Mitte Oktober 2008 erhielt Anselm Kiefer als erster bildender Künstler den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Unter anderem, weil er dem Buch in seinem Werk einen wichtigen Platz eingeräumt hat. 2007 und 2008 hat sich der Künstler intensiv mit biblischen Themen auseinandergesetzt. Dabei sind Werke wie Palmsonntag, Jakobsleiter, Wurzel Jesse und verschiedene Arbeiten mit dem Thema der Maria entstanden, darunter die vorliegende Arbeit. Rein äußerlich hat sie wenig mit dem Marienthema zu tun.
Ein gutes Dutzend großer Bleifolianten sind mehr schlecht als recht zu einem Stapel aufgeschichtet. Dazwischen und rund herum immer wieder Stacheldraht oder vielmehr Rasierklingendraht, wie ihn die Nato verwendet. Der Stapel gleicht einem Scheiterhaufen mit in alle Richtungen herausragender Holzwolle, damit der Stapel beim Anzünden schneller brennt.
Aber Maria? Der Stacheldraht könnte ja noch mit dem Dornwald in Verbindung gebracht werden. Aber Maria? Wollen die Bücher ein Hinweis auf sie sein? Darf denn der Werktitel so bezeichnend genommen werden, dass etwas von Maria in dem Werk zu sehen sein muss?
Bleiben wir mit unseren Überlegungen zunächst bei den Büchern. Sie sind riesig, alten Büchern nachempfunden, Folianten aus Pergament und in mühsamer Arbeit von Hand beschrieben. Nicht nur groß, sondern in Blei auch sehr schwer, können sie ihre Bedeutung und ihr Gewicht in den Augen ihrer Auftraggeber und Besitzer zum Ausdruck bringen. Die Botschaft der Bücher wurde damit gebührend gewürdigt. Hier scheinen sie – ganz aus Blei – für den Besitzer zu schwer und unbequem geworden zu sein, so dass er sich ihrer entledigen und sie verbrennen will. Vielleicht ist ihre Botschaft aber einfach unverständlich geblieben – Blei lässt sich ja von Röntgenstrahlen nicht durchdringen, gibt den Inhalt nicht preis.
Erinnerungen an die Bücherverbrennungen des Nationalsozialismus mögen wach werden, die schon 1933 begannen. Durch den Rückgriff auf das Lied mit dem Dornwald vergleicht der Künstler Zeiten des Brachliegens, der Verfolgung bis zur Zerstörung alles Geistigen, was nicht in die Vorstellungen der Machthaber passte. Die aufgeschichteten Bücher mögen als Mahnmal für jene stehen, die einst Namen trugen: Berthold Brecht, Erich Kästner, Thomas und Heinrich Mann, Stephan Zweig, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky und viele andere. Es ging um die Zerstörung des Geistigen. Kritik und Opposition, Kreativität und Veränderung sollten im Keim erstickt werden …
Wie war diese Barbarei im Land der Dichter und Denker möglich? Anselm Kiefer deutet in der Wahl des Standortes für den Bücherstapel eine Antwort an: er steht in gutbürgerlicher Umgebung auf einem gepflegten Kiesweg, durch eine halbhohe Hecke von einem gepflegten Garten mit blühenden Blumen getrennt. Von der anderen Seite her verwehrt eine übermannshohe dichte Hecke jeglichen Einblick. Über die niedrigere Hecke wäre Einblick möglich gewesen, wenn man es denn gewollt hätte, zumal dann, als der Bücherhaufen – und er steht hier wohl stellvertretend für alles geschehene Unrecht, lodernd brannte.
Und was hat Maria damit zu tun? Die Frage bleibt. Aber ist sie nicht durch das gelesene und meditierte Wort Gottes, durch den An-Spruch Gottes an sie mit dem Logos, seinem Sohn, schwanger geworden? So könnten die Bücher Symbol für Maria sein, die unter ihrem Herzen das Wort par excellence trug. Eine bleischwere Last, eine bedeutsame Botschaft, an der sich schon bald die Geister scheiden und in Lager aufteilen werden. Die Evangelien sind voll Überlegungen und Machenschaften, wie die Mächtigen von Anfang an das unbequeme, aufrüttelnde, in Frage stellende Wort Jesu voller Autorität und Wahrheit zu vernichten suchten. Aber auch Jesu Tod konnte den Weg und die Wirkkraft seiner Worte nicht aufhalten. Der Stacheldraht mag diesbezüglich weniger eine beschützende Funktion haben als vielmehr Ausdruck eines brisanten Inhalts zu sein, der sich nicht in den Folianten festhalten lässt und an dem man sich wie an einem scharfen Messer verletzten kann, wenn man nicht damit umzugehen weiß. Die Konsequenzen kennen wir alle … Die Nachfolgegenerationen sind mit der Aufarbeitung des jeweils begangenen Unrechts schwer beschäftigt.
Mit „Maria durch ein Dornwald ging“, dem Advents- und Weihnachtslied in einfacher, kinderliedhafter Form aus dem 19. Jahrhundert zitiert Anselm Kiefer bei seiner Retrospektive den „Dornwald“ des vergangenen Jahrhunderts. Und er meint damit auch, dass mit Hilfe des Kindes, zu dem Maria ihr „Ja“ gesagt hat, die Dornen Rosen tragen könnten, es eigentlich keines Stacheldrahtes bedürfe, wenn, und das ist die Voraussetzung, wir alle und in allen Lebenslagen unser „Ja“ zu ihrem Kind sprächen, wie Maria es tat.
Ein wahrhaftig friedenspreiswürdiger Rückblick in die Geschichte und Ausblick in die Zukunft, so einfach klingend wie ein Kinderlied und ebenso fundamentbildend wie ein solches.