Perspektivenwechsel

Es gibt Tage, da geht nichts wie gewohnt. Es scheint, als hätte man zwei linke Hände, man kann nicht mehr klar denken, man steht immer wieder im Stau oder Bus und Bahn fahren nicht im Takt, man verletzt sich oder verunfallt sogar. Kurz, es gibt Tage oder Zeiten, da wird unser Lebensrhythmus durcheinander gebracht oder gar auf den Kopf gestellt. Da mag es uns gehen wie dem schmalen, hageren Engel, der kopfüber auf einer überdimensionierten Legoplatte steht.

Er, der gewohnt ist als Botschafter des Höchsten zu fliegen und erhobenen Hauptes den Menschen zu begegnen und sie zu begleiten, er kann nicht mehr gehen, weil er mit dem Kopf auf dem Boden fixiert ist. Trotz allem bewahrt er Haltung, die Hände an der Naht der Hose angelegt, stramm und kerzengerade aufgerichtet. Aber seine Welt steht Kopf.

Traurig, melancholisch, stoisch schaut er drein. Das sieht man, wenn man ihm ins Gesicht schaut (Detailbild). Was ist wohl mit ihm passiert? Ist er aus dem Himmel gefallen? Abgestürzt, herausgefallen aus seinen Gewohnheiten und Sicherheiten? Ein Flügel ist kürzer als der andere. Haben sie ihn ausgemustert? Haben sie ihn deswegen fluguntauglich erklärt? Als Mahnmal kopfüber auf die Erde gestellt?

Die Legoplatte dient dem Spiel. Sie ist eine Grundplatte, die Halt gibt, aber auch andere Möglichkeiten eröffnet. My angel ist kein gefallener Engel. Er liegt nicht, er ist nicht tot, vielmehr anders. Damit verstört er, regt aber gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit ihm an. Meditiert er sozusagen, um sich zu sammeln und wieder „funktionstüchtig“ oder „flugsicher“ zu werden? Wird ihm das je wieder gelingen? Oder wird er durch den Teilverlust seines Flügels behindert bleiben? Aber ist er das nicht schon, verhaltensauffällig, wie er da auf dem Kopf steht?

Wie auch immer ist dieser Engel ein Wesen mit besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Und trotz aller Verletzlichkeit oder Gebrechlichkeit ist er auch ein irritierender Clown unter den himmlischen Seelenflugbegleitern. Er ist er wunderbar, weil rätselhaft hintersinnig und eigen-artig. Liebenswert. Er steht Kopf, um die Welt auf dem Kopf zu sehen. Dabei schaut er – der himmlische Perspektiven gewohnt ist – die Welt von ganz, ganz unten an.

Vielleicht tut uns so ein „Kopfstehen“ zwischendurch auch mal gut. Nicht nur dann, wenn es uns überraschend widerfährt, sondern als Übung, die Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Zum einen aus der „Froschperspektive“, aus der Sicht derjenigen, die gesellschaftlich ganz unten leben, oder durch ihr Verhalten oder ihre Gebrechen an den (Existenz-)Rand gedrängt wurden. Zum anderen einen verdrehten Blick, bei dem der Boden der Dinge auf einmal Oben sind und alles was Oben war, nun unten ist. Eine heilsame Erfahrung, die uns selbst im Geist beweglicher machen kann und uns allen näher bringt, deren Leben gerade aus den Fugen geraten ist oder Kopf steht.