Augenkreuz, Augenblicke, Durchblicke

Aus vier quadratischen Bildtafeln schauen den Betrachter 16 Augen an. Als Lichtpunkte heben sie sich von den schwarzen Flächen ab, bzw. scheinen sie hinter ihnen zu leuchten. Wie durch Löcher schauen sie in den Kirchenraum hinein. Menschenaugen, aber immer nur eines, nie ein Augenpaar. Das irritiert. Es ist, als würden viele Leute hinter dieser Verkleidung ein Auge zukneifen, um mit dem anderen besser durch das Loch sehen zu können. Weit offene, wachsame Augen. Augen, die ruhig schauen, beobachten.

Zu wem sie wohl gehören mögen? Entfernt erinnern die vielen Augen an die Vision des Propheten Ezechiel, der den Thron Gottes von vier himmlischen Wesen (Cherubim) begleitet sah, die ringsum voller Augen waren (Ez 10,12). Andererseits erinnert die Darstellung von jeweils einem Auge an Abbildungen des einen Auges des einen Gottes. Es steht für die alle Geheimisse durchdringende Gegenwart Gottes. Stephan Balkenhol interpretiert es frei. Das Gegenüber bleibt im Wesentlichen verborgen, genauso wie das Kreuz hinter den vier Relieftafeln. Das Gegenüber, das alles zu sehen andeutet, gibt sich selbst bedeckt, maskiert. Aber die Augen signalisieren eine wachsame Präsenz.

Dabei stellt sich die Frage, ob es wirklich nur EIN Gegenüber ist. Die Überlagerung des Kreuzes durch vier Quadrate, die mit ihren Innenkanten einen kreuzförmigen Freiraum bilden, legt es nahe. Es sind irgendwie auch die Augen dessen, der am Kreuz gestorben ist und durch den Glauben der Menschen sich nun immer wieder neu in den Augen und deren Blicken zu erkennen gibt („Augenkreuz“ im Kontext des Altars).

Die Begegnung mit IHM muss und will gesucht werden. Die dem Kreuz vorgelagerte Arbeit weist darauf hin, dass Er – wenn auch verborgen – da ist und aus dem Geheimnis heraus uns sieht, schaut und liebt. Umgekehrt können auch wir ihn nur schauen, wenn wir durch das Vordergründige, durch das Sichtbare hindurchschauen, den Durchblick auf das Wesentliche der Dinge und Vorgänge suchen. Die profane Arbeit in der Kirche zeigt zudem, dass Gott nicht ausschließlich über religiöse Symbole „zu sehen ist“, sondern sich hinter / in allen Dingen der Welt versteckt, um sich dem zu offenbaren, der den Durchblick und damit „den Blick dahinter“ wagt.

In der Gesamtansicht der Kirche ergeben sich neue Perspektiven für das Kunstwerk. An zentraler Stelle der Chorwand wandelt sich die Arbeit zu einer Art Black Box. Visuell mögen vielleicht Analogien zum heiligen Stein (Kaaba) in Mekka aufsteigen, der von den Muslims als das Haus Gottes betrachtet wird, zu dem er alle einlädt. Parallelen zum christlichen Kirchenraum sind offensichtlich. Vom Wort „black box“ selbst sind auch Verbindungen zu einem Flugschreiber möglich, der alle Daten und Vorgänge in einem Flugzeug aufzeichnet und speichert. Im Zusammenhang mit den Augen könnte diese Funktion auch auf einen Gott übertragen werden, der alles sieht und erinnert. Das wäre allerdings eine verkürzte Sicht. Denn so verborgen sich Gott gibt, der Zugang zu ihm ist weder verschlossen noch unzugänglich. In der Arbeit zeigt sich das durch den kreuzförmigen Zwischenraum, der das große Würfelquadrat – ohne es auseinanderbrechen zu lassen – in vier kleinere Quadrate aufteilt und dadurch Ein- und Durchblicke auf Dahinterliegendes, auf Inneres ermöglicht. Das schwarze Quadrat  weckt die Neugierde des Betrachters und gibt Blicke in sein Innerstes frei. Da hier der Gekreuzigte zu sehen ist, Gottes geliebter Sohn, der sein Leben für unseres hingegeben hat, liegt die Deutung nahe, im „Augenkreuz“ von Stephan Balkenhol ein modernes Symbol für Gott Vater zu sehen, das Einblicke in sein Innerstes ermöglicht.

Die sechs weiteren Figuren, die an den Seitenwänden der Kirche befestigt wurden, bringen „Augenblicke“ der Geschichte Gottes mit den Menschen zur Sprache. Links vorne in einem Diptychon ein Mann und eine Frau, einander zugewandt, die vor einem grünen und goldenen Hintergrund stehen. Ihre Nacktheit und die beiden Hintergrundfarben deuten, ohne es explizit zu betonen, das Paradies an, die ursprüngliche Fülle des Lebens. Gegenüber sind vor einem silber-braunen Hintergrund ein Skelett und ein Mann zu sehen, der allseits gegenwärtige Tod, der uns Menschen begleitet und unsere Vergänglichkeit in Erinnerung ruft. In den mittleren Positionen stehen sich Maria mit dem Jesuskind im Arm und der Auferstandene gegenüber. Irritieren mag, dass Jesus nach heutigem Dress-Code gekleidet ist, dadurch verwurzelt der Künstler nach alter christlicher Tradition das vor 2000 Jahren Geschehene in unserer Zeit. Dies wird auch im dritten Figurenpaar deutlich, das eine junge Frau und einen jungen Mann unserer Zeit zeigt. Gott will seine Heilsgeschichte in unserer Zeit fortschreiben, … mit jedem von uns. Stephan Balkenhol hat mit seinen Kunstwerken eine wunderbare zeitgenössische Katechese geschaffen: als Einladung, Gott und sein Wirken näher kennenzulernen.

Weiteres Bild: Mann im Turm

Dieses und weitere Werke waren im Sommer 2012 im Rahmen der documenta 13 in der Kath. Kirche Stankt Elisabeth zu sehen. Weitere Informationen zu Stefan Balkenhol in St. Elisabeth.

Zur Austellung ist der Katalog STEPHAN BALKENHOL in SANKT ELISABETH erschienen. Auf 96 Seiten dokumentieren 90 Farbabbildungen und Texte des Bischofs von Fulda, Josef Meyer zu Schlochtern, Matthias Winzen, Rainer Marten und Helmut Krausser die Bedeutung dieser außerordentlichen Ausstellung. Snoeck-Verlagsgesellschaft Köln, 2012, ISBN 978-3-86442-020-7, Euro 19,80

Pressemeldungen zu den Arbeiten von Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth:

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Frau und Mann begegnen uns in dieser Arbeit. SIE steht frontal vor uns, mit herausforderndem Blick, die Arme selbstbewusst in die Seiten gestemmt und mit den Händen die Taille betonend. Die blonden Haare fallen in kunstvollen Locken auf das dunkelblaue Kleid mit seinem tiefen Ausschnitt. ER ist seitlich dargestellt, nur mit einer roten Bade- oder Unterhose bekleidet. Lässig steht er mit verschränkten Armen da, mit dem nach links gedrehten Kopf am Betrachter vorbeischauend.

Firmenlogos und knappe Angaben zu den Produkten stellen klar, dass es sich bei den beiden Personen um Models handelt, die Werbung für die Produkte dieser beiden Häuser machen. Sie sollen den Betrachter anmachen, in ihm die Lust wecken, diese oder ähnliche Kleider zu kaufen. Anregend steht beim Mann schon „Ich freu mich drauf!“. Ein vergoldeter Rahmen suggeriert außerdem etwas Wertvolles, Einzigartiges, das mit einem schönen Erlebnis verbunden wird und sich wie eine unvergessliche Erinnerung einzurahmen und aufzustellen lohnt.

Was in der Abbildung nebeneinander dargestellt wird, sind in Wirklichkeit die Vorder- und die Rückseite ein und desselben Objektes. Daher rührt auch die unterschiedliche Farbwiedergabe, welche einen wirklichkeitsgetreuen Eindruck weiter verfälscht. Dennoch. Das zur Schau-Stellen dieser beiden Werbenden hat exemplarischen Charakter. Lassen sie nicht an Adam und Eva denken, die dem Werben der Schlange erlegen sind? Hier sind die Rollen umgekehrt. Hier wollen Mann und Frau zum Besitz eines Gutes verführen, das dem Käufer neue Eigenschaften verleiht: gutes, ja blendendes jugendliches Aussehen, Kraft und Selbstwertgefühl, ein Erlebnis. Fast wie ein Spiegel wird allen vor Augen geführt, wie er aussehen kann und was die Kleider aus ihm machen, wenn er sie kauft.

In Holz geschnitzt und von einem Goldrahmen umgeben, erhalten die beiden Models die Aura von profanen Heiligendarstellungen. Sie werden in der Öffentlichkeit gezeigt, damit Suchende nach Identität und Sinn sich an ihnen orientieren und durch Kleidung und Verhalten ihnen nacheifern.

Nicht zufällig hat der Künstler für das weibliche Model die Künstlerin Madonna gewählt, die allein schon durch ihre Lieder und Inszenierungen viele Anhänger und Verehrer hat. Weiblich betont gibt sie sich selbstbewusst und gleichzeitig kämpferisch. Sie behauptet ihren Platz und füllt den Raum über den gegebenen Rahmen hinaus aus. Sie ist ja ein Star.

Der Mann auf der Kehrseite setzt seinen Sexappeal ganz anders ein. Mit dem Freiraum zu beiden Seiten seines Körpers und der betonten Männlichkeit scheint er eine Einladung auszusprechen. Hier ist noch Platz für dich, um mit mir Abenteuer zu erleben. Wann kommst du? Ich warte auf dich! „Ich freue mich darauf!“ kann sich somit nicht nur auf die Badehose beziehen, sondern auch auf Erlebnisse und Vergnügen, welche sie ermöglicht.

Kleider machen auch heute noch attraktive Leute! Aber muss es darüber hinaus nicht um die Person selbst gehen: um die Wertschätzung ihrer individuellen Eigenschaften, Gefühle und Fähigkeiten, die sie einzigartig machen? Macht nicht das die wahre Ausstrahlung und Attraktivität von Persönlichkeiten aus?

Ein dickes i in einem Kreis zeichnet die Plakatvitrine als Informationspunkt aus. Doch welche Informationen werden uns da vermittelt? Sollen die Dargestellten Vorbilder sein, denen man mit seinem Leben folgen kann? Sehen so moderne Heilige aus? So werfen diese beiden Idole die religiöse Frage auf, was für Informationen von heutigen Heiligendarstellungen erwartet werden. Was haben sie zu bieten? Denn Heilige werben ja auch … wenn sie auf Gott verweisen, der sich ihnen offenbart und an ihnen – in gewisser Weise wie an Maria – Großes getan hat. Nicht Großes durch das Geschenk von schönen Körpern oder verführerischen Kleidern, sondern in der Stärkung der Persönlichkeit aus der personalen Zuwendung und Liebe heraus.