Geheimnis des Glaubens

Die Zusammenschau der drei quadratischen Bilder lässt durch Ihre Heterogenität eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten zu. Denn das Grau der Steine und des Wasserglases oder das runde Element in jedem Bild vermögen Verbindungen zu schaffen und den “Trialog” zu beleben. Auf verschiedenen Ebenen entstehen Bezüge, die immer wieder um eine Dreiheit kreisen:

Allen drei Bildern geht es um Ausdehnung und um Irritation. Die Ausdehnung erfolgt um eine runde Mitte herum (auch beim Glas hat die nicht sichtbare Öffnung des Glases in etwa den gleichen Durchmesser wie die beiden zentralen Steine). Die verwendeten Primärfarben Gelb, Rot und Blau bilden die Basis für den ganzen Farbenkosmos. Von links oben bis zum unteren Bild ist zudem eine Steigerung zu beobachten. Während die goldgelben Samen, die auch Wachstum beinhalten, noch geschlossen daliegen, scheint die rote Farbe im zweiten Bild wie Feuer oder vergossenes Blut unter dem dunklen Stein hervorzuspritzen, um dann ganz rechts explosionsartig alles zu sprengen und jede feste Form hinter sich zu lassen bzw. in Seifenblasen eine temporäre Form einzunehmen. Letztere stehen im Gegensatz zu den Versteinerungen in den anderen beiden Bildern, die Überzeitliches versinnbildlichen.

Die Bildtitel zu den in einem trompe-d’oeil-haften Realismus gemalten Arbeiten legen einen Zusammenhang mit alchemistischem Denken nahe. Splendor solis lässt an das gleichnamige illustrierte alchemistische Manuskript aus dem 15. Jahrhundert denken, in dem es um die Herstellung und Wirkungsweise des Steines der Weisen geht. Mit Mercurius wird Quecksilber (keckes oder lebendiges Silber) bezeichnet, von dem angenommen wurde, dass es den flüssigen und festen Zustand überschreitet. Ob es sich bei dem Triptychon um eine Darstellung der Tria Prima der Alchemie handelt? In der Tria Prima beschreibt Paracelsus das Gesetz des Dreiecks: zwei Komponenten kommen zusammen, um eine dritte zu erzeugen. Grundlage sind bei ihm Schwefel, Salz und Merkur. Schwefel ist die Flüssigkeit, die das Hohe und das Niedrige verbindet. Salz gilt als Grundstoff, Merkur ist der allgegenwärtige Geist des Lebens.

Doch anstatt von Schwefel liegen Weizenkörner auf dem runden Stein, anstelle von Salz spritzt Blut über die quadratische Platte und statt Quecksilber schießt blasenbildendes Wasser in die Höhe. Diese Beobachtung und auch der zweite Bildtitel Salz der Erde, der in engem Bezug zu Jesus steht, sorgen für Irritation. Sind hier alchemistische Symbole weiterentwickelt worden und mit neuen Bedeutungen verbunden worden? Dann wäre eine christliche Interpretation der vielleicht unorthodoxen Darstellung von etwas Bekanntem gar nicht so abwegig. Vorzugsweise setzen wir unsere Betrachtung rechts oben fort.

Der viereckige Stein ist ein Symbol für die Erde. Mit Salz der Erde werden die Worte aus der Bergpredigt (Mt 5,13) angesprochen, mit denen Jesus auf die unabdingbare, verantwortungsvolle Aufgabe der Jünger in der Welt hinweist, Gutes zu bewirken, sich für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einzusetzen – Licht der Welt zu sein. Jesus hat sein Leben bis in den Tod hinein dafür hingeben. Er ist DAS Salz der Erde, der mit seinem Leben und seinem Blut zur Vergebung des Unrechts an den Menschen neue Maßstäbe gesetzt hat. So kann das mittlere Bild als eine Art Kreuzigung gesehen werden: Gottes Sohn, erschlagen durch unsere Sünden. Sein Blut ist das Salz der Erde, das bewirken sollte, dass solches Unrecht nicht weiter geschieht. Er ist der Stein der Weisen, der in uns diesen Sinneswandel vollbringt und einen menschlichen Goldstandard etabliert wie es keine alchemistischen Wunder zustande bringen. Blut und Wein verweisen auf die Einsetzungsworte beim Abendmahl: „Trinkt alle daraus, das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ (Mt 26,27f). Der perfekt runde Stein in der Mitte mag die göttliche Natur Jesu andeuten, die Zweiteilung mit der roten Farbe, dass er mit seinem Blut die gespaltene Erde/Materie versöhnt.

Der runde Stein – ohne Anfang und Ende – ist Symbol für die Unendlichkeit und für Gott. Mit seinen Versteinerungen ist er ein Urgestein. Die Weizenkörner sind im Licht und der Wärme der Sonne (Spendor solis = Pracht der Sonne/Sonnenglanz) gereift und als Goldkörner dargestellt. Mit dem Stein in der Mitte wird ihre nächste Wandlung zu Mehl angedeutet, aus dem dann Brot und andere Lebensmittel gemacht werden können. Entsprechend kann hier eine Allegorie Gott Vaters gesehen werden, der der Sonne ihre Pracht verliehen hat und uns das tägliche Brot schenkt.

Auf dem unteren Blatt wird alles Bisherige gesprengt und in eine neue Daseinsform überführt, der etwas für uns Menschen Unfassbares anhaftet. Das versteinerte Wasserglas birst und das Wasser sucht sich nicht den bekannten Weg der Schwerkraft, sondern breitet sich überraschenderweise wie eine in die Freiheit entlassene Materie nach oben aus, die dabei noch fröhliche Luftblasen bildet. Merkur bzw. Hermes war in der griechischen Mythologie der geflügelte Götterbote, der Überbringer von Botschaften. Im christlichen Glauben wird die unsichtbare göttliche Kraft dem Heiligen Geist zugeordnet, der kreativ in der ganzen Schöpfung am Wirken ist: unsichtbar, geheimnisvoll, wunderbar, lebendig.

So liegt die Vermutung nahe, dass Manfred Scharpf in diesem Triptychon über die alchemistische Tria prima hinaus die grundlegende und alles umfassende „Tria prima“ des christlichen Glaubens allegorisch gemalt hat: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Oder anders betrachtet: Das mystische Geheimnis der beiden Hauptsakramente Taufe und Abendmahl (Brot und Wein).

Abdruck des Leids

Das Gesicht, das einen durch das gitterförmige Gewebe hindurch anschaut, irritiert. Einerseits, weil es durch das faltige Gewebe zum Teil verdeckt ist, andererseits wegen seines Zustands. Die leicht geneigte Kopfhaltung, die halb geschlossenen Augen, die geröteten Augenränder und der halboffene Mund erzählen von erlittenem Leid. Die Augen der Frau lassen die Vermutung zu, dass sie geschlagen worden ist und geweint hat (große Ansicht).

Der Zustand der Gaze verstärkt diesen Eindruck. Die zerrissenen und ausgefransten Stellen stammen vermutlich von einem Kampf, die verdickte braune Farbe, dass jemand durch den Dreck gezogen und beschmutzt worden ist. Insbesondere die bewegten Randbereiche, in denen die Haare und das ausgefranste Gewebe der Gaze ineinander übergehen, suggerieren erlittenes Leid, das an die Substanz gegangen ist

So vermittelt das mit dem leichten Stoff überlagerte Gesicht den Eindruck, als wäre aus ihm alles Leben gewichen, als wäre es nur noch eine leblose Maske eines Körpers, der bereits tot ist. Eine Assoziation geht deshalb in die Richtung eines Leichentuches, das den Kopf einer Verstorbenen und das erlittene Unrecht verhüllt und gleichzeitig kundtut.

Das im feinen Gewebe wiedergegebene Gesicht knüpft zudem an den Schleier von Manoppello an, welcher auf unerklärliche Weise das Antlitz Christi auf einem sehr feinen Gewebe wiedergibt. Das heilige Gesicht auf dem Schleier wird als das echte Schweißtuch der Veronika verehrt. Da das vorliegende „Schweißtuch“ ein weibliches Gesicht zeigt, wird zudem eine Brücke zu Maria und den weinenden Frauen geschlagen, die Jesus auf seinem Leidensweg begleitet und auf ihre Weise Jesu Leid mitgetragen haben (vgl. Lk 23,27).

Und nicht zuletzt gibt die Arbeit all die vielen Menschen ein Gesicht, die aus irgendeinem Grund im Wasser ihr Leben verloren und mit einem Netz aus dem Wasser gefischt worden sind.

So bringt der „Stofffetzen“ gleichzeitig ganz Verschiedenes zur Sprache. Die Gaze, die üblicherweise zum Verbinden von Wunden verwendet wird, vermag in allen Fällen das erlittene Leid und die seelischen und körperlichen Wunden nicht abzudecken oder zu verbinden. Die Nähe zum „Volto Santo“ von Manoppello und alle anderen Assoziationen machen deutlich, dass es einen Zeitpunkt im Leben gibt, an dem es kein Halten mehr gibt, kein Aufhalten oder keine Umkehrung des Leidensweges.

Dann tut die Gewissheit gut, dass Gott jeden von uns gerade dort unsichtbar hält, wo alle irdischen Bindungen reißen. Ermutigend und stärkend hat dies der Beter zu Beginn des Psalms 31 formuliert (V. 2-6):
„Herr, bei dir habe ich mich geborgen. Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit; rette mich in deiner Gerechtigkeit! 
Neige dein Ohr mir zu, erlöse mich eilends! Sei mir ein schützender Fels, ein festes Haus, mich zu retten! 
Denn du bist mein Fels und meine Festung; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten.
Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht. 

In deine Hand lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Treue.“

Diese Arbeit wurde 2019 im im Dom Museum Wien in der Ausstellung “Zeig mir deine Wunde” gezeigt. Über 40 künstlerische Positionen brachten die verschiedenen Aspekte von Verwundungen in unserem Leben zum Ausdruck.

Hilferuf in der Verstrickung

Eine menschliche Figur liegt im Vordergrund, den Blick und den linken Arm nach oben richtend (Totalansicht). Sie ist in seilartige Fäden eingewickelt, verstrickt in einer langen Schnur, die gewunden von einem übergroßen Garnknäuel zu ihr führt. Dieses Seil scheint ihre Freiheit nach und nach eingeschränkt, dann gefesselt und schließlich zu Fall gebracht zu haben. Nun wirkt es, als sei es der Person gerade noch gelungen, den linken Arm zu befreien, um Hilfe vom Himmel zu erflehen.

Bei der Frage nach der Person geben einerseits die Wundmale an Händen und Füßen als auch die Körperhaltung den Hinweis, dass es sich um Jesus handelt, dessen Körper aus einer Kreuzigungsdarstellung (Detailbild) ausgeschnitten und um 90° nach links gedreht aufgeklebt wurde. In liegender Position und umwickelt von dem seilartigen Garn, wirkt sein Körper gefangen und gestrauchelt, aber lebend.

Hinter ihm stehen sich zwei runde Formen gegenüber. Links von seinem Arm befindet sich eine rote Schüssel mit einem Tuch. Es hängt so über den Schüsselrand, dass sein rechter Zipfel nach rechts weist und dort in leicht aufsteigender Linie über die Schnur zum Fadenknäuel führt. Jesu Arm geht mittendurch, gleichsam Freiraum ringend.

In der Grauzeichnung mutet Jesus wie ein Sterbender aus einem antiken Theater an. Dramatisch liegt er darnieder, Kopf und Arm zu einem letzten Hilfeschrei erhoben. Seine Verfolger haben ihn zu Fall gebracht mit all den Fäden, die sie gegen ihn gesponnen haben (vgl. Mt 26,4). Endlich haben sie den unbequemen Störenfried in ihre Gewalt gebracht, bald wird er nicht mehr gegen sie und ihre Verhaltensvorstellungen reden können.

Offensichtlich ein Sieg. Aber die Verbindung zu der durch den Wollknäuel symbolisierten Personengruppe ist nicht gekappt. Auch wenn sie es nicht wollen, werden sie mit ihm verbunden bleiben, ob sie nun aktiv seinen Tod gefordert oder sich wie Pilatus der Verantwortung entziehend die Hände in Unschuld gewaschen haben (Mt 27,14). Die rote Schüssel mit dem Tuch kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie verweist aber genauso auf die Fußwaschung vor dem letzten Abendmahl (Joh 13,1-20; vgl. Lk 24,26f), mit der Jesus seinen Jüngern nochmals den Unterschied zwischen Dienen und Herrschen eindrücklich vorgelebt und ersteres als richtungsweisendes Beispiel gegeben hat.

Schließlich soll noch die auffallende rote Farbe der Waschschüssel auf ihre Bedeutung befragt werden. Unwillkürlich lässt sie an das Blut denken, das bei Jesu Folterung und Kreuzigung geflossen ist. Doch in der Chronologie des Geschehens kann sie bei der Fußwaschung zuerst als Zeichen der Liebe, der ganzheitlichen Zuwendung und Hingabe gedeutet werden (Joh, 13,1). Erst mit dem Gebet in Getsemane, bei dem sein Schweiß aus Angst wie Blut zur Erde tropfte (Lk 22,44), erhält die rote Farbe die Bedeutung des Blutes. Und was in Getsemane tropfenförmig seinen Anfang nahm, wird am Kreuz durch den Lanzenstich des Soldaten als Blut und Wasser aus seiner Brust herausfließen (Joh 19,34).

Viele Aspekt der Arbeit verweist so auf die Zeit des Leidens und Sterbens Jesus. Aber ob man das Kunstwerkt ohne die Titelangabe mit Getsemane in Verbindung bringen würde? Jesus ist allein dargestellt, ohne die Jünger. Aber fühlte er sich neben den schlafenden Jüngern nicht auch allein? Auch ist Jesus weder in einem Garten noch in einer traditionellen Gebetshaltung dargestellt. Aber könnte das handgeschöpfte Papier mit seiner faserigen Struktur und dem natürlichen Büttenrand symbolisch nicht für den Garten stehen, der erhobene Kopf, die ausgestreckte Hand für sein Gebet? In dieser freien Leseweise von Jesu Gebet auf dem Ölberg könnten denn die folgenden Psalmverse auch Teil des Gebetes Jesu gewesen sein:

Mich umfingen die Fesseln des Todes
mich erschreckten die Fluten des Verderbens.
In meiner Not rief ich zum Herrn
und schrie zu meinem Gott.
Er griff aus der Höhe herab und fasste mich,
zog mich heraus aus gewaltigen Wassern.
Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich,
denn er hatte an mir Gefallen.
(Ps 18,5.7.17.20)

Gegeißelt, geschunden, geschlagen

Kreuz und quer überziehen blutrote Farbstriche die Bildfläche. Es sieht aus, als wäre das Bild heftig geschlagen und verletzt worden. Gepeitscht, gegeißelt, wie derjenige, der auf ihm dargestellt ist. Blutrote Striemen bedeuten harte, schnelle Schläge, die die Haut haben platzen lassen. Schläge, die tief ins Fleisch hinein verletzt haben und das Blut herausspritzen lassen. Von den seelische Verletzungen, die das Herz direkt treffen, ganz zu schweigen.

Furchtbar steht das blutige Geschehen vor unseren Augen – und verdeckt mit seiner unmenschlichen Gewalt fast gänzlich den, den es getroffen hat. Nur die Füße und Beine und der obere Teil des Kopfes des Misshandelten sind zu sehen. Ansonsten hat sich die Gewalt breit gemacht und Seinen Platz eingenommen. Die Peitschenschläge sind förmlich zu spüren.

Wie ein geschundenes Herz steht die Bluttat zwischen dem Betrachter und dem Gegeißelten. Sie versperren die Sicht auf Jesus, entrücken ihn und lassen die höhnische Frage der Diener im Palast des Pilatus aktuell werden: „Sag uns, wer hat dich geschlagen?“ (Mt 26,67)

So wie das Geschehen vor unseren Augen steht, mögen Zweifel aufsteigen. Habe ich ihn in einem unkontrollierten Augenblick vielleicht auch geschlagen? Vielleicht nicht ihn, wahrscheinlich auch nicht mit einer Peitsche, aber einen anderen unschuldigen Menschen? Mit der mir eigenen Gewalt – Macht, Worte, Druck, Aggression, usw. – sein Leben in ein „Blutbad“ verwandelt?

Unerträglich groß haben sich die blutroten Striemen über dem Gepeinigten aufgebaut. Ist das, was er zu erleiden und auszuhalten hat, als Mensch noch zu ertragen? Andererseits haben sich die Verwundungen wie ein Schutzschild vor dem Gegeißelten aufgebaut. Durch die Wunden scheint er unnahbar, unzugänglich. Doch nicht er hat sich von mir entfernt, sondern durch mein und unser Vergehen haben wir uns von ihm getrennt.

Vertikale Farbläufe gliedern wie Blutgerinnsel oder Tränen den unteren Teil des Bildes. Sie künden von nicht aufhörenden Verletzungen durch Verachtung und Gewalt, sie künden von der Ohnmacht der Geschlagenen, von der stillen Trauer der Leidenden und all derer, die mit ihnen leiden.

„Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, heißt es bei Jesaja 53,4 vom Gottesknecht. Genauso muten die vielen auf die Leinwand gepeitschten Farbstriche an: „Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen.“ Und ein paar Verse weiter heißt es: „Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf.“ So steht auch der Mensch im Bild hinter dem Peitschenregen und hält standhaft aus. Hält aus im Vertrauen auf Gott, dass Er ihm in der Folter Stand verleihe, ihn in der Folter fest halte.

Etwas von diesem Vertrauen, dass Gott ihn nicht verlassen hat, sondern durch alles Leiden hindurch begleitet und auch retten wird, scheint unauffällig in den sich zu einem Farbfeld verdichteten Peitschenhieben auf. Sie lassen nicht nur die maßlose Gewalt sehen, sondern im blutenden Herz auch zwei Flügel. Flügel, welche das Leid nicht unsichtbar machen, aber durch die Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung leichter und erträglicher machen.

 

„Wer hat unserer Kunde geglaubt?
Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar?
Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.
Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.
Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.“ (Jesaja 53)

Alle Bilder der Passion 2012

Unfassbar

In diesem non-figurativen Glasfenster scheint alles in Bewegung zu sein, sich alles um das dunkelrote Zentrum in zweidrittel Höhe zu drehen. Während sich die eine Kreisbewegung von unten rechts her zum Kreis hin fokussiert, geht die Bewegung im obersten Drittel eher von diesem dunkelroten Blickfang aus nach links oben. Spiralförmig verschleudert dieses rote Kraftzentrum seine Energie, scheint sie in den unzähligen goldgelben Teilen in die unendliche Weite des Universums hinauszuschleudern. Verschwenderische Fülle wird spürbar.

Neben der eindrücklichen Drehbewegung prägen ein helles Rot und goldenes Gelb dieses Glasfenster. Das helle Rot mag an helles Blut erinnern, das vom Herzen aus durch die Arterien sauerstoffreich den menschlichen Körper mit Lebenskraft versorgt. Christologisch gesehen kann es auch als das Blut Christi gesehen werden. Weil er uns Menschen unendlich liebte, konnte er sein Leben für unseres hingeben, konnte er uns mit dem Preis seines göttlichen Lebens von freiheitsberaubenden Gebundenheiten freikaufen. In jeder Eucharistiefeier wird dieses Ereignis neu Gegenwart, soll die Liebe Gottes spürbar und wirksam wie aufstrahlendes Licht in der Dunkelheit unser Leben existentiell verändern. Dies kommt auch in der das helle Rot begleitenden goldgelben Farbe zum Ausdruck, die mit ihrer Symbolik „für das allumfassende Göttliche, für Geborgenheit und Wärme“ (Nestler) steht. Wie ein segensreicher Blätterregen schweben die goldfarbenen Elemente in das Kirchenschiff hinein und über die Gläubigen. Sie mit göttlichem Licht segnend, von innen her stärkend, erfüllend und miteinander durch seine Präsenz verbindend (Ansicht von unten mit gleichen Farben).

Dieses Licht- und Farbenspiel wird von weißen Lichtfeldern durchsetzt, die im untersten Bereich auch strahlenförmig wahrnehmbar sind. Wie Wolkenfetzen überlagern sie die göttliche Schau und verdecken sie teilweise. So wird wohl viel vom ewigen Licht und dem, was es beinhaltet, sichtbar, aber die ganze Fülle kann noch nicht gesehen oder sinnlich erfahren werden. Ein Wehmutstropfen bleibt. Noch leben wir hier auf Erden in materieller Umgebung und vergänglichem Körper. Was bleibt, ist die Sehnsucht und Hoffnung nach der immateriellen, seelischen Heimat bei dem Dem, der das Leben selbst ist.

Dieser mehrschichtigen Botschaft wird auch durch den außerordentlichen Aufbau des Glasfensters Gestalt verliehen. In vier Schichten und unterschiedlichen Techniken sind die Farben und Formen kunstreich auf das Glas gebracht worden. Um ihre Schönheit und Farben in ihrer Fülle zu erfassen, muss sich der Betrachter selbst in Bewegung setzen. Erst durch die verschiedenen Blickwinkel werden sich die gesehenen Fragmente vor dem geistigen Auge zu einem immer wirklichkeitsnäheren Bild zusammenfügen. Auch ist das Glas nicht in das bestehende Maßwerk eingesetzt (Außenansicht), sondern als eigenständige Fläche etwa 30 cm vor das Fenster in den Kirchenraum gehängt. Dadurch verliert das in der Fachsprache sogenannte „Lichtmaß“ als Ausschnitt der Architektur an Bedeutung. Während oben das auf dem Glas wiederholte Maßwerk noch dominierend ist, löst sich im und durch das Fenster die filigrane gotische Architektur nach unten immer mehr auf und ist letztlich nur noch als Schatten wahrnehmbar. So „weitet sich das durch die Architektur begrenzte Licht zu einem neuen grenzenlosen Raum“ (Nestler), setzt sich das sinnlich wahrnehmbare Licht als unfassbares göttliches Licht in den Gläubigen fort.

 

Bernd Nestler hat mit diesem Fenster Anfang 2011 unter 285 Mitbewerbern einen international ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen, bei dem es darum ging, zum 450-jährigen Bistumsjubiläum ein Fenster zu schaffen, das die Möglichkeiten der heutigen Glasmalerei nutzt, um der Glaskunst im 21. Jahrhundert neue Impulse zu geben. Herzliche Gratulation!

Das weiße Hemd

Durch den Besuch der choreographierten Version der Matthäus-Passion von John Neumeier in Hamburg inspiriert hat Andreas Felger dieses Bild gemalt. So hat das erste der „Ballette der weißen Hemden“, wie John Neumeier seine Inszenierungen der Matthäus-Passion (1980), des Magnificats (1987), des Mozart-Requiems (1991), des Messias (1999) und des Weihnachtsoratoriums (2007) gerne bezeichnet, eindrückliche Spuren im Werk eines anderen Künstlers hinterlassen.

Nur ein Gegenstand ist auf der roten Bildfläche dargestellt: ein stilisiertes, weißes Hemd. Der Halsausschnitt ist mit einem halbrunden Strich angedeutet, darunter zwei Knöpfe zum Schließen der Öffnung. Es erinnert an ein einfaches Gewand und gleichzeitig an ein Kreuz.

Erhöht, ja erhaben thront es in der roten Fläche, ganz wenig nach rechts aus der Mitte gerückt. Mit diesem einfachen, aber symbolhaften Bildaufbau lässt Andreas Felger ganz verschiedene Sichtweisen zu. Die weite rote Fläche und das zentrale Kreuzmotiv lassen beim ersten Blick vielleicht an eine Schweizer Fahne denken. Doch dann macht das einsame weiße Hemd im roten Umfeld nachdenklich. Unschuld und Blut kommen zur Sprache. Fragen gehen durch den Kopf. Wen es wohl getroffen hat? Was mag wohl der Träger des Hemdes erlebt haben, dass es blutig rot befleckt ist? Befleckt mit der gleichen roten Farbe, welche auch sein Umfeld aufwühlt? Oder bildet die rote Fläche vielmehr einen weiten Mantel, der seine Einsamkeit kleidet und seine Erniedrigung königlich erhöht?

Wir wissen es nicht. Jeder ist aufgefordert, seinen Zugang zum Dargestellten zu finden. Aus dem leuchtenden Rot spricht die von Blut gezeichnete menschliche Leidenschaft gegen den Einzelnen genauso wie die von der Liebe bewegte göttliche Zuwendung für den Einzelnen. Gerade in der angedeuteten Situation der Anklage, in der im Kreuz bereits das Schicksal des Angeklagten aufleuchtet, ist auch im Rot die beruhigende Gegenwart Gottes zu spüren.

So wird Er, der Unschuldige, mit seinem Tod alle Schuld der Menschen, auf welche Weise sie auch geschehen sein mag, sühnen. Das weiße Hemd bringt zum Ausdruck, dass der Mensch gewordene Gottessohn gerade wegen seiner Reinheit die Blutschuld der ganzen Welt zu tragen vermag. Denn das Gewicht der roten Fläche scheint dem zarten Hemd nichts anhaben zu können. Schwebt es nicht gleichsam über dem roten Feld? Sieht es nicht so aus, als sei in die Komposition auch die Auferstehung eingeschrieben, die Hoffnung und der Glaube, dass Er alle Lebenden, Verletzten und Blutenden zu sich zieht, um sie zu erlösen?

Gefesselt? – Entfesselt!

Wer unbedarft in den Raum mit diesem Kunstwerk kommt, begegnet zuerst einmal vier überdimensionalen Büchern, die von vielen Händen aus einer rot oder blau schäumenden Masse hochgehalten werden. Jedes Buch ist mit einer vierfachen Kette in Kreuzform umschlungen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Buchrücken und Frontseite weisen unmissverständlich darauf hin, dass es sich um die Heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams sowie eines Buches des Dalaï Lama handelt. Gefesselte Bücher?

Thomas Hirschhorn provoziert mit dieser Arbeit viele Fragen und regt zum Nachdenken über das Buch der Bücher an:

Ist der Inhalt der Bücher so gefährlich, dass sie zugeschnürt werden müssen, damit ihr Wort nicht weiter wirkt? Doch das steht im Widerspruch zu den vielen Händen. Sie scheinen Menschen zu gehören, die in der überschäumenden roten – an Blut erinnernden – Masse ertrinken und als letzte Handlung gemeinsam die Heilige Schrift zu retten versuchen.

Gesellschaftskritisch gefragt: Sind wir eine untergehende Glaubensgemeinschaft? Versinken wir im Überfluss der überbordenden Konsumgesellschaft, welche uns das Leben kostet. Noch wird die Heilige Schrift hochgehalten, noch scheinen wir unser Leben für diesen letzten Wert einzusetzen … doch das Buch, das weitergereicht wird, … ist verschlossen.

Aber dann kann es seine Bestimmung nicht erfüllen. Ein verschlossenes Buch, ein Buch, das nicht geöffnet wird und nicht geöffnet werden kann, ist nur noch eine wertlose Attrappe. Doch das kann es nicht sein, die Menschenhände halten es in die Höhe! Das Kunstwerk könnte einen Aufschrei darstellen, dieses große, weil großartige Buch zusammen mit meinen Zeitgenossen aus den Händen der untergehenden Generation retten. Es ist ein Appell an uns, nicht tatenlos zuzuschauen, sondern aktiv zu werden. Das gekreuzigte Buch, das bereits wie eine Grabplatte auf einer Gedenkstätte liegt, von seinen Ketten zu erlösen und aufzuschlagen, damit seine Worte wieder atmen können. Und durch unser Lesen werden die göttlichen Worte wieder lebendig werden und durch unser vom Heiligen Geist gelenktes Denken und Handeln die Gesellschaft erneut mit Leben erfüllen.

Nein, die Heilige Schrift ist weder ein Buch mit sieben Siegeln noch ein gefesseltes Buch, sie ist ein entfesseltes Buch! Wer ihre Worte liest und glaubt, geht nicht unter, sondern wird zum ewigen Leben auferstehen.

Mitleid

Vor einem rot-weißen Hintergrund laufen drei Männer auf den Betrachter zu. Sie tragen eine vierte Person. Die grauen Gestalten und die rot eingefärbte irreale Landschaft lassen an eine Kriegsatmosphäre denken. Die Erde ist vom Blut der Ermordeten getränkt, der Himmel brennt im Widerschein der vernichteten Städte. Aus den Menschen ist alle Lebensfarbe und -klarheit gewichen. Übriggeblieben sind schattenhafte, unscharfe Wesen, die um ihr Leben rennen – und um dasjenige, das sie gemeinsam auf den Armen tragen.

Das Bild erinnert an Fotos aus Kriegs- und Katastrophengebieten. Es erinnert an das stets neu auf die Menschen übergreifende Leid durch Menschen- oder Naturgewalt. Die Frage, die Gott an Kain stellt: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden“ (Gen 4,10), könnte auch unsere Frage sein. Die Handlung der Männer wie der blutrote Hintergrund wecken in mir Mitleid und Solidarität.

Als Betrachter werde ich auch dadurch angesprochen, dass die drei Männer mit dem Verletzten auf mich zulaufen! Die mittlere Person schaut mich an und ruft mir unhörbar etwas zu. Sie scheinen den Verletzten zu mir aus dem Bild heraus in die Sicherheit reichen zu wollen, damit ich ihre helfende Geste fortführe, sie in ihrer Erschöpfung ablöse … wie auch immer.

Wir brauchen immer wieder solche oder andere Bilder, die uns aus unserer Trägheit und Bequemlichkeit aufrütteln, damit wir den Notleidenden und Armen unter uns nach unseren Möglichkeiten zu Hilfe eilen – so wie Jesus! Was wir ihnen zu Liebe tun in unserem Mitleid ist nicht nur Nächstenliebe, sondern konkret gelebte Gottesliebe. Denn: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) sagt Jesus im letzten Gleichnis vor seinem eigenen Leidensweg.

Pulsierendes Leben

Ein leuchtendes Rot, das wie bei der Mikrofotografie durch den Mutterbauch von feinen Äderungen durchzogen ist und das den Augen verborgene Leben sichtbar macht. Leben, das aus der Liebe entstanden ist und von ihr gehalten wird.

Dieses Rot ist durch und durch lebendig, pulsierend vom Kreuz-Zentrum aus in die Höhe und die Tiefe, und ganz besonders nach links und rechts in die Breite. Seine Arme sprengen die Grenzen der „quadratischen“ Form, gehen bis zum Bildrand und scheinen darüber hinaus den Betrachter umarmen zu wollen.

Diese warmen und lichtvollen Rottöne in der Form eines Kreuzes – oder vielmehr einer Menschenbrust mit ausgebreiteten Armen – führen mich zur unermesslichen Liebe Gottes. Sie lassen mich Geborgenheit erfahren, seine göttliche, Leben schaffende Liebe spüren.

Ein Raum der Liebe tut sich mir auf, erfüllt von glühender Leidenschaft, wie in einem Schmelzofen unaufhörlich Neues schaffend. In diesen Rottönen finde ich den Anfang und das Ende des Lebens Jesu, in ihnen fließt das helle Blut des Lebens, das von seinem Herzen durch die Adern seines mystischen Leibes, der Kirche, fließt.

Geboren von der Jungfrau Maria, breitet sich – wie die Kreuzapplikation auf dem Bild – seine „Blutspur“ über die Erde, sühnend und sie mit seinem Wort, seinem Fleisch und Blut tränkend zu neuem Leben erweckend. Es ist keine Spur des Leids oder der Gewalt, sondern eine Spur glühender mütterlicher und väterlicher Barmherzigkeit und Liebe.

Und der Fisch? Ist er nicht etwas fremd auf diesem Bild, ganz ohne Wasser? – Aber vielleicht soll er störend sein, damit wir besser hinschauen und uns mehr überlegen …

In der christlichen Ikonographie ist der Fisch ein Symbol für Jesus Christus. Er ist ganz „Gottes eingeborener Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit, eines Wesens mit dem Vater“ und gleichzeitig ganz der Sohn Mariens, weil er „für uns Menschen und zu unserem Heil“ ihr „Fleisch angenommen hat durch den Heiligen Geist und Mensch geworden ist“ (vgl. Großes Glaubensbekenntnis).

Das Bild von Thalia Uehlein führt uns so gesehen zum Geheimnis des „Immanuel“ – dem „Gott mit uns“. Sie erinnert uns an das Geschenk des Lebens aus dem Zusammenwirken der göttlichen und menschlichen Liebe. Sie erinnert uns darüber hinaus an die Kostbarkeit des Blutes – so wichtig wie das Licht, das in ihm aufleuchtet, oder das Wasser, in dem der Fisch schwimmt.

Ausstrahlung

Massiv wie eine große Plastik steht dieses Kreuz im Raum des Bildes. Seine plastische Wirkung erhält es durch die unterschiedliche Größe und Farbe der drei übereinander- liegenden Kreuzformen und durch die mit Lichtreflexen versehene Oberflächengestaltung des innersten Kreuzes. Die Farbe scheint noch flüssig zu sein, auszulaufen, zentrifugal – strahlenförmig nach außen Farbläufe bildend. Die Kreuzkonturen fransen dadurch aus, bilden unklare Kanten.

Auf dem Kreuz sind überall dunkle Stellen zu entdecken, die an Spuren von Misshandlung erinnern. Sie könnten von einer Folterung stammen, einer Geißelung, welche das spritzende Blut ausgelöst und Schmerzen verursacht hat. Das Wasser des Malers assoziiert das Blut eines Gefolterten und Gekreuzigten. Die Erinnerung an den Kreuzestod Jesu wird wach: „ … einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus.“ (Joh 19,34)

Die Strahlen sind wie eine Explosion der nicht mehr zu ertragenden Schmerzen, ein lauter Schrei, mit dem sich eine geplagte Seele Luft verschafft. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ schrie Jesus in seiner Todesstunde (Mt 27,46; Ps 22,2). Die Radierung von Michael Morgner scheint wie eine bildliche Umsetzung der Klage im gleichen Psalm zu sein: „Ich bin hingeschüttet wie Wasser, gelöst haben sich all meine Glieder. Mein Herz ist in meinem Leib wie Wachs zerflossen. …, du legst mich in den Staub des Todes.“ (Ps 22,15-16)

Dieses Kreuz scheint zu leben. Vor meinen Augen nimmt es die Gestalt eines gedrungenen oder gebeugten Menschen an. Andererseits atmet und blutet es wie ein verletztes Herz. Die beiden Eindrücke schließen sich gegenseitig nicht aus, überlagern sich vielmehr und finden Ausdruck im Kreuz.

Erstaunlicherweise weckt das Kreuz den Eindruck, dass mit dem Ausfließen der Lebensenergie in der Mitte ein Freiraum entsteht, in dem neues Leben entsteht. Nach der noch an den Rändern sichtbaren Dunkelheit des Leids dringt im Innersten des Kreuzes bereits das Licht des neuen Lebens durch und bietet damit so etwas wie einen Schutzraum, einen Ort der Geborgenheit (vgl. Ps 18; 31,4-6). Ebenso lässt der das Kreuz umgebende Strahlenkranz der Farbspritzer an die Strahlen der Sonne denken, die bereits hinter dem Kreuz des Leidens und des Todes den „neuen Tag“ ankünden.

So düster, massiv und kalt dieses Kreuz auf den ersten Blick also wirken mag, spricht es doch auch von der erfahrenen Hilfe durch Gott, in den der Glaubende seine ganze Zuversicht gelegt hat. Im Kreuz Jesu hat er Schutz gefunden in seiner Not. Ist nicht das innerste Kreuz plastisch ausgeformt, einen bergenden Hohlraum bildend? Der Vergleich mit einem Herz drängt sich auf und der Gedanke, dass ich mich in der Not da hineinlegen und bergenden Schutz erfahren kann, stimmt mich froh. Ja und leuchtet in den Farbspritzern nicht bereits die verheißene Auferstehung von den Toten auf?

„Euer Herz sei stark und unverzagt, ihr alle, die ihr wartet auf den Herrn.“ (Ps 31,25)