ein einem Menschen und durch ihn auch Gott mit-geteiltes Anliegen eher Erfüllung finden wird. Die Worte Jesu, „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten,“ sind aus diesem Brief herauszuspüren (Mt 18,19). Und wie er wenig später zu seinen Jüngern sagt: „Alles was ihr im Gebet erbittet, werdet ihr erhalten, wenn ihr glaubt.“ (Mt 21,22)

Bei diesem und den anderen Briefen geht es nicht um die Diskussion, ob sie von der Herstellung her Kunstwerke sind, sondern um ihre Aussage. Bewegt vom Angebot der Künstlerin, dass Schwestern für sie und ihre Anliegen beten werden, haben Menschen wie du und ich ihre Wünsche formuliert. Zutiefst berührt, sind durch sie moderne Glaubenszeugnisse entstanden, die ihrerseits berühren und bewegen. Die Briefe können als „Spiegel“ unserer (Betrachter-) Wünsche betrachtet werden. Sie können aber auch als Impulse zum Innehalten, zum Bewusstwerden der eigenen Wünsche und vielleicht auch zum Niederschreiben an einen Menschen, dem man vertraut, gesehen werden. Aus der Sehnsucht heraus, in der Einsamkeit der eigenen Gefühle und Wünsche nicht allein zu sein, sondern gehört und erhört zu werden.

Löffel

Auf diesem Blatt ist nur wenig zu sehen. Mit minimalen Mitteln ist die Bildfläche vertikal und horizontal in drei Teile gegliedert. Vertikal ist nur der mittlere Bereich gestaltet, der sich horizontal in eine untere schwarze und eine obere weiße Fläche teilt. Dazwischen, kaum wahrnehmbar, ein Löffel. Seine Länge entspricht der Breite dieses Bandes.

Der Löffel liegt genau zwischen Schwarz und Weiß. Die beiden Flächen berühren ihn nicht, bedrängen ihn nicht – frei liegt er zwischen ihnen. Bei genauerem Hinsehen sind in der weißen wie in der schwarzen Fläche feine Abstufungen sichtbar. Graue Schattierungen beleben die weiße Fläche zum Löffel hin, weiße Aufhellungen durchziehen die schwarze Fläche.

Inmitten der abstrakten Bildkomposition dieser Arbeit stellt der Löffel den einzigen Bezug zu einem menschlichen Tun her. Durch ihn wird das Essen, die Nahrungsaufnahme angesprochen und thematisiert, auch wenn keine Lebensmittel zu sehen sind.

Einsam schwebt er zwischen den beiden Flächen im „luftleeren“ Raum. Ob er je benutzt worden ist? Er ist doch geschaffen worden, damit jemand mit ihm essen kann und Kraft zum Leben und darüber hinaus für die Arbeit und andere Tätigkeiten erhält. Die schwarze Fläche nimmt für mich die Blockform eines Fundamentes an, auf dem sich das Leben entfalten kann. Die Fläche mag so dunkel sein, weil sie von verschiedenen übereinanderliegenden Farben gesättigt ist. Damit steht sie gleichsam für schwarze Erde oder für einen vollen Bauch, welche beide die Basis für die Entfaltung eines fruchtbaren Lebens bilden.

Für die Weite des auf dem Essen aufbauenden Lebens steht symbolisch die über dem Löffel schwebende „Lichtsäule“. Sie ist nach oben offen, in ihr fließt die gleiche lichte Transparenz wie links und rechts. Ganz unten erinnern nur noch die grauen Schattierungen an die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme. Ansonsten atmet Freiheit in dieser Fläche.

In der senkrechten Gestalt der beiden „Flächenkörper“ finde ich die aufrechte Gestalt von uns Menschen wieder. Das Körper füllende und belebende Essen bildet die Grundlage, damit auch unser Geist aktiv sein kann. Das erinnert mich an das Jesuswort: „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ (Mt 4,4; Dtn 8,3) Ist die weiße Fläche mehr als doppelt so groß wie die schwarze Fläche, weil der Geist in unserem Leib wichtiger sein sollte als der vergängliche Körper? In der Bergpredigt sagt Jesus weiter: „Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. – Euch … muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen, dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,25.33)

Damit wird über das Nehmen hinaus das teilende Geben angesprochen, das anderen Leben schenkt. Der leere Löffel liegt bereit für neue Handlungen, er möchte von jemandem in die Hand genommen, gefüllt und gebraucht werden. – Und das Bild regt auch zum Überprüfen unseres Denkens und Urteilens an, das in kategorischem Schwarz-Weiß-Denken oft die Feinheiten des menschlichen Lebens missachtet, Fehlurteile fällt und dadurch Ungerechtigkeit schafft.