Atem der Seele

Auf einem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch konzentrieren sich in der Mitte goldene Schmetterlinge. Sie bilden eine Art Nest, einen Schwarm, eine übervolle Schale, von der ausschwärmend sich die Schmetterlinge im ganzen Raum auf den Gegenständen und an den Wänden niedergelassen haben.

Der schlichte Tisch mit den goldenen Schmetterlingen erinnert an den mit Kelch und Patene bedeckten eucharistischen Tisch in den Kirchen. Der Tisch steht für jede gute menschliche Versammlung zum gemeinsamen Mahl. In den Kirchen erinnert der „Tisch des Herrn“ an das Letzte Abendmahl, in dem sich Jesus nach Lobpreis und Dank selbst seinen Jüngern schenkte mit den Worten: „Nehmt, das ist mein Leib“ – „Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.“ (Mk 14,22f) Etwas davon schwingt in den Schmetterlingen mit in den Raum und zu den Menschen.

Wunderbar werden hier Tod und Auferstehung symbolisch dargestellt. Denn das weiße Tischtuch erinnert auch an ein Leichentuch, mit dem man Verstorbene zudeckt. Doch dieses hier ist in der Mitte kaum sichtbar aufgerissen und durch seine Öffnung steigen unaufhaltsam Schmetterlinge. So steht dem einsamen Ableben die gemeinsame Auferstehung gegenüber, dem irdischen Tod das göttliche Leben, der Zeitlichkeit die Ewigkeit.

Der Schmetterling war durch das Verpuppen und Schlüpfen aus dem anscheinend leblosen Kokon nach monatelanger äußerer Ruhe in der Antike das Sinnbild der Wiedergeburt und Unsterblichkeit und ist in der christlichen Kunst noch heute ein Symbol für die Auferstehung. In der altgriechischen Sprache wurde der Schmetterling „Psyché“ genannt, weil die Hellenen diese Verwandlungskünstler als Verkörperung der menschlichen Seele sahen. Im Schmetterling fanden sie die Lebendigkeit und den Atem der Seele wieder, die nach der überraschenden Verwandlung die Erdgebundenheit hinter sich lässt und in ungeahnter Leichtigkeit im Sonnenlicht dem Himmel entgegentanzt.

Der goldene Schmetterlingsschwarm deutet funkelnd auf ein außerordentliches Ereignis, eine unerwartete Fülle an Leben und Bewegung, eine sich unaufhörlich ausbreitende Segensfülle, auf ein Sich-Verteilen und -Verschenken. Er erinnert an das staunend hervorgebrachte Wort aus dem Johannesevangelium 1,16 über Jesus: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.“ Dieser dichte Schmetterlingsschwarm vermag Wesentliches von Jesus zu versinnbildlichen: Die Offenbarung seiner göttlichen Herkunft, die Kraft und den Auftrag, die ihn beseelten Gutes zu tun und den Menschen alles an die Hand und ins Herz zu geben, damit aus der Verbundenheit mit Gott Verwandlung zu einem neuen Leben möglich wird. Ein Leben, das durch den Atem der Seele Freiheit und Leichtigkeit gewinnt. Ein Leben, das durch die Begeisterung der Seele alle Lebensdimensionen so verwandelt, mitgestaltet und prägt, dass sie teil hat an der Ewigkeit.

Video vom „Offenen Himmel“ im Klinikum Singen im Mai 2021:  mit Flügeln und mit einem langen Atem (43 Min)

Kosmologisch

Runde und rechteckige Formen gestalten dieses in blau-grün-weißen Farbtönen gemalte Bild. Dabei stehen freie Elemente geometrischen gegenüber. Eine Symmetrie wird angedeutet und doch überall aufgebrochen. Mehrschichtig führt das Bild in die Tiefe, die angeschnittenen Elemente jedoch über den Bildrand hinaus in die Weite.

Zwei Welten berühren sich in den verschiedenen Formen. Von unten her erhebt sich im Symbol des Rechtecks die Erde bzw. das Irdisch-Materielle. Von oben her senkt sich in den runden Formen sanft das Unendliche, Göttliche in das Bild hinein.

Die Basis bilden zwei leicht nach links geneigte Rechtecke mit bewegtem Rand. Weiche Formen, in denen sich spiralförmige Abdrücke und gepunktete Spuren befinden, die an Fingerabdrücke erinnern, aber auch an entstehendes Leben. Neblige Goldspuren deuten die Kostbarkeit dieses Bereichs genauso an wie der minimale rote Farbtupfer seine Verletzlichkeit. Im breiten Riss, der die beiden Elemente voneinander trennt, kommt ihre frühere Einheit zur Sprache, vielmehr aber ihre jetzige Zerrissenheit und Trennung.

Im oberen Teil werden sie durch einen halbkreisförmige, weiße konzentrische Linien überlagert und klammerartig zusammengehalten. Diese wiederum werden nach oben gespiegelt und von dort auch nach links und nach rechts, so dass sich eine T-Form ergibt, die auf den beiden aufrecht stehenden Rechtecken aufliegt. Diese weiße Manifestation im Zwischenbereich des Bildes vereint in sich rechteckige wie runde Formen, irdische wie göttliche Elemente. Sie überhöht die rechteckigen unteren Formen, bildet gleichsam einen Altar. Zudem stellt sie einen Übergangsbereich dar, hinter und über dem sich verschiedene Kreisformen erheben.

Der mit lebendiger Linie ganz dargestellte Kreis scheint über dem altarähnlichen Tisch zu schweben. Rund wie ein Himmelskörper ist er doch von der Farbe her anders. Erinnerungen an eine Sonnenfinsternis mögen aufsteigen, auch die seltsamen Gefühle, die einen beschleichen, wenn sich der Mond vor die Sonne schiebt und es immer dunkler wird. Doch im weiß gefaßten Kreis finden sich die gleichen Farben wie außen herum. Allerdings sind sie in ihm anders vermischt, hier kommen sie klarer zum Ausdruck – das helle Blau außen, übergreifend, innen das dunklere, intensivere, geheimnisvollere Blau, das die hellen Lichtpunkte besser zur Geltung bringt. Das Firmament ist das Kleid von diesem Himmelskörper, der von oben her wie von einem Kometen besucht oder befruchtet wird. Zu beiden Seiten wird er von runden Linien flankiert und ein erstes Mal gehalten. Wirklich eingebettet ist dieser schwebende kleine Kreis in dem großen, das Bild weit übersteigenden Kreis, der sich an seiner Außenseite mit einer intensiven grünen Bewachsung zeigt und sich fest in das altarähnliche Tischblatt einsenkt – bleibende Gegenwart, bleibende Ver-Bund-enheit.

Eine Schalenform zeichnet sich ab, ein darbietendes Gefäß, über dem sich der weiß umrandete Kreis erhebt. Gedanken an die Eucharistie mögen aufsteigen, Erinnerungen an das eucharistische Hochgebet, das der Priester – während er Kelch und Hostienschale erhebt – mit den preisenden Worte abschließt: „Durch ihn und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit. Amen.“ Danksagung in ihrer reinsten Form für die Größe und die Schönheit der Schöpfung, für ihre Rettung, für ihre Vollendung durch Gott.

Unfassbar

In diesem non-figurativen Glasfenster scheint alles in Bewegung zu sein, sich alles um das dunkelrote Zentrum in zweidrittel Höhe zu drehen. Während sich die eine Kreisbewegung von unten rechts her zum Kreis hin fokussiert, geht die Bewegung im obersten Drittel eher von diesem dunkelroten Blickfang aus nach links oben. Spiralförmig verschleudert dieses rote Kraftzentrum seine Energie, scheint sie in den unzähligen goldgelben Teilen in die unendliche Weite des Universums hinauszuschleudern. Verschwenderische Fülle wird spürbar.

Neben der eindrücklichen Drehbewegung prägen ein helles Rot und goldenes Gelb dieses Glasfenster. Das helle Rot mag an helles Blut erinnern, das vom Herzen aus durch die Arterien sauerstoffreich den menschlichen Körper mit Lebenskraft versorgt. Christologisch gesehen kann es auch als das Blut Christi gesehen werden. Weil er uns Menschen unendlich liebte, konnte er sein Leben für unseres hingeben, konnte er uns mit dem Preis seines göttlichen Lebens von freiheitsberaubenden Gebundenheiten freikaufen. In jeder Eucharistiefeier wird dieses Ereignis neu Gegenwart, soll die Liebe Gottes spürbar und wirksam wie aufstrahlendes Licht in der Dunkelheit unser Leben existentiell verändern. Dies kommt auch in der das helle Rot begleitenden goldgelben Farbe zum Ausdruck, die mit ihrer Symbolik „für das allumfassende Göttliche, für Geborgenheit und Wärme“ (Nestler) steht. Wie ein segensreicher Blätterregen schweben die goldfarbenen Elemente in das Kirchenschiff hinein und über die Gläubigen. Sie mit göttlichem Licht segnend, von innen her stärkend, erfüllend und miteinander durch seine Präsenz verbindend (Ansicht von unten mit gleichen Farben).

Dieses Licht- und Farbenspiel wird von weißen Lichtfeldern durchsetzt, die im untersten Bereich auch strahlenförmig wahrnehmbar sind. Wie Wolkenfetzen überlagern sie die göttliche Schau und verdecken sie teilweise. So wird wohl viel vom ewigen Licht und dem, was es beinhaltet, sichtbar, aber die ganze Fülle kann noch nicht gesehen oder sinnlich erfahren werden. Ein Wehmutstropfen bleibt. Noch leben wir hier auf Erden in materieller Umgebung und vergänglichem Körper. Was bleibt, ist die Sehnsucht und Hoffnung nach der immateriellen, seelischen Heimat bei dem Dem, der das Leben selbst ist.

Dieser mehrschichtigen Botschaft wird auch durch den außerordentlichen Aufbau des Glasfensters Gestalt verliehen. In vier Schichten und unterschiedlichen Techniken sind die Farben und Formen kunstreich auf das Glas gebracht worden. Um ihre Schönheit und Farben in ihrer Fülle zu erfassen, muss sich der Betrachter selbst in Bewegung setzen. Erst durch die verschiedenen Blickwinkel werden sich die gesehenen Fragmente vor dem geistigen Auge zu einem immer wirklichkeitsnäheren Bild zusammenfügen. Auch ist das Glas nicht in das bestehende Maßwerk eingesetzt (Außenansicht), sondern als eigenständige Fläche etwa 30 cm vor das Fenster in den Kirchenraum gehängt. Dadurch verliert das in der Fachsprache sogenannte „Lichtmaß“ als Ausschnitt der Architektur an Bedeutung. Während oben das auf dem Glas wiederholte Maßwerk noch dominierend ist, löst sich im und durch das Fenster die filigrane gotische Architektur nach unten immer mehr auf und ist letztlich nur noch als Schatten wahrnehmbar. So „weitet sich das durch die Architektur begrenzte Licht zu einem neuen grenzenlosen Raum“ (Nestler), setzt sich das sinnlich wahrnehmbare Licht als unfassbares göttliches Licht in den Gläubigen fort.

 

Bernd Nestler hat mit diesem Fenster Anfang 2011 unter 285 Mitbewerbern einen international ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen, bei dem es darum ging, zum 450-jährigen Bistumsjubiläum ein Fenster zu schaffen, das die Möglichkeiten der heutigen Glasmalerei nutzt, um der Glaskunst im 21. Jahrhundert neue Impulse zu geben. Herzliche Gratulation!