Durchgefallen

Fallende Marienfiguren: Von irgendwoher nach irgendwohin. Vor oder unter einem cyanblauen Himmel. Mutter mit Kind im Taumel. Weder Jesus noch zum Gebet gefaltete oder andere segnende Hände vermögen einen Halt zu geben. Eine Statue nach der anderen fällt im luftleeren Raum des Dazwischens. Noch sind die Figuren ganz, doch irgendwann werden sie aufschlagen und in viele Stücke zerspringen.

Verlangende, haltsuchende Arme und Hände kreuzen die vertikale Fallbewegung. Es sind anonyme Greifarme, welche versuchen einer der Marienfiguren in der Bildmitte habhaft zu werden. Sie zu halten, festzuhalten, behalten zu können. Doch die Figuren scheinen den kraftlosen Händen schon nach kurzer Zeit zu entgleiten und ihren Fall fortzusetzen.

Ein Bild des Elends!

Auf der horizontalen, irdischen Ebene die vom Leben gebeutelten Arme, die nach Zuwendung, Leben, Liebe und Nahrung hungern, die Nackten, die keine Kleider und kein Hab und Gut haben, die Heimatlosen, Vertriebenen, die nach Halt und Geborgenheit, einem Ort zum Leben suchen.

Auf der vertikalen Achse die Himmel und Erde verbindende Vertreterin der Katholischen Kirche in vielen Ausführungen: Maria. Sie steht für Religion und Spiritualität. Sie ist durch ihren Glauben und ihr Da-Sein für Jesus und die Gläubigen ein hervorragendes Vorbild für die Christen.

Aber weder ihr Angebot noch das der Kirche(n) scheint zu greifen. Kein Handschlag kommt zustande, kein Begreifen, Zugreifen, Festhalten. Die Kirchenvertreterin und mit ihr symbolisch alle Kirchenvertreter fallen durch. Noch sind die Figuren makellos. Doch was passiert, wenn sie aufschlagen?

Ein Kreuz!

Auf der einen Seite das ungesättigte Verlangen der unzähligen, namenlosen Arme. Auf der anderen Seite das über Jahrhunderte tradierte Angebot der Kirchen, das bei vielen Menschen immer weniger ankommt, weil es nicht mehr den Bedürfnissen unserer Zeit entspricht.

Die Kirche wird im Bild durch die vom Sockel gestoßenen Marienstatuen als kalt, versteinert, bewegungslos und handlungsunfähig dargestellt. Ein kritisches Bild, das anfragt, wie die Kirche mit ihrer Haltung und ihrer Theologie Antworten auf die heutigen Fragen und Bedürfnisse geben kann, damit ihre Worte und Handlungen bei den Heilsuchenden und allen sich nach Lebensfülle Sehnenden wieder ankommen, greifen und eine feste Verbindung mit Gott schaffen.

Ecce homo

 

Gastbeitrag von Marleen Hengelaar-Rookmaaker

Die zeitgenössische Kunst besteht nicht nur aus Installationen, sondern auch die figurative Kunst ist reichlich vorhanden. Paul van Dongens Werk – mit seiner handwerklichen Verarbeitung und den klassischen Neigungen mit einem Hauch von Barockdrama – fällt in eine seltene Untergruppe der figurativen Darstellung. Zwei seiner Zeichnungen sind nun in Amsterdam Teil eines künstlerischen Kreuzwegs (6. März – 22. April 2019). Nach den sechs vorangehenden Stationen verlagern sie die Aufmerksamkeit vom Leid der Welt auf unser eigenes Leid und unseren eigenen Anteil an den Problemen der Welt. Sie bilden eine Station oder einen Stopp, um buchstäblich für einen Moment stillzustehen und über unser eigenes Leben nachzudenken.

Nach langer Suche fanden die beiden Federzeichnungen auf der Fassade des Paradiso ein vorübergehendes Zuhause. Das Paradiso ist allen Niederländern bestens als die Kirche bekannt, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Rockkonzertsaal von Amsterdam umgewandelt wurde. Eine der Zeichnungen hängt im Kleinen Museum, das sich im ehemaligen Kabinett der Freien Kongregation befindet. Die zweite Zeichnung hängt in einem ähnlichen Schrank, der für die Poster und Anzeigen von Paradiso verwendet wird. Man könnte diesen Pop-Tempel als einen waghalsigen Ort für diese besonderen Werke bezeichnen, während unter der linken Arbeit der Titel Judgement (Urteil), und unter dem anderen Rising (Aufgang/Auferstehung) steht. Kein Wunder, dass diese Arbeiten bei Mitarbeitern und „Pilgern“ gleichermaßen zu vielen Diskussionen führen.

Zusammen bilden diese beiden Werke die siebte Station, an der Jesus nach der Tradition zum zweiten Mal fällt. “Fallen” ist denn auch das Thema der linken Zeichnung. Wir sehen ein Gewirr von fallenden nackten Männern, aber keine fallenden Frauen. Eigentlich spielt das Geschlecht hier keine Rolle. Die Arbeit betrifft das menschliche Wesen an sich. Jesus fiel unter der Last seines Kreuzes, diese Männer fallen unter der konfliktreichen Last ihres eigenen Egos. Wir sehen Männer, die stoßen, greifen und zur Seite schieben. Wir sehen eine Hand, die in ein Vakuum greift. Rechts sehen wir Figuren, die versuchen, sich nach oben zu kämpfen, aber von dem Mann an der Spitze nach unten gedrückt werden. Es ist die einsame Hölle jedes Mannes für sich und keiner für den anderen. Paul van Dongen bemerkt: „Diese Zeichnung ist Teil einer Serie, deren Hauptthema der Fall des Menschen ist. Ich wollte den Fall nicht buchstäblich wie in Genesis darstellen, sondern als Choreograf eine Komposition mit nackten männlichen Figuren erstellen, die zusammen den Fall ausdrücken, eine Existenz ohne festen Grund, verloren, ohne Erlösung. In einem verschnörkelten Wirbeln drehen sich die Männer, fallen und stürzen aufeinander.“

Wir sehen Männer in ihrer ganzen Nacktheit, ohne eine verdeckende Bekleidung. Nackt ist hier nicht nackt. Es geht nicht um beleidigende oder erotische Nacktheit. Nackt wird symbolisch für die nicht zu verbergende Wahrheit über die menschliche Natur verwendet. Das richtende Element ist weniger in einem anmaßenden Richter vertreten, der die Gefallenen in die Hölle lenkt, sondern vielmehr in Menschen, die sich ihre eigene Hölle schaffen durch das, was sie tun und unterlassen. Daher geht es bei der Zeichnung zunächst nicht um die böse Welt der Gottlosen, sondern um Sie und mich.

Aber, dank sei Gott, gibt es auch einen Weg nach oben, so wie Jesus nach seinem zweiten Fall aufgestanden ist. Das erkennen wir in der rechten Zeichnung. Links unten sehen wir einen Mann auf den Knien, einen bedrückenden Haufen von Dunkelheit. Mit den Figuren über und rechts von ihm setzt eine Aufwärtsbewegung ein, in der Mitte der Zeichnung ein Mann, der seine Arme hilfesuchend nach oben hält (oder ist es eine Geste der Anbetung?). An der Spitze schwebt ein Mann in der Haltung eines Gekreuzigten. Er erinnert in der völligen Hingabe und totalen Verwundbarkeit an Jesus selbst. Der Künstler: „Diese Zeichnung handelt von menschlichen Figuren, die, nachdem sie in die Tiefe gefallen sind, von einer einzelnen Person hochgezogen werden, die die Aufwärtsbewegung initiiert. Es geht darum, wieder aufzustehen und hochgezogen zu werden.“ In dieser Zeichnung greifen auch die Männer nacheinander, sie suchen jenseits der Einsamkeit nach Verbindung. Hier geht es nicht mehr um unseren eigenen Gewinn, sondern – wie die Figur ganz oben – um unsere Bereitschaft, unser Kreuz zum Wohle anderer auf uns zu nehmen.

Unser Kreuz auf uns zu nehmen klingt nicht sehr zeitgemäß. Für einige klingt das wie etwas aus vergangenen Zeiten. Jedoch ist es der Ausweg aus dem menschlichen Elend. Es bedeutet, dass wir veranlagt sind, andere zu lieben. Genau wie Jesus. Dank seiner Bereitschaft, sein Kreuz zu tragen, vergibt Gott all unsere Verfehlungen und eröffnet neue Perspektiven. Damit ist die Fastenzeit neben einer Zeit der Reue und Buße auch eine Zeit, in der mit Freude Gottes Gnade gefeiert wird.

Dieser Beitrag wurde auf der Website von artway.eu erstveröffentlicht und wird hier mit dem Einverständnis des Künstlers und der Autorin wiedergegeben.