Zwischen den Zeilen

In einer aufgeschlagenen Bibel mit schwarz-weißen Reproduktionen von Zeichnungen des französischen Künstlers Gustave Doré (deutsche Ausgabe von 1865) entfaltet sich ein überraschendes Geschehen. In einem geschaffenen Freiraum werden reliefartig aus den Buchseiten geschnittene Figuren sichtbar, die links drei Kronen tragende Köpfe zeigen, die auf eine bescheidene Hütte zugehen, rechts zwei stehende Personen – Maria und Josef – mit dem göttlichen Kind in ihrer Mitte. Wie es die Seitenzahlen und –überschriften andeuten, sind die Seiten in die Mitte der Bibel verlegt und die entsprechenden Textzitate (Mt 2; Lk 2) aufgeklebt worden.

Vor dem dunklen Hintergrund mit den detailgetreuen Darstellungen (links „Der Engel zeigt Johannes Jerusalem“, Offb 21,10; rechts „Geburt Jesu/ Anbetung der Hirten“, Lk 2,16) wirken die aus dem Papier herausgeschnittenen und nur mit den passenden Bibelzitaten „texturierten“ Figuren sehr schlicht. Einen farblich-flächigen Kontrast bildet jedoch die dezente Vergoldung der Kronen, des Fensters und der Tür der Hütte sowie des Kinderkopfes. Gehalten werden diese zeitgenössischen Darstellungen durch den Seitenrand, der zugleich Bildrahmen und Raumbegrenzung ist.

Diese Darstellung macht auf das einschneidende Ereignis der Geburt Jesu in der Geschichte zwischen Gott und den Menschen aufmerksam. Sein Kommen in unsere Welt markiert nach dem christlichen Verständnis eine Zeitenwende, weshalb seine Geburt den Anfang der westlichen Zeitrechnung bildet.

Der Werktitel deutet zudem an, dass die Geburt „zwischen den Zeilen“ des Zeitgeschehens stattfand, so dass nur die wachsamen Weisen und Hirten zu Jesus fanden. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Nur jene, die mit wachsamem und aufrichtigem Herzen Jesus suchen, werden in ihm auch das Licht der Welt erblicken.

In Bezug auf das Werk selbst kann der Titel auch als Geburtsdarstellung „zwischen den Seiten“ verstanden werden, weil sie sich zwischen den Seiten und in den Seiten der Bibel befindet.

Wie auch immer tritt das weihnachtliche Geschehen aus der Tiefe und dem Dunkel des Buchinnern nach vorne ins Licht der Gegenwart und damit in das Leben des Lesers und Betrachters. Auch wenn der Text durch die künstlerische Intervention beschnitten wurde, verbindet diese das Wort Gottes in ganz besonderer Weise mit den biblischen Gestalten. Ihre weiße Gestalt bildet letztlich eine Projektionsfläche für alle Menschen, die Gottes Wort in sich aufnehmen, ihm Wohnung geben und sich von ihm leiten lassen. In ihnen wird Gottes Gegenwart groß und für alle wachsamen Zeitgenossen ein sichtbares Licht werden.

Diese Arbeit entstand im Rahmen des vom Diözesanmuseum Freising ausgeschriebenen Krippenwettbewerbs und wurde bis 14. Januar 2018 mit 88 weiteren Arbeiten in der Karmeliterkirche in München gezeigt und ist im Ausstellungskatalog “Schöne Bescherung: Krippen 89/89 Kreative” abgebildet.

Niemand wird sie benutzen – oder doch?

Buch um Buch stapeln sich über 130 Bibeln in schwindelerregende Höhe. Jedes Buch liegt leicht versetzt über dem anderen, so dass sich eine dynamische Treppe ergibt, die zuerst nach hinten, dann nach links oben führt, um dann noch weiter nach hinten anzusteigen.

Von verschiedenen Seiten gesehen ist es ein sehr schiefer Turm, der sich in die Höhe schraubt. Er gleicht einer suchenden Bewegung, die sich mal nach links, dann wieder nach rechts in die Höhe wagt. Symbolisch steht die Bücherskulptur für den Menschen in seiner Gottessuche. Die Büchertreppe hat kein Zwischenpodest, auf dem zwischendurch eine Pause eingelegt werden könnte. Schritt um Schritt geht es weiter. Ohne Geländer, ohne Absturzsicherung. Was für ein Wagnis! Was braucht es für einen Glauben, sich auf so einen Weg einzulassen und zu hoffen, dass er trägt und vor allem nicht ins nirgendwo, sondern zu Gott führt.

Die Installation von Jochen Höller führt vor Augen, dass das Wort Gottes eine Stiege zum Himmel, zu Gott selbst ist. Das Wort Gottes ist eine Tritthilfe in ungeahnte Höhen und göttliche Welten. Es hilft sich zu erheben, Gott zu suchen und ihm zu vertrauen. Es hilft, sich auf den Weg zu machen.

Die Arbeit führt aber auch vor Augen, dass niemand diese Bibeln, die bislang schon nicht benutzt worden sind, benutzen wird. Ins Kunstwerk integriert, können sie nicht mehr geöffnet werden. Doch die Bibel muss ein offenes Buch sein, sonst kann Gottes Wort nicht lebendig werden. Die Bibel muss ein offenes Buch sein, damit Gottes Wort wirken kann, damit die göttliche Weisung zu den Menschen gelangen kann, damit die Menschen nicht nur menschlich miteinander umgehen, sondern göttlich.

Durch ihre Dynamik und Symbolkraft passt die Skulptur wunderbar in die 2004 von den Architekten Ulrich und Ilse Maria Königs in Burgweinting erbaute Kirche, „die sich öffnet zum Himmel und Geborgenheit gibt auf Erden”.

Jochen Höller hat mit der Skulptur seiner Himmelsleiter Mitte Mai 2018 beim Wettbewerb des Katholischen Bibelwerks Austria gemeinsam mit dem Bibelwerk Linz „Transformiert statt ausrangiert“ den 1. Preis gewonnen! “Die Schlichtheit und die spirituelle Gesamtaussage des Kunstwerks sowie die Professionalität der Umsetzung haben die Jury überzeugt”, heißt es in der Begründung.

Die Bücherskulptur war im Sommer 2018 in der Katholischen Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting installiert.

Ankündigung des Lichts

Zwei baugleiche rechteckige Objekte aus Industriestahl formen zusammen ein Diptychon. Sie unterscheiden sich vor allem in der Zeichnung der 24 horizontalen Lamellen, welche die Rahmen füllen.

Ohne Größenvergleich erinnern die beiden Objekte an Flügeltüren eines Eingangs, eines Schrankes oder an Fensterläden. Man ist versucht, sie aufzustoßen, um zu sehen, was dahinter ist. Oder wenigstens zwischen den Lamellen durchzuspähen. Was für ein Raum sich dahinter wohl öffnen mag? Wird er dunkel oder von Licht erfüllt sein? Wird er klein und geschlossen sein oder groß und in die Weite führen?

Überraschenderweise sind die beiden Objekte mit den Außenmaßen von 61,5 x 45 cm nicht größer als zwei kleine Schranktüren. Vielleicht sollen sie daher gar nicht als Türelemente aufgefasst werden, sondern vielmehr als zwei Objekttafeln, die eine gemeinsame Geschichte erzählen. Die Witterungseinflüsse haben sie mit Rost unterschiedlich gezeichnet. Die Patina lässt an einen lichten Weg denken, die Rostspuren an Wasser, das sich langsam vom vorderen Rand her in die Tiefe der Türen vorgearbeitet hat. (Detail)

Je länger man schaut, umso mehr erinnern die Lamellenstöße an Schriftlinien, auf denen geschrieben wurde. Nicht mit Buchstaben, sondern mit der „Handschrift“ des Rosts. Hell zeichnet sich seine Spur auf dem dunklen Grund ab und erzählt von einer langsamen Verwandlung durch das Wasser, die sich durch das Eindringen und Durchdringen des steten Wassereinfalls vollzogen hat. Die Oberfläche ist bereits hell geworden und kündet von einer anderen Gegenwart – die das ganze Wesen des Objektes verändern wird, wenn es sich dem Einfluss nicht entzieht.

So gesehen können die beiden Objekte Sinnbilder für das Erste und das Zweite Testament sein, entfernt auch für die zwei Tafeln mit den zehn Geboten, die Moses von Gott erhielt. Desweiteren vermögen sie zu erzählen, wie Gottes Wort Licht in das menschliche Dunkel zu bringen vermag (vgl. Ps 119), wie er als Retter allen beisteht, die für sein Wort offen sind (vgl. Ps 19,17-23), es hören und befolgen (Lk 11,28). In dem Sinne mag auch der erste Eindruck einer Doppeltür nicht verkehrt gewesen sein. Wer mit Gott geht, dem öffnen sich aus der Begegnung mit seinem Wort immer wieder Türen und es erschließen sich lichte Räume – gerade in ausweglosen Situationen.

„Über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf (Jes 9,1b).

Fasziniert vom Wort

Ganz in die Lektüre versunken sitzt ein ungewöhnlich gekleideter Mann vor seinem Buch. Die Welt um ihn herum scheint sich aufgelöst bzw. eine transzendente Form angenommen zu haben. Mit seiner Leibesfülle fest auf dem irdischen Boden sitzend ragt seine Gestalt in den hellen Hintergrund hinein, im Geiste mit ihm eins werdend. – Wer ist dieser Mann? Was beschäftigt und fasziniert ihn derart, dass er mit seinem Kopf geradezu in anderen Sphären schwebt?

Unter einem ellbogenlangen scharlachroten Schulterumhang (Mozetta) trägt der Mann ein langes dunkelblaues Gewand. Der rote Schulterumhang wird überdeckt von einer zweiten Stoffschicht, die spitz nach hinten ausläuft und wie ein Flügel vom Körper absteht. In seiner Grundform bildet der Körper dieses Mannes ein Dreieck, das, obwohl leicht nach hinten geneigt, zum Ausdruck bringt, dass dieser Mann fest wie ein Fels in sich ruht und weder zu erschüttern noch umzuwerfen ist. Im Gegensatz zu dem mit kräftigen Farben gemalten Rumpf wirkt der Kopf blass und teilweise geradezu transparent. Leicht nach vorne geneigt, ist er mehr durch seinen Platz am Körper als durch kopfspezifische Details zu erkennen. Viel bedeutungsvoller erscheint der Hut, dessen Mittelteil genau die Form des Kopfes fortsetzt, dessen Krempe allerdings nur als ein Strich in Erscheinung tritt. Damit wird er als bedeckendes Kleidungsstück wahrgenommen, gleichzeitig bildet seine Silhouette eine auffallende Verbindung zwischen dem Buchstaben H und dem Buch, das die vordere Hutkrempe beinahe berührt.

Mit weit gespreizten Fingern hält der Mann mit der linken Hand den dickeren Teil des Buches, indes er die rechte Hand, die dunkel und wie eine Tierpranke gemalt ist, zurückzuziehen scheint. So, also würde ihm das, was er gerade liest, Furcht einflößen und ihn erschrecken. Rechts neben ihm bzw. zwischen dem Mann und dem Betrachter erhebt sich die Rückensilhouette eines Tieres. Von den Farben her lässt es sich als Löwe identifizieren. Er hat seinen Kopf erhoben und schaut zum Mann oder vielmehr zum Buch hoch. Damit sind die Hutkrempe, das Gesicht und die Hände des Mannes als auch der Tierkopf auf das Buch ausgerichtet.

Dieses Trio – Mann, Löwe und Buch – ist im 21. Jahrhundert ein eher exotisches Bild. Ob es in seiner Symbolik noch zu verstehen ist? Die Kleidung des Mannes erinnert an einen kirchlichen Würdenträger, seine Farbe und sein Hut an einen Kardinal. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Buch und dem, was er darin liest. Doch der Künstler hat leere Seiten gemalt, genauso leer wie der asketisch eingerichtete Raum, der den Mann umgibt. Und doch erscheinen weder die Wand noch die Buchseiten leer, sondern durch den feinen und transparenten Farbauftrag von einer geheimnisvollen Gegenwart beseelt, die mit Worten nicht zu fassen ist. So materiell fest der Körper des Kirchenmannes in der Bildmitte aufragt, die weitere Umgebung lassen seinen vergeistigten Zustand spüren.

Die dem sitzenden Mann beigegebenen Attribute Löwe und Buchstabe lassen in ihm Hieronymus sehen, der von 347 bis 420 lebte. 382 wurde der sprachgewandte Theologe im Auftrag des damaligen Papstes Damasus I. mit der Revision der bereits vorhandenen lateinischen Übersetzungen des Neuen Testamentes beauftragt. Drei Jahre später wandte sich Hieronymus der Übersetzung des hebräisch verfassten Alten Testamentes zu. Die einheitliche Übersetzung der ganzen Bibel bekam den Namen „Vulgata“ (was mit „allgemein bekannt“ übersetzt werden kann) und wurde im Mittelalter zur wichtigsten Bibelübersetzung. Zum Löwen kam er, weil er der Legende nach während seiner Zeit als Einsiedler in der syrischen Wüste einem Löwen einen Dorn aus der Pranke gezogen und seine Wunde gepflegt haben soll, so dass dieser bei ihm blieb.

Siegfried Anzinger hat mit diesem Bild ein Thema aufgegriffen, das v.a. im 15. bis 17. Jahrhundert öfters gemalt worden ist (u.a. Jan van Eyck, Antonio da Messina, Domenico Ghirlandhaio, Giovanni Bellini, Albrecht Dürer, Michelangelo Caravaggio, Peter Paul Rubens). Im Gegensatz zu ihnen setzt er Hieronymus in eine geradezu transzendente Umgebung und lässt den Betrachter, indem dieser dem Gelehrten „über die Schulter schauen“ darf, an seinem Bibelstudium teilnehmen. Dabei scheint es dem Künstler weniger um die Übersetzung der Schrift von einer Sprache in die andere Sprache zu gehen (Hieronymus ist nicht am Schreiben), als vielmehr um die Vermittlung der Faszination, die vom Wort Gottes ausgehend den Gelehrten Hieronymus erfasst. Er kann nicht aufhören, dieses Wort immer wieder neu zu schauen und mit Herz und Geist auf seine Bedeutung hin zu ergründen. Aber nicht nur darin kann er uns heute noch Vorbild sein. Auch als Übersetzer der Heiligen Schrift in die damalige Umgangssprache erinnert er uns, dass jeder und jede von uns das Wort Gottes mit Leib und Seele in sein Leben und seine Zeit hinein zu übersetzen hat.

 

Ein wunderbares “Bilderbuch” mit weiteren faszinierenden Arbeiten aus dem Jahre 2011 ist von Rudi Fuchs unter dem Titel Siegfried Anzinger: Bilder 2011 bei der Snoeck-Verlagsgesellschaft Köln erschienen. Auf 80 Seiten verführen 40 Farbabbildungen in die traumhafte Bilderwelt Siegfried Anzingers. Format 30 x 24 cm, Soft­cover, ISBN 978-3-86442-004-7, 24,80 €

Vernagelte Schrift

Hinter einem „Gitter“ von geknickten Nägeln zeichnet sich eine graue Handschrift auf der hellen Leinwand ab. Von Hand geschriebene Sätze, denen die Zahlen 43 und 44 vorangestellt sind und weitere Zahlen und Buchstabenabkürzungen folgen, sind mit langen Nägeln zugenagelt worden.

Der Umstand, dass kein Nagel in die Schrift geschlagen, sondern stets daneben angesetzt wurde, zeugt von einem Respekt vor der Autorität dieses Wortes. Erst in einem zweiten Schritt wurden die Nägel kreuz und quer über den Text gebeugt, so dass alle zusammen eine harte Gegenschrift aus Metall bilden, die sich wie ein Maschenzaun über das geschriebene Wort legt. Meistens bilden zwei Nägel zusammen ein X, als wollten sie die lebendige Schrift durchstreichen, unkenntlich machen, damit ihr Inhalt nicht wie ein Virus in die Köpfe und Herzen der Betrachter hinüberspringt.

Was steht denn geschrieben, dass die Worte auf so wenig Gegenliebe stoßen und versucht wird, sie zu beschmutzen – so könnten die schwarzen fleckenartigen Erscheinungen gelesen werden – oder sie sich wie durch ein Gitter vom Leibe zu halten?

43 „Ihr habt gehört, daß gesagt ist, “Du sollst deinen Nächsten lieben” (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen.
44 Ich aber sage euch: “Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen” 2. Mose 23,4.5 ; Lk 6,27.28 . a Röm 12,14.20 b Lk 23.34; Mt 5,43; Apg 7,60

Dieser Satz stammt aus der Bergpredigt (Mt 5-7), wie er von Matthäus im 5. Kapitel seines Evangeliums überliefert wird. Jesus richtet die Worte an seine Jünger und alle, die sich um ihn versammelt hatten, um zu hören, weil er nicht wie einer ihrer Schriftgelehrten lehrte, sondern mit einer ungewöhnlichen Autorität. Aufbauend auf die herkömmliche Unterweisung lehrte er sie die neue Gerechtigkeit der Kinder Gottes, also eine neue, zum Teil bis dahin als unehrenhaft geltende Form des Zusammenlebens. In seinen Sätzen ist eine Sprengkraft, die für viele unbequem, herausfordernd, vielleicht sogar so überfordernd ist, dass sie sich wünschen, die Worte Jesu nie gehört zu haben.

Die guten Menschen lieben – ja! Aber diejenigen, die einem Böses wollen, das geht zu weit. Doch Jesus setzt noch eins oben drauf: Bittet auch für diese Menschen, die euch verfolgen! – Haben nicht gerade sie unser Gebet nötig, damit sie Einsicht und Kraft erhalten, von ihrem Tun zu lassen, umzukehren und gute Menschen zu werden?

Der Künstler hat die zwei Sätze mit Anführungs- und Schlusszeichen als direkte Rede hervorgehoben. Mit dem Du richtet sich Jesus zeitlos auch an uns als Betrachter: „DU sollst deinen Nächsten lieben“, „Liebt [ihr] eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“.

Der über diese Worte gebeugte Nagelteppich lässt die Gewalt der Hammer-Schläge und den Druck der Mächtigen spüren, mit dem sie Menschen bedrängen, belasten und in die Knie zwingen. Der von Jesus angesprochene Feind und die bedrängende Verfolgung kommen im Symbol der gekrümmten Nägeln auf einmal beängstigend nah und machen die Überwindung erfahrbar, die es braucht, den zu lieben und für den zu beten, der mir das Leben schwer macht.

Buchstäbliche Auflösung

Unzählbar viele Buchstaben türmten sich im November 2007 in der evangelisch-reformierten Kirche in Zürich-Witikon vor dem Besucher auf einer großen schwarzen Metallplatte auf. Die Buchstaben waren als Suppeneinlagen allen bekannt, vom Aussehen her sogar vertraut.

Aber das Auftauchen der Suppenbuchstaben in der Kirche war doch verwirrend. Wieso Suppenbuchstaben? Warum diese Anhäufung? Lose liegen die einzelnen Buchstaben unter-, über- und nebeneinander. Der Zufall hat kein Wort ergeben. Ohne menschliches Zutun haben diese Buchstaben ebenso wenig eine geistige Bedeutung wie die Buchstaben in einer Suppe.

Da die Suppenbuchstaben in einer Kirche – und erst recht einer Kirche der Reformation – angehäuft wurden, drängt sich die Vermutung auf, dass sie etwas mit DEM Wort zu tun haben: dem Wort Gottes. Tatsächlich wurden alle Buchstaben in der neuen Zürcher Bibel gezählt und durch die entsprechende Anzahl eines jeden Buchstabens als Suppenbuchstaben auf der Metallplatte, auf der jedes Jahr das Osterfeuer brennt, sichtbar gemacht. Am meisten kommen die Buchstaben E und G vor (571.347 x), am seltensten das X (144 x).

3.402.248 Buchstaben sind eine beeindruckende Anzahl. Doch das kann nicht alles sein. Ohne den ordnenden und sinngebenden Rahmen der biblischen Bücher wären sie bedeutungslos. Es muss also einen weiteren Grund geben, dass der Künstler die Aktion in einer Kirche durchgeführt hat. Noch haben wir nicht hinterfragt, warum der Künstler Suppenbuchstaben verwendet hat. Um die Anzahl zu visualisieren, hätte er die Buchstaben der Bibel auch ausstanzen oder in einem anderen Material sichtbar machen können.

Suppenbuchstaben sind zum Essen vorgesehen. Sie wollen verzehrt werden. Und darum ging es auch Hans Thomann. Er wollte die Gemeinde darauf aufmerksam machen, dass die Texte der Bibel nicht nur gelesen, sondern verinnerlicht, angeeignet werden, immer mehr wesentlicher Bestandteil von uns werden. Interessanterweise entspricht das Gewicht der 3,4 Millionen (Suppen)Buchstaben der Zürcher Bibel mit 74,875 kg ungefähr demjenigen eines „durchschnittlichen“ Menschen. Wie DAS Wort in Jesus Christus Mensch geworden ist, soll auch Gottes Wort in der Heiligen Schrift in uns Gestalt annehmen, uns immer mehr zu seinen Menschen gestalten.

Der Anspruch geht damit weit über den Brauch der sogenannten Fresszettel hinaus, bei dem kleine Stücke aus den Seiten der Bibel herausgerissen und gegessen wurden, um die Genesung der Patienten zu fördern. Im Rahmen des Martinimahls und dreier Suppentage im Januar wurde die Gemeinde eingeladen, sich die Bibel einzuverleiben.

Ein schönes Symbol, das viele Parallelen zur Bibelmeditation aufweist. Die Buchstaben müssen eingeweicht, essbar gemacht werden, so wie die Bibeltexte gelesen werden und ihnen ein Sinn abgerungen wird. Oft ist dabei ein wiederholtes Lesen notwendig, ähnlich dem (Wieder)Kauen im Geiste, dem Hin- und Herbewegen, um seine Bedeutung für mich zu verstehen. Dabei werden die Worte und einzelnen Buchstaben aufgelöst und erhalten – ihrem Ziel zugeführt – in Leib und Seele eine ganz neue, individuelle Bedeutung, die durchaus stärkend und heilsam sein soll.

Glaubensfrage

Der erste Blick auf das Bild mag verwirren. Das Auge sucht nach Halt und irrt doch vielmehr in der Vielfalt von Strichen und unbekannten Formen wie in einem Labyrinth umher.

Im Großen und Ganzen erscheint das Bild hell und freundlich. Der weiße, leicht ins Gelbliche changierende Hintergrund deutet einen undefinierten Raum an und lässt den einzelnen Formen und Gestalten viel Platz und Bewegungsfreiheit. Mal stärker, mal schwächer durchziehen die roten und blauen Linien die Bildfläche, keine Tiefe oder Perspektive gebend, die einzelnen Elemente wie Adern verbindend und zu einem Ganzen zusammenfügend, ihm aber auch ein fragiles Erscheinungsbild verleihend.

Unter den beiden kräftig blauen Farbeinbrüchen am oberen Bildrand erscheint – auch durch die sich gegen den „ transzendenten Himmel“ abzeichnende Silhouette – das Liniengewirr wie eine großer Organismus. Sein „Herzstück“ ist ein klar umschriebenes Gebilde, das mit seinen dicken Begrenzungen Festigkeit und Unumstößlichkeit vermittelt. Man kann diese Form als Gebäude sehen und mit Berücksichtigung des angedeuteten Turmes auch als Kirche. Das himmlische Blau scheint wie ein Segen einen Teil des Daches zu bilden. Anstelle aber beide Gebäudeteile zu bedecken, ragt es seitlich weit über das Kirchengebäude hinaus, um einem kleinen Haus und weiter unten auch menschlichen Gestalten Schutz zu geben. Das stimmt nachdenklich … Andererseits kann die Bildmitte auch als aufgeschlagenes Buch gesehen werden. Seine Größe und Position geben ihm eine zentrale Bedeutung, die vielen kleinen weißen Rechtecke, die wie verkleinerte Seiten oder „Flugblätter“ durch das Bild flattern und an manchen Stellen haften, vermitteln den Eindruck, dass sein Inhalt für alle wichtig ist,

Rund um diesen Mittelpunkt herum ist ein vielfältiges Leben zu beobachten. Vor allem im unteren Bildabschnitt sind mehrere menschliche Gestalten und ihre mögliche Beziehung zur Mitte angedeutet. Links außen begegnen wir zwei eher “stacheligen” Gestalten, von denen sich eine abkehrt, die andere dem zentralen Objekt zuwendet. Daneben sitzt ebenerdig eine junge Frau in einen Text versunken vor einem stelenartigen Gebilde, das ebenso einen Menschen mit erhobenen Armen darstellen könnte. Von hinten scheint sie das Böse mit ausgestrecktem Bein treten zu wollen. Das Böse, weil anstelle eines Oberkörpers ein Dreizack den Eindruck der Bosheit verstärkt. Ganz rechts steht einer mit ausgestrecktem Arm da. Er scheint gebunden oder gefesselt zu sein. So könnte er einen Verletzten oder Kranken darstellen, der wieder aufstehen kann und nun dankbar auf seine Kraftquelle hinweist, sie vielleicht sogar zu berühren versucht.

Ob die verschiedenen Gestalten stellvertretend für uns stehen, die wir jeder anders mit einer unumstößlichen Wahrheit in unserer Mitte umgehen? Wird in diesem Bild nicht unsere Lebenssituation dargestellt? Unsere Existenz in einer vielfach verwirrenden Welt, in der wir uns zurechtfinden müssen und nach Ordnung suchen?

Jeder, der bewusst lebt, sucht sich einen Platz, der seinem Wesen und seinen Möglichkeiten entspricht. Er muss sich fragen, wie er sein Umfeld wahrnimmt und wie er wahrgenommen wird, ob er auch verwirrte Dinge lösen und ihnen einordnend einen Sinn abgewinnen kann. Er muss im Wahrgenommenen seine Wahrheit herausspüren oder -hören, das, was ihm wichtig, was ihm Lebensmitte und Kraftquelle ist. Letztlich geht es um das oder den, woran zu glauben sich lohnt auf der Suche nach Orientierung, Ordnung und Halt in dieser verwirrenden Welt. Die im zentralen Gebäude angedeutete Gemeinschaft, die im aufgeschlagenen Buch signalisierte Frohbotschaft stellen zwei Angebote dar, in denen Antworten auf Glaubensfragen gefunden werden können.

Gefesselt? – Entfesselt!

Wer unbedarft in den Raum mit diesem Kunstwerk kommt, begegnet zuerst einmal vier überdimensionalen Büchern, die von vielen Händen aus einer rot oder blau schäumenden Masse hochgehalten werden. Jedes Buch ist mit einer vierfachen Kette in Kreuzform umschlungen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Buchrücken und Frontseite weisen unmissverständlich darauf hin, dass es sich um die Heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams sowie eines Buches des Dalaï Lama handelt. Gefesselte Bücher?

Thomas Hirschhorn provoziert mit dieser Arbeit viele Fragen und regt zum Nachdenken über das Buch der Bücher an:

Ist der Inhalt der Bücher so gefährlich, dass sie zugeschnürt werden müssen, damit ihr Wort nicht weiter wirkt? Doch das steht im Widerspruch zu den vielen Händen. Sie scheinen Menschen zu gehören, die in der überschäumenden roten – an Blut erinnernden – Masse ertrinken und als letzte Handlung gemeinsam die Heilige Schrift zu retten versuchen.

Gesellschaftskritisch gefragt: Sind wir eine untergehende Glaubensgemeinschaft? Versinken wir im Überfluss der überbordenden Konsumgesellschaft, welche uns das Leben kostet. Noch wird die Heilige Schrift hochgehalten, noch scheinen wir unser Leben für diesen letzten Wert einzusetzen … doch das Buch, das weitergereicht wird, … ist verschlossen.

Aber dann kann es seine Bestimmung nicht erfüllen. Ein verschlossenes Buch, ein Buch, das nicht geöffnet wird und nicht geöffnet werden kann, ist nur noch eine wertlose Attrappe. Doch das kann es nicht sein, die Menschenhände halten es in die Höhe! Das Kunstwerk könnte einen Aufschrei darstellen, dieses große, weil großartige Buch zusammen mit meinen Zeitgenossen aus den Händen der untergehenden Generation retten. Es ist ein Appell an uns, nicht tatenlos zuzuschauen, sondern aktiv zu werden. Das gekreuzigte Buch, das bereits wie eine Grabplatte auf einer Gedenkstätte liegt, von seinen Ketten zu erlösen und aufzuschlagen, damit seine Worte wieder atmen können. Und durch unser Lesen werden die göttlichen Worte wieder lebendig werden und durch unser vom Heiligen Geist gelenktes Denken und Handeln die Gesellschaft erneut mit Leben erfüllen.

Nein, die Heilige Schrift ist weder ein Buch mit sieben Siegeln noch ein gefesseltes Buch, sie ist ein entfesseltes Buch! Wer ihre Worte liest und glaubt, geht nicht unter, sondern wird zum ewigen Leben auferstehen.

Bibel auf Empfang

Eine Bibel und eine Radioantenne bilden dieses provozierende Kunstwerk. Fast zu einfach – und doch sehr anregend.

Die Bibel ist hier wie ein Radio durch eine Antenne „auf Empfang“ gesetzt worden. Damit wird eine wesentliche Aussage der Bibel sichtbar dargestellt. Sie vermittelt durch Worte eine Botschaft, die sie von einem unsichtbaren „Sender“ empfangen hat und an willige Zuhörer weitergibt.

Stehen nicht in der Bibel die Erfahrungsberichte unserer Vorfahren mit dem unsichtbaren Gott, der durch sein Wort sich ein Volk geschaffen und zu ihm gesprochen hat? Übermittelt nicht die Bibel diese Erfahrungsberichte sowie die Botschaft Jesu und die Erfahrungen der ersten Christen in unsere Zeit – ähnlich wie das Radio seine Sendungen zeitgleich über das Land ausstrahlt?

Im Vergleich mit dem Radio bietet die Bibel auch mehrere Programme mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten an: z.B. Geschichtliches in den fünf Büchern Mose, den Makkabäern, der Apostelgeschichte, usw., Prophetisches bei den Propheten, Philosophisches in den Büchern der Weisheit, Ijob, Kohelet, Jesus Sirach und dem Hohenlied, usw., Lieder in den Psalmen und an vielen anderen Orten der Bibel, Verkündigung in den Evangelien und den Briefen von Paulus, Johannes, Petrus, usw.

Die Antenne in der Bibel erinnert mich an noch etwas: Die Bibel ist nicht ein Buch, das nur Vergangenes zu berichten hat. Ihre Botschaft bleibt aktuell und hat mir und Dir heute und jetzt Wichtiges für unser Leben zu sagen. Die Geschichte des Volkes Gottes hört nicht mit den letzten Worten der Offenbarung auf, sondern setzt sich fort. Gott sendet unermüdlich sein sinn- und lebenstiftendes Wort aus und hofft auf aufmerksame Leser und Zuhörer, die ihr Leben nach seinem Wort gestalten. „Selig sind … die, die das Wort Gottes hören und es befolgen,“ sagt Jesus in Lk 11,28 und am Ende der Bergpredigt: „Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute.“ (Mt 7,24)

Letztlich ist die Bibel mit der Antenne ein Sinnbild für uns selber. Unser Herz, in dem unsere Geschichte mit Gott aufgezeichnet ist, sollte immer seine Fühler / Antenne ausgestreckt haben, um Sein Wort, das ER auf unterschiedlichste Art und Weise an uns richtet, empfangen und umsetzen zu können.