blind

Schwarz und plakativ hebt sich die halbseitige Büste einer Person vom hellen Hintergrund ab. Gleichzeitig wird sie von einem tuchartigen Glas überlagert, das im oberen Teil die menschlichen Gesichtszüge wiedergibt und seitlich den nicht repräsentierten Teil der Büste integriert. Die Ausformung einer Brille lenkt die Aufmerksamkeit auf die Augen. Das handgeschriebene Wort „blind“ auf einem gebrauchten Papier versetzt den Betrachter in die oft erlebten Begegnungen mit Mittellosen, die mit einem Schild vor sich um menschliche und finanzielle Zuwendung bitten.

Die in Sgraffito ausgeführte schwarze Fläche bringt allein durch die Technik zum Ausdruck, dass am Menschenbild gekratzt wurde. Dabei ist nicht die figürliche Form weggekratzt worden, sondern es verhält sich genau umgekehrt: die Erhabenheit der schwarzen Silhouette legt nahe, dass der helle Hintergrund freigelegt wurde, damit sich die dunkle Seite des Menschen von seiner Umgebung abhebt! Es geht um das wahre Wesen, den wirklichen Charakter, den inneren Kern. Es geht um die Frage, ob die Maske aufgesetzt oder fallengelassen wird.

Mit dem halbtransparenten Glas in der Form eines Gesichts greift der Künstler zum einen den griechischen Personenbegriff „prosopon“ für das „was man sehen kann“ auf, also den äußerlich sichtbaren Menschen, zum anderen spielt das aufgesetzte Glaselement auf das lateinische Wort „personare“ an, die Maske, welche Schauspieler tragen und durch welche sie sprechen. Das Glaselement ist gleichsam die Maske für den eingeschränkten visuellen Durchblick, bei dem auch die aufgesetzte Brille nicht viel zur erhofften Klarsicht beiträgt.

Subtil hinterfragt der Künstler damit unsere Seh- und Wahrnehmungsfähigkeit als auch unser oftmaliges Schwarz-Weiß-Denken, welches entscheidende Feinheiten schlichtweg übersieht. Das Relief ist ein Spiegelbild unserer Blindheit und unserer dunklen Stellen und bildet damit einen Appell an uns selbst, barmherzig und gnädig zu denken und zu handeln, um in allen Unzulänglichkeiten auch von anderen herzliche Zuwendung und Hilfe zu erhalten. Hier bewahrheitet sich die Seligpreisung in der Bergpredigt von Jesus: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt 5,7)

Tobias Kammerer schreibt zu seinem Werk: „Zuwendung ist für mich von Nöten, da ich blind bin. Ich bin auf andere angewiesen. Ich bin nicht völlig blind, manchmal sehe ich etwas schemenhaft und meine das zu erkennen. Beim näheren Kontakt merke ich aber, dass es etwas anderes ist, manchmal etwas völlig anderes. So laufe ich oft Gefahr zu stolpern und zu fallen, weiß manchmal nicht, ob es der richtige Weg ist oder der falsche. Oft habe ich Angst und fühle mich unsicher, gerade dann sehne ich mich nach Unterstützung und Zuwendung. In diesen Momenten ist aber selten jemand da.“

 

Dieses Werk von Tobias Kammerer ist in der Ausstellung „Zu-Wendung – barmherzig sein konkret“ an folgenden Orten zu sehen:

ALLENSBACH-HEGNE
HOTEL ST. ELISABETH
der Stiftung Kloster Hegne
78476 Allenbach-Hegne, Konradistr. 1
9. November 2025 bis 1. März 2026

MOSBACH
BILDUNGSZENTRUM MOSBACH
im Ökumenischen Zentrum
74821 Mosbach, Neuburgstr. 10
15. März bis 18. April 2026

EMMENDINGEN
KATHOLISCHE KIRCHE ST. JOHANNES
mit Caritasverband für den Landkreis Emmendingen e.V.
79312 Emmendingen, Schillerstr. 16
25. April bis 22. Mai 2026

FREIBURG
WEIHBISCHOF-GNÄDINGER-HAUS
Sitz des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg e.V.
79111 Freiburg, Alois-Eckert-Str. 6
8. Juni bis 27. Juli 2026

Das Herz Jesu vor Augen

Eine Bockleiter, ein antikes Herz Jesu, das früher als ewiges Licht gebraucht wurde, und ein Ei sind zu einer eigenartigen Installation zusammengefügt worden. Jedes der drei Objekte vermag in der Kombination mit den anderen beiden beim Betrachter Irritationen und Fragen auszulösen.

Was hat ein ewiges Licht in Form eines von einem Schwert durchstochenen Herzens mit einer Leiter zu tun? Was mag der Grund sein, dass es ganz Oben aufgehängt ist? Auf der anderen Seite steht die  Leiter mit einem ihrer Holme auf einem Ei und erhält durch die Schräglage einen unsicheren Stand. Andererseits fragt man sich, wieso das Ei von der Leiter nicht zerdrückt wird. Sehrwohl wird es zerdrückt werden, wenn jemand auf die Leiter steigt. Was hat das also zu bedeuten, dass der Künstler die Leiter genau auf das Ei gestellt hat?

Vielleicht werden uns Antworten auf diese Fragen gegeben, wenn wir den Eigenheiten der einzelnen Elemente nachspüren. Eine Leiter wird zum schnellen Hochsteigen an Orten gebraucht, an denen für kurze Zeit in der Höhe gearbeitet werden muss. Deshalb muss sie leicht, flexibel und doch stabil sein. Das Oben und das Unten sind bei ihr entscheidend. Deshalb kann sie auch für eine hierarchische Struktur stehen. Für viele ist es ein Ziel, auf der Karriereleiter schnell nach oben zu kommen. Während es die einen aus eigener Kraft nach oben schaffen, befinden sich die anderen in der Position des Eies und sind auf das Erbarmen oder die Gnade der Vorgesetzten angewiesen, dass diese sie fachlich nach- und damit auch hochziehen.

Das Ei steht für werdendes Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit. Es ist der überstarken Macht seiner Umwelt ausgeliefert und bedarf deshalb eines übergroßen Schutzes. Die Installation macht deutlich, dass werdendes Leben in jeder Form Umsicht, Vorsicht, Wertschätzung und in der Folge Rücksicht benötigt, um unbeschadet überleben zu können.

Das Besteigen der Leiter ist in diesem Fall nicht möglich, ohne sich vorher zu bücken (= klein zu machen) und das Ei aus der Gefahrenzone herauszunehmen. Symbolisch ist das ein barmherziges Handeln, wie es Jesus ein Leben lang vorgelebt hat.

Die in die Leiter hineingehängte Lampe bringt wie ein Rotlicht bei einer Ampel Jesu Wirken in all unsere nach Oben strebenden Tendenzen hinein. Sie gebietet Einhalt bei einem herz- und gnadenlosen Kampf um die oberste Position, ja verunmöglicht sie einzunehmen. Als ewiges Licht in der Form eines vom Schwert durchbohrten Herzens wird es allen „Emporkömmlingen“ unmissverständlich vor die Augen gehalten, dass der erste Platz Gott gehört und sie sich ihm unterordnen und verantworten müssen.

Das Herz Jesu mahnt alle Aufsteigenden, auf ihr Herz zu hören und gnädig mit Mitmensch und Umwelt umzugehen. Das durchbohrte Herz erinnert, dass nur jemand barmherzig handeln kann, dessen Herz schmerzhaft berührt worden ist, dessen Herz sich vor Mitleid krümmt und wie beim barmherzigen Samariter ein übergroßes Erbarmen bewirkt, das die betroffene Person rettet (vgl. Lk10,25-35).

So ist das Herz Jesu als Vorbild für ein barmherziges und damit gnadenvolles Handeln zu sehen. Jeder, der „nach oben“ will im Leben, soll Jesus vor Augen haben, wie er die Armen und Kleinen im Blick hatte und ihnen zu Ansehen und Leben verhalf. Jeder soll vor Augen haben, dass wahre Größe keine Überheblichkeit kennt, sondern grenzenlose Wertschätzung des Lebens bedeutet. Das gab Jesus auch dem Gesetzeslehrer zur Antwort: „Dann geh und handle du genauso!“

„Gnade walten lassen“ ist für das menschliche Herz nicht einfach, aber jeder kann es, wenn er will. Gertrud von le Fort schreibt: „Gnade ist nicht Gewalt, sondern Freiheit.“ Denn Gnade ist ein Akt der Freiheit und führt in die Freiheit. Sie ist eine wesentliche Zutat zur Erfahrung eines erfüllten Lebens.